Noten des Bärenreiter-Verlags stechen wegen der farbigen Cover ins Auge. Der Mut zur Farbe ist allerdings keine Laune. Er steht in Kohärenz zum programmatischen Anspruch, sich in Grenzbereiche vorzutasten und Neuausgaben auch Komponisten zu widmen, deren Klaviermusik die Aufmerksamkeit der Interpreten erst noch erlangen soll. Eine personenbezogene Farbgestaltung erweist sich da als durchaus sinnvoll in mehrfacher Hinsicht.
Schubert: Späte Klavierstücke, BA 9634
Ganz eigenartig wird man von Schuberts Musik berührt. Jeder Ton verrät, dass er nicht aus gefestigtem Vokabularium erscheint. Die trauernde Betrachtung wird scheinbar entrückt in eine andere Welt, wo die Musik Zuflucht sucht. Der „tragische Lyrismus“ (H. Goldschmidt) sollte sein gesamtes Schaffen durchdringen. Die vorliegende Ausgabe könnte sich nicht besser in diesen Duktus einfügen. Sie beinhaltet die „Drei Klavierstücke“ D 946 und zwei Miniaturen, die „Ungarische Melodie“ D 817 und das „Allegretto in c“ D 915. Die synkopisch daherkommende Melodie in h, die nicht in reinem Moll weiterklingt, meint mit „ungarisch“ die Musik der dort ansässigen Roma, die sich durch charakteristische Rhythmik und Verzierungsmerkmale auszeichnet und auf tänzerischer Akkordik fußt. Im „Allegretto“ klingen muntere und friedvolle Gestalten an, scheinbar ganz ohne Arg. Und dennoch spürt jeder, der Musik empfindsam hört, dass sich dahinter lauernd ein jäher Riss verbirgt. Das Leichtfüßige verstärkt dieses Gefühl weitgehend. Beide Stücke eignen sich, ins Repertoire derjenigen – auch jüngeren – Klavierspieler aufgenommen zu werden, die der um sich greifenden Verflachung in der Literaturauswahl Einhalt gebieten wollen.
Die in Schuberts Todesjahr komponierten drei Klavierstücke, die nicht als Zyklus konzipiert sind, horchen in Abgründe, aber auch in nie gehörte Schönheiten. Es ist ein Wahrnehmen von Einfachem, beängstigend in die Tiefe ragend. Mario Aschauer verweist im Vorwort zu Recht auf die Art der damals üblichen Musizierpraxis, die sich an die Beschaffenheit der Instrumente anlehnte und bei heutiger Interpretation unbedingt Berücksichtigung finden sollte. Gleichermaßen von Sachkenntnis gezeichnet ist die Arbeit Walther Dürrs. Bei den Fingersatzangaben wird man allerdings Alternativen ausprobieren müssen.
Smetana: Frühe Klavierwerke, BA 9527
Mit Smetana fand die tschechische Musik ihren eigenen Ton. Als Erster kehrte er die Spezifika der tschechischen Volksmusik hervor. „Meine Absicht ist, gerade die ‚Polka‘ zu idealisieren, so wie es seinerzeit Chopin mit der Mazurka getan hat“, schrieb Smetana 1879 und drang behutsam zum Wesen der nationalen Kunstmusik vor. Auftrumpfendes klangliches Bepinseln von Folkloreelementen war seine Sache nicht. Vielleicht bevorzugte Smetana gerade deshalb in seinem (überschaubaren) Klavierwerk die kleine Form. Jan Novotný befleißigte sich einer tiefgreifenden Recherche und fasste in der vorliegenden Ausgabe die als op. 1 genannten „Sechs Charakterstücke“, Bagatellen und Impromptus, die „Hochzeitsszenen“ und ersten Polkas zusammen, die Smetanas Klaviersatz anschaulich und wirkungsvoll demonstriert und den spielerfahrenen Pianisten erkennen lässt. Daraus lassen sich unschwer Rückschlüsse bezüglich der Schwierigkeit der Stücke ziehen: Das Anspruchsvolle entbehrt jeglicher Virtuosität und verschwistert sich mit feingeistigen Zügen. Die orchestrale Wucht, die einigen Höhepunkten anhaftet, wird dabei vollkommen klaviergerecht erzeugt. Sein Faible für kühne und plötzlich auftretende Harmonisierungen geht mit einer Schwäche für Modulationen einher, in die man sich erst einhören muss. Diejenigen Stücke, die für bestimmte Anlässe komponiert wurden, zum Beispiel die „Hochzeitsszenen“, eignen sich genau genommen auch wieder vorrangig zum Vortrag in gleicher Atmosphäre, unbedingt aber auch für pädagogische Zwecke. Völlig zu Unrecht fristen diese Stücke, die größtenteils erst nach Smetanas Tod in Druck genommen wurden, auch heutzutage ein recht stiefmütterliches Dasein.
