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Jochen Reutter. Foto: Universal Edition
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Schöne Ausgaben erzeugen Identifikation

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Jochen Reutter im Gespräch über 40 Jahre Wiener Urtext Edition
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Vor 40 Jahren wurde die Wiener Urtext Edition als Kooperation von Universal Edition und Schott Music ins Leben gerufen. Seither haben die Ausgaben mit dem charakteristischen roten Einband ihren festen Platz in privaten und öffentlichen Notensammlungen. Jochen Reutter, der nach einem Schulmusikstudium unter anderem Musikwissenschaft studierte und in diesem Fach auch promoviert wurde, ist seit 1996 als verantwortlich leitender Redakteur für das Lektorat und die Betreuung der Ausgaben „von der zündenden Idee bis zur druckreifen Realisierung“ zuständig. Mit ihm sprach Juan Martin Koch über die Anfänge der Edition, den Begriff „Urtext“ und künftige Projekte.

neue musikzeitung: Wie kam es 1972 zur Gründung der Wiener Urtext Edition?

Jochen Reutter: Die Pläne waren zunächst unabhängig in beiden Verlagen erwachsen. Die längere Urtext-Tradition lag bei der Universal Edition, wenn man etwa an die legendären Beethoven-Ausgaben Heinrich Schenkers zu Beginn des 20. Jahrhunderts denkt. Diese Tradition ist nie ganz abgerissen, auch wenn der Schwerpunkt der UE natürlich bei der zeitgenössischen Musik liegt. Auch Schott erkannte das Potenzial in diesem Bereich, und so kam es 1972 zu dem „Joint Venture“ beider Verlage in Form der Wiener Urtext Edition.

nmz: Der Name der Edition suggeriert ja die Nähe zur Wiener Klassik. War das anfangs auch der Ausgangspunkt für das Repertoire?

Reutter: Schon die ersten Bände waren relativ breit gefächert und umfassten ein Repertoire von Bach bis Brahms. Dabei lag der Fokus auf der Klaviermusik, ganz einfach weil das der größte infrage kommende Musikerkreis für solche Ausgaben war. Relativ früh kam dann klaviernahe Kammermusik dazu und mittlerweile ist natürlich auch der Streicherbereich, vor allem was Violine und Violoncello betrifft, ausgebaut worden. Die Wiener Klassik ist uns als Wiener Verlag ein ganz besonderes Anliegen, was unter anderem unsere Neuausgaben von Werken Haydn und Mozarts zeigen.

nmz: Der Begriff „Urtext“ war Anfang der 1970er-Jahre nicht mehr neu und ist ja seit jeher umstritten …

Reutter: Eigentlich ist „Urtext“ ein schlechter und sehr verfänglicher Begriff. Er existiert seit 1895, als die Berliner Akademie der Wissenschaften als Reaktion auf die vielen Interpretationsausgaben klassische Werke im „Urtext“ herausgab, wie es damals hieß. Nach den Quellenverlusten des Zweiten Weltkriegs kam dann ein „ad fontes“-Bedürfnis hinzu, die Gesamtausgaben wurden angestoßen und das Bedürfnis nach bereinigten Editionen ohne interpretatorische Eingriffe in den Notentext wuchs. „Urtext“ heißt auf keinen Fall, dass es um die Urfassung einer Komposition geht, vielmehr signalisiert der Begriff den Anspruch, die definitive Textfassung zu publizieren. Diese setzt sich zusammen aus den Kenntnissen über die verschiedenen Textstadien, die eine Komposition durchläuft, von ersten Entwürfen bis zum letzten Schliff, der ab dem 19. Jahrhunderts häufig in Form korrigierter Erstausgaben vorliegt. Der Begriff „Textkritische Ausgabe“ wäre eigentlich der angemessenere.

nmz: Wobei Sie aber gleichzeitig mit Fingersätzen und Hinweisen zur Aufführung auf die Interpreten zugehen. 

Reutter: Die Wiener-Urtext-Ausgaben sind keine Leseausgaben im Sinne wissenschaftlicher Gesamtausgaben. Sie werden wissenschaftlich erstellt, haben im Anhang einen textkritischen Apparat, in dem in knapper Form der Quellenbefund nachgewiesen wird und die wichtigsten Herausgeberentscheidungen nachvollzogen werden können, weitere Informationen geben die Vorworte. Aber ein reiner Notentext ist oft nicht genug, gerade bei älterer Musik, die kaum bezeichnet ist, weil die Zeitgenossen wussten, wie damit umzugehen ist. Dieses Wissen ist nicht ungebrochen, wenn überhaupt, auf uns tradiert. Da sehen wir den ausübenden Musikern gegenüber eine Pflicht, entsprechende, über die Noten hinausgehende Informationen zu geben. 

nmz: Für diese aufführungspraktischen Hinweise können Sie immer wieder namhafte Interpreten gewinnen, im Fall der Haydn-Klaviersonaten zum Beispiel Robert D. Levin. Wie kommt das zustande?

