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Symphonische Entdeckungen und DDR-Schnäppchen

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Eduard Tubin, amerikanische Tondichtung, deutscher Expressionismus
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1944 floh Eduard Tubin, mit noch nicht 30 Jahren schon Estlands größter Symphoniker, mit vier Symphonien im Gepäck vor der Roten Armee übers Meer nach Schweden. Dort nahm man ihn zwar freundlich auf, doch verfuhr man mit ihm wie eigentlich mit allen musikalischen Genies, die man hervorbrachte (zum Beispiel Berwald, Pettersson oder heute Eliasson): Man ignorierte die herausragende Qualität seines Schaffens, zog ihm das Establishment einer akademischen Moderne vor, die von Hilding Rosenberg an Ingvar Lidholm und Daniel Börtz weitergereicht wurde.

1944 floh Eduard Tubin, mit noch nicht 30 Jahren schon Estlands größter Symphoniker, mit vier Symphonien im Gepäck vor der Roten Armee übers Meer nach Schweden. Dort nahm man ihn zwar freundlich auf, doch verfuhr man mit ihm wie eigentlich mit allen musikalischen Genies, die man hervorbrachte (zum Beispiel Berwald, Pettersson oder heute Eliasson): Man ignorierte die herausragende Qualität seines Schaffens, zog ihm das Establishment einer akademischen Moderne vor, die von Hilding Rosenberg an Ingvar Lidholm und Daniel Börtz weitergereicht wurde.Tubins Symphonik durchlief einen schmerzvollen Transformationsprozess, der sie nur umso unabhängiger erstrahlen ließ. Die erste Welle der Tubin-Entdeckung durch Neeme Järvi in Göteborg haben wir nun lange hinter uns, und leider ist durch Järvis pauschalen Zugriff, seine Unlust am Erarbeiten spezifischer Qualitäten, ein erster Ansatz zu angemessener Durchsetzung dieser Musik damals versäumt worden. Nun kommt unerwartet von dem kleinen finnischen Label Alba ein zweiter Vorstoß, und schon sind die Symphonien Nr. 2 bis 7 (entstanden 1937–57) in Neuaufnahmen des Estnischen Nationalen Symphonie-Orchesters unter Arvo Volmer da. Und plötzlich stellt sich eine ganz andere suggestive Kraft der Tonsprache ein. Die Zweite, „Legendäre“, mit ihren ungeheuer weiträumigen Steigerungswellen, die introvertiert spannungsgeladene Dritte, das unablässige lyrische Aufblühen der Linie in der Vierten, das unmittelbar fesselnde, motivisch prägnanteste kompakte Drama der Fünften, die gespenstische Assimilation von Jazz und Tanzlust in die schroffen Abgründe der Sechsten, die neu gewonnene, in ihrer freiwilligen Kargheit beklemmend berührende nüchterne Haltung der Siebenten: Eduard Tubin (1905–82) hat als Symphoniker meines Erachtens posthumen Anspruch auf einen Platz in der Galerie der Großen des 20. Jahrhunderts, wie Sibelius, Nielsen, Schostakowitsch, Prokofieff, Pettersson, um nur die geografisch näher liegenden zu nennen. Stilistisch sind natürlich Gemeinsamkeiten mit anderen Meistern aus dem nordisch-sowjetischen Raum feststellbar, aber Tubins Eigentümlichkeit wird für den, der anfängt, sich mit ihm zu beschäftigen, schnell unverkennbar. Dazu sei mit diesen neuen Aufnahmen, die bald auch die Symphonien Nr.1 und 8 bis 11 umfassen sollen, aufgefordert.