Fauré: Valses-Caprices, BA10843
Fauré wird nicht als Neuerer betrachtet. Aber man zählt ihn zu den Stammvätern neuerer französischer Instrumentalmusik. Vielleicht sind es gerade die Valses-Caprices, die als „die charakteristischsten Beispiele der pianistischen Schreibweise G. Faurés“ (de Marliave) angesehen werden können und seinen elegant-kultivierten und feinsinnigen Klavierstil zu erkennen geben. Faurés Musik hält sich von monumentalen Großformen fern. Dennoch stellen seine Stücke wegen ihrer Komplexität, den unvertrauten Harmonien und ihrer perspektivischen Innenausrichtung eine gebührende Herausforderung an den Interpreten. Über die vier Valses sind ganz konträre Beurteilungen nachzulesen. Der Walzer, der wie kaum ein anderer Tanz die Klaviermusik im 19. Jahrhundert prägte, wurde oft mit freien musikalischen Gattungen verknüpft. Die Assoziation mit der Caprice scheint deshalb wohlüberlegt und hebt die Eleganz des Tanzes ins Schwerelose. Der technische Anspruch liegt eher in der Fähigkeit, Klangbilder gut differenzieren zu können. Die Entstehung der Werke lässt sich im äußerst informativen Vorwort rückverfolgen.
Chabrier: Habanera, BA 10839
Emmanuel Chabrier (1841–1894) zählt zu den herausragenden Pianisten seiner Generation. Sein Spiel wurde als höchst ausdrucksstark und feinfühlig gelobt. Chabrier selbst sah sich eher als Pianist denn als Komponist, dessen Fähigkeiten er als im Selbststudium erworben angab. Bekannt wurde er als Komponist mit der Orchesterrhapsodie „España“, die als Fazit einer 1882 durchgeführten Spanienreise angesehen werden kann. Die „Habanera“ entstand auf Drängen seiner Verleger W. und É. Enoch, die ein gefälliges Klavierstück im Auge hatten. Die in Mode gekommene Rezeption spanischer Folklore, die sich vorwiegend (klischeehaft) durch die Imitation von Gitarrenklängen manifestierte, war für Chabrier ein willkommener Anlass, seine auf dieser Reise gesammelten Eindrücke an den Mann (oder wohl eher an die musizierende Frau) zu bringen. Tatsächlich gelang ihm ein schlichtes und in jeder Hinsicht überschaubares Paradestück, für das sich sogar die Erstellung einer Orchesterfassung zu rentieren schien. An den Pianisten stellt dieser Tanz in Des-Dur keine besonderen technischen Ansprüche, jedoch verzaubert er durch seine filigrane Tongebung, für die ein äußerst differenziertes Spiel in den verschiedenen Lagen oberstes Gebot zu sein scheint. Der besseren Lesbarkeit halber wurde der Text auf drei Systeme verteilt, was auch der Sichtbarmachung der Stimmführungen zugutekommt.
Reicha: 36 Fugen für Klavier, BA 9541
Anton Reicha wurde 1770 in Prag geboren und starb 1836 in Paris. Er gehört zu jenen böhmischen Komponisten, die seinerzeit überall in Europa das Musikleben prägten und gern gesehen waren. Reicha sammelte erste musikalische Erfahrungen als Flötist, ehe er eine Ausbildung zum Komponisten, Pädagogen und Theoretiker aufnahm. Im Jahre 1818 begann er am Pariser Konservatorium seine Lehrtätigkeit in den Fächern Fuge und Kontrapunkt. Er stellte umfangreiche Überlegungen an, wie die historisch befrachtete Fuge, neu ausgestattet und in der Praxis zukunftsfähig verankert werden kann. Reicha wollte das System lockern, aber nicht aufweichen. Diese Konfrontation kann zu ganz neuen Ausblicken führen. Die 36 Fugen, die vermutlich 1804 in Wien erschienen, sind das Resultat eines schöpferischen Kraftakts. Die Tatsache, dass kaum Reaktionen darauf überliefert sind, lässt vermuten, dass man den neuartigen Fugen skeptisch gegenüberstand. Beethoven, der Reicha schon aus Bonner Jugendtagen kannte, war einer dieser Skeptiker. Nun sind die Fugen in der Tat trotz aller Neuerungen bezüglich der Wahl des Themas, einer Weitung in harmonischer, tonaler und modulatorischer Hinsicht, eines Gleichgewichts zwischen Harmonie und Melodie einerseits nicht leicht zu lesen, komplex in der Erarbeitung und alles andere als das, was man von einer Fuge für gewöhnlich erwartet. Andererseits frisch, fast jauchzend, dann spröde, aufgesetzt wirkend, laborierend mit Takt und Metrum, zum Verzweifeln fingerbrechend, auch Theoretisches und Pädagogisches im Fokus: in der Summe ein lohnendes Lehrwerk in vielerlei Hinsicht. Zähne zusammenbeißen und freischwimmen.
In der vorliegenden Ausgabe wurde das komplizierte Notenbild im Sinne einer Handreichung an die Interpreten durch eine moderne Notenschrift ersetzt.