Das abgelaufene Bach-Jahr 2000 hat zwar den Plattenmarkt wie selten ein Jubiläumsjahr zuvor überschwemmt. Aber was da vollmundig in vollständige und nicht so vollständige Editionen abgefüllt wurde, waren meist Wiederveröffentlichungen. Spektakuläre Neuaufnahmen hat es kaum gegeben. Gardiners Kantaten-Tour verlief diskografisch enttäuschend. Ton Koopman und Masaako Suziki ziehen mit der Zähigkeit von Langstreckenläufern ihre Runden der Kantatengesamtaufnahme, mal hat der eine, mal der andere interpretationsmäßig die Nase vorn. Am überraschendsten und spektaku-lärsten war für mich die Wiederkehr des Steinway: Murray Perahias „Goldberg-Variationen“ und Angela Hewitts Gesamteinspielung des „Wohltemperierten Klaviers“ lassen die Vorurteile selbst des hartnäckigsten Cembalo-Fundamentalisten dahinschwinden.
Das abgelaufene Bach-Jahr 2000 hat zwar den Plattenmarkt wie selten ein Jubiläumsjahr zuvor überschwemmt. Aber was da vollmundig in vollständige und nicht so vollständige Editionen abgefüllt wurde, waren meist Wiederveröffentlichungen. Spektakuläre Neuaufnahmen hat es kaum gegeben. Gardiners Kantaten-Tour verlief diskografisch enttäuschend. Ton Koopman und Masaako Suziki ziehen mit der Zähigkeit von Langstreckenläufern ihre Runden der Kantatengesamtaufnahme, mal hat der eine, mal der andere interpretationsmäßig die Nase vorn. Am überraschendsten und spektaku-lärsten war für mich die Wiederkehr des Steinway: Murray Perahias „Goldberg-Variationen“ und Angela Hewitts Gesamteinspielung des „Wohltemperierten Klaviers“ lassen die Vorurteile selbst des hartnäckigsten Cembalo-Fundamentalisten dahinschwinden.Die eigentlichen diskografischen Entdeckungen im Bereich der alten Musik fanden im Jahr 2000 auf einem anderen Terrain statt. Es scheint, als hätten sich die Interpreten verschworen, den dunklen Kontinent des 17. Jahrhunderts aufzuhellen, der selbst von den Größen Monteverdi und Schütz kaum erleuchtet wird.Während sich die Musik des Hochbarock längst die Konzertsäle und Kirchen erobert hat, begegnet man der Musik des Frühbarock außerhalb von Spezialistenzirkeln kaum. Dies ist die Chance der Tonkonserve CD und sie hat sie weidlich genutzt. Plötzlich hört man mit eigenen Ohren, dass Bachs Vorgänger nicht die trüben Funzeln waren, als die sie uns in der älteren Bach-Literatur oft entgegentreten. Allzu leicht sind wir ja geneigt, auch die Musik einem geradlinigen Fortschrittsdenken zu unterwerfen, mit dem sie nichts zu tun hat.
Fünf CDs – gewiß willkürlich, aber nicht untypisch ausgewählt – stellen unter Beweis, dass auch abseits der musikalischen Zentren und von Namen, denen man bisher höchstens in Lexika begegnete, hörenswerte, ja oft großartige Musik geschrieben wurde. Christoph Demantius (1567–1643) hat fast sein gesamtes Leben als Kantor im sächsischen Freiberg verbracht. Der neue Stil scheint an dem mit Monteverdi Gleichaltrigen vorübergegangen zu sein. Er hielt am alten A-cappella-Stil fest, verknüpfte ihn aber mit einer selbsterfundenen Generalbasstechnik. Erik van Nevel und sein Huelgas-Ensemble haben Beispiele dieser hybriden Musik aufgenommen (harmonia mundi france 901705), deren verquere Archaik von großem Reiz ist.
Eine Generation jünger als Demantius war der früh verstorbene, in Dresden wirkende Schütz-Schüler Caspar Kittel (1603–1639). Seine 1638 erschienene Sammlung „Arien und Kantaten“ ist das erste Beispiel der neuen italienischen weltlichen Kantate nördlich der Alpen. René Jacobs hat diese süffige, teils virtuos unterhaltsame, teils melancholisch tief schürfende Musik wiederentdeckt und eine Auswahl daraus eingespielt, die kaum Wünsche offen lässt (harmonia mundi france 005247).
Dem konzertierenden italienischen Vokalstil verpflichtet sind auch die geistlichen Kantaten Philipp Friedrich Boeddeckers (1607–1683), der seit 1652 als Stiftorganist in Stuttgart wirkte. Der Druck seiner „Sacra Partitura“ (1651) enthält neben eigenen Kompositionen Werke Gasparo Casatis und Monteverdis sowie zwei hoch virtuose Sonaten für Violine beziehungsweise Fagott. Wenn die Musik gegenüber Kittel abzufallen scheint, so liegt der Grund weniger im bescheideneren Zuschnitt der Werke als in der hausbackenen Wiedergabe durch das Stuttgarter Lukas-Barockensemble, deren Sopransolistinnen den virtuosen Ansprüchen nicht ganz gewachsen sind (Cornetto COR 10005 – Vertrieb: Musikwelt).
Von anderem Kaliber sind die inspirierten, ausdrucksvollen Kantaten von Sebastian Knüpfer (1633–1676), einem der Amtsvorgänger Bachs als Leipziger Thomaskantor. Hier lernen wir Kompositionen von strenger Monumentalität und verbaler Feinzeichnung kennen, die zeigen welche vielfältigen Facetten das Vokalkonzert unter den Händen eines erfinderischen, fantasievollen Komponisten annehmen konnte.
Die Aufnahme mit dem englischen King’s Consort (Hyperion CDA 67160) ist die zweite Folge einer Bachs Vorgängern und Zeitgenossen gewidmeten Reihe und in vokaler wie deklamatorischer Hinsicht mustergültig. Das kann man leider nicht sagen von der neuen CD des Collegium Vocale Gent unter Philippe Herreweghe (harmonia mundi france 901703). Mit Kantaten von Franz Tunder, Johann Kuhnau, Nicolaus Bruhns und Christoph Graupner spannt sie den Bogen von der Mitte des 17. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts und macht auf kleinem Raum die Vielfalt wie die Entwicklung der deutschen Kirchenkantate deutlich. Leider sind die Einspielungen – mit Ausnahme der meditativen Choralkantate „Wend’ ab deinen Zorn“ von Tunder – interpretatorisch nicht sehr überzeugend, ja eher lustlos ausgefallen. Dennoch möchte man Musiker, Plattenfirmen und Hörer ermuntern, weitere Entdeckungsreisen im schier unübersehbaren Repertoire des deutschen Frühbarock zu unternehmen.