Reutter: Manchmal sind das Zufälle, man trifft jemanden, kommt ins Gespräch … – manchmal suchen wir ganz gezielt. Andererseits haben unsere Herausgeber viele Kontakte und sprechen gezielt Musiker für bestimmte Ausgaben an. Zu Robert Levin bin ich zum Beispiel über Ulrich Leisinger gekommen, als dieser begann, unsere Mozart-Ausgaben zu revidieren.

nmz: Die Ergänzung des Programms in Bereichen jenseits der Klaviermusik haben Sie schon angesprochen. Wo liegen da Ihre Schwerpunkte?

Reutter: Die Erweiterung des Repertoires setzte verstärkt zu Beginn der 1990er-Jahre ein. Es kam die Orgel hinzu, wobei wir uns hier auf bisher weniger beachtete Werke konzentrieren, dann die Violine und das Violoncello. Im Bläserbereich setzen wir vor allem auf die Querflöte, zur Musikmesse haben wir zum Beispiel die Duette op. 2 von Telemann herausgebracht, im Frühjahr werden die Partita von Johann Sebastian sowie die Solosonate von Carl Philipp Emanuel Bach hinzukommen. Das Klavier bleibt natürlich immer präsent, aber die anderen Säulen wachsen stetig. 

nmz: Wie sieht es mit pädagogischen Ausgaben aus?

Reutter: Im Entstehen (ein Pilotband ist eben in Druck gegangen) ist eine neue Serie mit dem Titel „Urtext Primo“. Sie fasst die Klavierschüler ins Auge – durchaus auch Erwachsene und Wiedereinsteiger –, die gerade eine Klavierschule durchlaufen haben und beginnen, in das Spiel leichterer Literatur einzusteigen. Das Konzept besteht darin, Stücke zusammenzufassen, die von der Schwierigkeit her progressiv angelegt ist, dies aber in einem eng begrenzten Rahmen, damit die Bände in einem überschaubaren Zeitraum kontinuierlich verwendet werden können. Es ist ja die Crux vieler Sammelalben, dass man drei oder vier Stücke spielen kann, das Heft dann aber erstmal für eine längere Zeit weglegen muss, weil sich die Schwierigkeit zu schnell steigert. Die „Urtext Primo“-Bände werden immer drei Komponisten enthalten, die in einem – zumeist zeitlichen – Zusammenhang stehen, beim ersten Band sind das Bach, Händel und Scarlatti. Da sind natürlich „unvermeidliche“ Stücke dabei, aber eben auch leichte Sonaten aus dem riesigen Scarlatti-Fundus, die wenig bekannt, aber pädagogisch sehr gut geeignet sind.

nmz: Über Schott Music stünde Ihnen ja mit notafina eine Online-Plattform für den digitalen Vertrieb zur Verfügung. Werden Sie diesen Weg einschlagen?

Reutter: Wir haben geplant, hier demnächst einen Versuch zu starten. Man wird dann sehen, ob das ein Absatzweg ist, der Kunde wird das entscheiden. Ein unterschätzter Aspekt dabei ist ja der folgende: Wenn ich einem Schüler immer nur ausgedruckte „Zettel“ unterjuble, dann entsteht kaum eine Bindung zum Objekt. Schöne Ausgaben, aus denen mit der Zeit eine Notenbibliothek entsteht, sind da schon etwas anderes, sie erzeugen Identifikation, und diese wiederum kann motivieren … 

  • Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788): Orgelwerke Band 2, Kleinere Werke für Orgel (Reutter/ Weinberger); UT 50149, ISMN 979-0-50057-184-1, ISBN 978-3-85055-713-9, 24,95 Euro
  • Georg Philipp Telemann (1681–1767): Sonaten für 2 Flöten (Violinen), Duette für 2 Flöten (Violinen) (Reutter/Schrage); UT 50281, ISMN 979-0-50057-331-9, ISBN 978-3-85055-705-4, 19,95 Euro
  • Antonio Vivaldi (1678–1741): Sonaten für Violine und Basso continuo op. 2 (Moosbauer/Reutter); UT 50176, ISMN 979-0-50057-339-5, ISBN 978-3-85055-781-4, 29,95 Euro
  • Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847): Rondo capriccioso op. 14 (Leisinger/Roggenkamp); UT 50215, ISMN 979-0-50057-219-0, ISBN 978-3-85055-717-7, 7,95 Euro
  • Joseph Haydn (1732–1809): Sämtliche Klaviersonaten, Bände 1–4 im Set zum Sonderpreis; UT 50315, ISMN 979-0-500057-337-1, ISBN 978-3-85055-714-6, 77,95 Euro
  • Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791): Ouvertüre zu „Die Entführung aus dem Serail“. Originale Klavierfassung KV 384/1 (Leisinger/Kraus; Levin/ Leisinger); UT 50293, ISMN 979-0-50057-355-5, ISBN 978-3-85055-734-4, 6,50 Euro
  • Claude Debussy (1862–1918): Clair de lune (Stegemann/Beroff); UT 50291, ISMN 979-0-50057-353-1, ISBN 978-3-85055-732-0, 4,95 Euro

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