Der Spanier Conrado del Campo (1878–1953) ist bislang selbst in seiner Heimat ein fast komplett unbekannter Name. Dass sich dies nun ändert, verdanken wir nicht nur einer herrlichen CD seiner Streichquartette Nr. 3 und 5 durch das Quatuor Diotima, sondern insbesondere dem ungewöhnlichen Einsatz der Fundación Juan March in Madrid.
Diese Kulturstiftung richtet jährlich Hunderte von Konzerten, Vorträgen und Ausstellungen aus, doch nun hat man sich im Rahmen des „Proyecto Conrado“ entschlossen, allein seiner Musik wegen auch als Musikverleger kritischen Urtexts in Erscheinung zu treten und ein eigenes CD-Label zu etablieren. Tatsächlich entpuppt sich del Campo schnell als Spaniens bedeutendster Meister auf dem Gebiet des Streichquartetts mit 14 Beiträgen, die alle bis 2028 aufgeführt und veröffentlicht werden sollen. Del Campo schreibt große lyrische, weitausschwingende, improvisatorisch anmutende Architekturen, von kunstvollem Kontrapunkt ebenso geprägt wie von nobler Transformation des Volksmusikalischen. Als Bratschist verstand er es glänzend, alle vier Stimmen mit dankbaren Parts zu versorgen, und seine Musik ist eine ganz eigene, meditativ verwobene, aus der Intimität ein Drama aufbauende, zutiefst poetische Welt. Erschienen sind nunmehr das 1. und das 4. Quartett (1903 bzw. 1906), ersteres mit einem reich ornamentierten Satz im orientalischen Stil, letzteres mit Gedichten von José Zorrilla, die dazu vorgetragen werden können (die Quartette Nr. 3 und 5 erscheinen im Februar 2023 im Druck). Einziger Nachteil ist, dass die informative Einführung bislang nur auf Spanisch ist, doch mit den nächs-ten Ausgaben soll auch eine englische Übersetzung dabei sein. Der sensationelle Preis von nur 18 Euro pro Set inklusive Partitur (gut geschützt im Schuber) trägt nur die Unkosten und wurde um maximaler Verbreitung willen festgelegt. Erhältlich sind die Noten direkt bei www.sedem.es.
Viele weitere Neueditionen erweitern das Streichquartett-Repertoire um Wesentliches. So hat Doblinger mit der Veröffentlichung der Werke von Walter Kaufmann (1907–1984) begonnen. Der gebürtige Wiener Jude ging in den 1930er Jahren nach Indien, wo er John Foulds kennenlernte und neben ihm als Pionier der Fusion indischer und westlicher Musik gelten darf. Wie Foulds (einige von dessen Quartette gibt es im Erstdruck bei Repertoire Explorer) schrieb auch Kaufmann viele Quartette, von welchen zwei durch das kanadische ARC Ensemble für Chandos aufgenommen wurden. Von Indien, wo er noch Zeuge des tragischen Todes von Foulds wurde, ging Kaufmann nach Kanada und wirkte viele Jahre als Chefdirigent in Winnipeg, bevor er ab 1956 als Professor in Bloomington zur weltweit geachteten Autorität auf dem Gebiet der nord- und südindischen Ragamusik wurde (seine Lehrbücher dazu sind bis heute Standardwerke). Kaufmanns Streichquartette entstanden in Indien und bringen eine unverblümte ‚Aneignung‘ indischer Musik im schönsten Sinne, mit großer Raffinesse und Spielfreude. Bei Doblinger ist nun zuerst das 11. Quartett erschienen.
Eine sehr interessante Erscheinung ist der ‚schottische Bartók‘ Ronald Center (1913–1973). Das erste seiner 3 Quartette (sämtlich unlängst ersteingespielt bei Toccata Classics) war bei Novello erschienen, und nun hat Barry Ould bei Bardic Edition das 1964 vollendete 2. Quartett herausgegeben (das 3. wird bald folgen). Ein gewisser Bartók-Bezug ist insofern gegeben, als Center sich in seiner herrlich aufgerauten Tonsprache eher auf die archaischere Musik etwa der Violinduos oder des Mikrokosmos bezieht (in größeren Formen!), und seine sehr vitalen Quartette eignen sich auch für anspruchsvolle Amateure mit sicherer Intonation.
Ein ganz besonderer Fall ist der in Grosseto geborene Wahlschweizer Otmar Nussio (1902–1990). Zunächst ein hervorragender Flötenvirtuose, war er jahrzehntelang Chefdirigent des Orches-
tra della Svizzeria Italiana in Lugano. Zugleich hat er sein Leben lang komponiert. Seine Musik ist zum größten Teil ‚leichten‘ Charakters, und in einer Zeit, als die Grenzen zum Fortschritt besonders aggressiv gezogen wurden, verwies man sein ganzes Schaffen in den Unterhaltungssektor. Dort war er sehr erfolgreich und litt zugleich unter der Ächtung durch die mächtigen Redakteure ‚ernster Musik‘. Stokowski und Mitropoulos begeisterten sich für ihn, aber auf Europa schlug die Welle nicht über. Heute kennt man ihn so gut wie gar nicht mehr. Nachdem Schott Music den Johannes Oertel Verlag übernommen hat, ist nun Nussios einziges Streichquartett neu aufgelegt worden. Es darf gerne auffallen, dass er so einiges mit dem neoklassizistischen Strawinsky gemeinsam hat, und doch ist Nussio stets ganz eigenwillig. Seine „Joie de vivre“, die rhythmische Eleganz und Virtuosität, das enthemmt kultivierte musikantische Element, die Freude an harmonischen Überraschungen, und das Fehlen jeglicher Angst vor vermeintlicher Trivialität, das Nussio mit feinem Geschmack balanciert, machen diese Musik zu einer elektrisierenden Herausforderung für alle, die keine Angst vor raffiniert zubereiteter Einfachheit haben.
Noch einige weitere substanzielle Funde seien erwähnt: Der in München lebende Rumäne Dan Turcanu (geb. 1985) hat Mozarts Zauberflöte in reizvollster Weise, für die Musiker sehr dankbar, fürs Quartett transkribiert (Repertoire Explorer); beim Kammermusikverlag in Wegscheid sind sowohl das wunderschön pastorale Klarinettenquintett von Robert Fuchs (erstmals mit Partitur) als auch im Erstdruck die frühe „Sonata drammatica“ von 1912 von Heinrich Kaminski (1886–1946) erschienen. Dieses Quartett weist bereits (in bescheideneren Dimensionen und weniger ausgereift) in vielen Charakteristika und Abschnitten eindeutig auf das gigantische Streichquintett voraus, welches Kaminski wenige Jahre später schuf und belohnt die Mühe der Einstudierung reichlich. Bei Bardic Edition ist nun endlich eine Ausgabe des 4. Quartetts des pittoresken Busonianers holländischer Herkunft Bernard van Dieren (1887–1936) erschienen. Nicht nur ist diese Musik erratisch, komplex in der freitonalen Harmonik und strukturell wie spieltechnisch sehr anspruchsvoll, auch ist die Besetzung so einzigartig wie sie häufige Aufführung eher verhindern wird: Statt des Cellos wird die 4. Stimme von einem Kontrabass gespielt. Bei Fennica Gehrman schließlich ist, 55 Jahre nach der Entstehung, das jugendliche 1. Streichquartett in g-Moll von Kalevi Aho (geb. 1949) erschienen, in welchem der heute angesehenste Symphoniker Finnlands bereits, hier noch ganz traditionsbezogen tonal und autodidaktisch, seine frappierende Frühreife unter Beweis stellte.