Auch in der amerikanischen Musik gibt es immer wieder Entdeckungen zu machen, und dies nicht nur in neuer Zeit. George Templeton Strong (1856–1948) war eng mit Edward MacDowell befreundet, ließ sich schließlich am Genfer See nieder und fand in Ernest Ansermet einen effektiven Förderer. Seine über 40-minütige Tondichtung „Le Roi Arthur“ (1916) fasst alle wesentlichen Stationen der Artus-Legende inklusive Ginevras Ehebruch und Mordreds Verrat zu einer Art Heldenleben-Apotheose zusammen (im ersten Teil wähnt man sich teils fast in einer psychedelischen Doublette des Strauss’schen Heldenlebens). Das ist eine formal und polyphon höchst meisterliche, bildkräftig beschworene Orchesterinszenierung aus eher „spätromantischer“ Sicht. Der zwei Jahre ältere George Chadwick war einer der wesentlichen Pioniere amerikanischer Orchestermusik, und sein stärkstes Werk scheint mir in dieser Auswahl die Tondichtung vom betrunkenen Reiter „Tam O’Shanter“ zu sein, der zufällig einen Hexensabbat belauscht, dabei ertappt wird und den wütenden Verfolgerinnen haarscharf entkommt. Chadwicks Vermögen drastisch-bizarrer, humoresker und sehr gegenständlicher Schilderung mit rein musikalischen Mitteln ist hinreißend, und José Serebrier, einer der feinsten Dirigenten unserer Zeit, entfaltet die Szenerie unwiderstehlich und lässt auch Harmloseres zum echten Vergnügen werden. Als Komponist ist der aus Uruguay stammende Serebrier halb phantasmagorischer Kobold („Winterreise“!), halb differenziertester Traumreiter, mit einer extrem unkonventionellen, aber immer fantastisch klingenden Orchestration und unerschöpf- licher Freude an zentrifugalem Kontrapunkt und unerhörten tonalen Wirkungen. Wo er, den einst sein Mentor Stokowski als „größten Meister der orchestralen Balance“ pries, seine Werke selbst dirigiert, ist Erfrischung, Überraschung und funkensprühendes, hohes Karat garantiert.

Eine solche dirigentische Brillanz würde auch den Meistern des deutschen Expressionismus zu dichterer Dramatik verhelfen, die Israel Yinon mit sehr beseelter Anteilnahme für Koch-Schwann aufnimmt. Er tut dabei nichts Geringeres, als das Bild der Geschichte der deutschen Musik ein wenig zurechtzurücken. Heinz Tiessen (1887–1971), Lehrer von Eduard Erdmann und Sergiu Celibidache, war einer der großartigsten deutschen Tonschöpfer des Expressionismus, ausgehend von der Erfahrung Strauss’ und Schönbergs in bezwingender organischer Gestalt sich vollendend. Im Dritten Reich wurde er kaltgestellt, danach wurde es still um ihn. Ähnlich sein Schüler Eduard Erdmann (1896–1958), der zwar als Pianist für die vielleicht wunderbarsten Aufführungen Bach’scher und Schubert’scher Werke geliebt wurde, als Komponist aber mehr und mehr ein Schattendasein fristete. In den ersten zwei seiner vier Symphonien ist eine deutliche stilistische Entwicklung von der Tiessen-Strauss-Nachfolge zu einer mit Schönberg sympathisierenden Eigentümlichkeit hin zu beobachten, die auf paradoxe Art tiefen Ernst und kapriziöse Figurenlust verbindet. Emil Bohnke (1888–1928) schließlich, durch einen Autounfall mitten aus der Intensität des Schaffens gerissen, steuerte aus der strengen Zucht konservativ romantischer Bahnen mitten ins Abenteuer herb freitonaler Expressivität, wovon die 1928 unter Erich Kleiber uraufgeführte Symphonie eindrückliches Zeugnis ablegt. Yinon rückt diesen Werken mit Herzblut und lyrischem Impetus zu Leibe und wird mit seiner Nase für verborgene Schätze in die Geschichte eingehen.

Wer viel gängiges und unbekanntes Repertoire auf hohem orchestralen Niveau für ganz wenig Geld möchte, ist bei Edel Classics an der richtigen Adresse. Dort werden die Dirigierlegenden der DDR zu feinen Päckchen geschnürt. Booklets gibt’s wie schon in den zwei Konwitschny-Folgen keine, aber auf 15 CDs das Vermächtnis des unerbittlichen Präzisionsfanatikers Herbert Kegel, mit Raritäten von Friedrich Schenker, Goldmann, Dessau oder Ernst Hermann Meyer, mit gestochen deutlich gestanzten Aufführungen von Schostakowitsch, Britten, Sibelius, Bartók oder vor allem Schönberg, dessen erratischer „Moses und Aron“ hier Referenzstatus beanspruchen darf. Von Kurt Sanderling ist das längst bekannte Repertoire auf 16 CDs, nun aber für jeden erschwinglich und im geistesgegenwärtig kontrollierten Klang und der klaren Diktion sozusagen Bestandteil des klassischen Kanons deutscher Dirigierkunst. Und last but not least taucht der launige Musikant Otmar Suitner zu seinem 80. Geburtstag aus der krankheitsbedingten Versenkung empor: einerseits mit einer „persönlichen Auswahl“, die, neben ihm besonders ans Herz gewachsenen Ausschnitten aus Opern und Orchesterwerken, Launiges aus der DDR enthält, so Paul Dessaus Mozart-Adaptionen oder Reiner Bredemeyers „Bagatellen für B[eethoven]“; andererseits mit einer 11-CD-Box, die vor allem des teils sehr liebevoll einstudierten Seltenen von Reger, Wolf, Strauss, Pfitzner, Weber oder Volkmann wegen empfohlen sei.

Eduard Tubin: Symphonien Nr. 2 & 5 (Alba Records ABCD 141), Nr. 3 & 6 (CD 147), Nr. 4 & 7 (CD 155); Estnisches Nat. SO, Arvo Volmer (Vertrieb: Klassik-Center)
George Templeton Strong: Le Roi Arthur, Die Nacht (Naxos 8.559048); Moskauer SO, Adriano

George Chadwick: Tam O’Shanter, Symphonic Sketches, Melpomene Overture (Reference Recordings RR-64), Suite Symphonique, Aphrodite, Elegy (RR-74); Tschechische Staatsphilharmonie Brünn, José Serebrier

José Serebrier: Partita, Fantasia, Winterreise, Sonate für Violine solo (RR-90); London Philharmonic Orch., Serebrier (Vertrieb: in-akustik)

Heinz Tiessen: Symphonie „Stirb und Werde!“, Hamlet-Suite, Vorspiel zu einem Revolutionsdrama, Salambo-Suite (Koch-Schwann 3-1490-2); RSO Berlin, Israel Yinon

Eduard Erdmann: Symphonien Nr. 1 & 2, Rondo op. 9 (Koch-Schwann 3-6572-2); RSO Saarbrücken, Yinon

Emil Bohnke: Symphonie, Klavierkonzert (Koch-Schwann 3-6420-2); R.-A. Bohnke (Pf.), Bamberger Symphoniker, Yinon

Herbert Kegel dirigiert Schostakowitsch, Sibelius, Mahler, Berlioz, Strawinsky, Bartók, Berg, Hindemith, Webern, Orff, E. H. Meyer, Dessau, F. Schenker, Goldmann, Penderecki, Britten (War Requiem), Schönberg (Gurre-Lieder, Moses und Aron); Edel Classics 15-CD-Box 02332CCC

Kurt Sanderling dirigiert: Sibelius (Symphonien Nr. 1–7 etc.), Schostakowitsch (Symphonien Nr. 1, 5, 6, 8, 10 & 15), Mahler (Symphonien Nr. 9 & 10, Lied von der Erde etc.), Bruckner, Borodin, Franck, Tschaikowsky; Edel Classics 16-CD-Box 02342CCC

Otmar Suitner dirigiert: Weber, Robert Volkmann, Bruckner, Dvorák, Tschaikowsky, Wolf (Penthesilea), Reger, Pfitzner, Strauss (Salome etc.), Hindemith, Mozart, Humperdinck; Edel Classics 11-CD-Box 02442CCC

Otmar Suitner & Staatskapelle Berlin, „Seine persönliche Auswahl zum 80. Geburtstag“: Dessau, Bredemeyer, M. Schubert, Ausschnitte aus Opern und Orchesterwerken; Berlin Classics 94722BC (Vertrieb: Edel)

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