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Transkriptionskunst für Orgelvirtuosen

Untertitel
Opernszene und Klavierwerke in der Orgelsprache
Publikationsdatum
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Engelbert Humperdinck (1854–1921): Abendsegen-Szene aus der Oper Hänsel und Gretel, für Orgel von Edwin H. Lemare (1865–1934). Herausgegeben von Johannes Geffert. Ed. Schott ED 20210, ISMN M-001-14852-8

Der aus England (Isle of Wight) stammende, in London am Royal College of Music ausgebildete und überwiegend in Amerika wirkende Konzertorganist Edwin H. Lemare wird weltweit gerühmt wegen seiner stupenden Spieltechnik, seiner stilsicheren und nuancierten Registrierungsvielfalt und seines phänomenalen Gedächtnisses. Sein überragendes Virtuosentum entfachte jedes Mal bei seinen Konzerten in den mit tausenden von Zuhörern gefüllten großen Konzerthallen Amerikas enthusiastische Begeisterungsstürme. Außerdem bereiste er als gefeierter Virtuose auch England und Australien. Die Bearbeitungen bleiben immer möglichst nahe an Struktur und Klanglichkeit der Vorlagen, was auch ihren oft hohen technischen Anspruch zur Folge hat. Seine Transkriptionen sind nach Gesamtumfang und musikalischer Auslotung ein bedeutender Thesaurus dieser Gattung.

Die vorliegende Transkription der Abendsegen-Szene aus Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ verrät schon beim bloßen Lesen und inneren Hören die gründliche Kenntnis der Originalpartitur. Die reiche Orchestrierung und ausgefeilte dynamische Nuancierung der Vorlage finden im übertragenen Notentext ihre weitgehende Entsprechung, soweit denn zur Klangrealisierung auch ein großzügig orchestral disponiertes Instrument mit wenigstens drei Manualen zur Verfügung steht. Der Herausgeber, Johannes Geffert, offensichtlich bestens vertraut mit Lemares Transkriptionskunst, gibt in seinen „Anmerkungen zur Neuausgabe“ für die vereinfachte Umsetzung besonders schwieriger Stellen nützliche Registrierungshinweise und verweist darüber hinaus auf eine der für Lemare typischen Spieltechniken, hier die Technik des „thumbing“, der Gebrauch beider Daumen für das gleichzeitige Spielen mit einer Hand auf zwei Manualen zur Erreichung der gewünschten Effekte. Eine ausführliche Beschreibung zu Lemares Spieltechnik ist, so Geffert, in dem „höchst lesenswerten“ Vorwort der Notenausgabe von Wayne Leupold Edition (s.u.) zu finden.

Literatur
Martin Weyer: Edwin Lemare und „The Art of Transciption“, in: Ars Organi 52 (2004), S. 16–26.
Notenausgabe des Originals
Dirigierpartitur
Notenausgaben
„The Organ Music of Edwin H. Lemare, Series II (Transcriptions)”. Ed. by Wayne Leupold. Colfax (USA), Wayne Leupold Editions. Vol. I: The Encore Series, 1990, 119 S. (Verl.-Nr. WL 600 010). Vol. II: Wagner (The Ring), 1992, 111 S. (Verl.-Nr. WL 600 017). Vol. III: Wagner (Tannhäuser, Lohengrin, Parsifal), 1992 (Verl.-Nr. WL 600 018). Vol. IV: Wagner (Meistersinger, Tristan und Isolde, Miscellaneous), 1992 (Verl.-Nr. WL 600 019). Vol. V: Brahms, 1993, 92 S. (Verl.-Nr. WL 600 025). Vol. VI: Dvorák, 1994, 129 S. (Verl.-Nr. WL 600 026). Vol. VII: Edward Elgar and Edward German, 1994, 106 S. (Verl.-Nr. WL 600 027). Vol. VIII: English, Irish and American Songs, 1994, 75 S. (Verl.-Nr. WL 600 028). Vol. IX: French Composers, 1994, 124 S. (Verl.-Nr. WL 600 028). Vol. X: Tschaikowski, 1994, 111 S. (Verl.-Nr. WL 600 041). Vol. XI: Russian Composers, 1994, 58 S. (Verl.-Nr. WL 600 042). Vol. XII: Grieg, 1994, 35 S. (Verl.-Nr. WL 600 043).

Vergessener Walzer

Franz Liszt (1811–1886): Valse oubliée No. 1 (aus Quatre valses oubliées Searle 215, entstanden 1881–1885), Transcription pour Orgue par Jean Guillou (geb. 1930). Herausgegeben von Wolfgang Kessler. Ed. Schott ED 20197 ISMN M-001-14780-4

Jean Guillou ist ein französischer Komponist, Pianist, Organist, Musikpädagoge und zählt zu den größten Künstlern der Gegenwart für Orgelmusik. Neben seinem umfangreichen kompositorischen Schaffen, das die verschiedensten Gattungen umfasst, hat Guillou zahlreiche Transkriptionen von Orchesterwerken für Orgel erstellt, darunter Werke von Mussorgski, Prokofjew, Rachmaninow, Strawinsky, Tschaikowski, sowie Orgelfassungen der Goldberg-Variationen und des Musikalischen Opfers von J.S. Bach. Seine Leidenschaft für den Orgelbau hat ihn nie ruhen lassen. In seinem Buch „L’Orgue. Souvenir et Avenir“ gibt er ausgehend von seiner Orgelästhetik mit der Betrachtung der Registerfamilien und Klangfarben ein Plädoyer ab für einen erneuerten Orgelbau und entwirft seine Vision für eine „Orgel mit variabler Struktur“. Die vier Valses oubliées gehören zu Liszts Spätwerk, nach Alan Walker (The Final Years, S. 438–440) zu den „retrospektiven“ Stücken, oft gekennzeichnet mit den Epitheta „oubliée“ (vergessen) sowie „Musik der Verzweiflung“ und „Musik des Todes“, zum Teil als musikalische Reaktion auf Richard Wagners Tod 1883. Der Liszt’sche Klaviersatz des kleinformatigen Stückes verlangt vom Bearbeiter, anders als die Herausforderungen, denen er sich bei der Übertragung einer großorchestralen Partitur gegenübersieht, eine subtile Vorgehensweise, um originäre Orgeleffekte zu erzielen. Es bedarf der sorgfältig portionierten Verwendung der Mittel aus dem reichen Effektenangebot, das eine Orgel ja im Übermaße bereit hält. Guillous’ Transkription des „Vergessenen Walzers“ trägt dem Rechnung. Er beschränkt sich auf Registrierungshinweise und auf Manual- beziehungsweise Werkzuweisungen. Das übertragene Notenbild unterscheidet sich vom Original zunächst nur durch das erweiterte Notensystem. Erst im B-Teil des Stückes, also nach 48 Takten, kommt das Pedal dazu, ohne den originalen Notentext zu verlassen, quasi als vorsichtige Akzentuierung des Rhythmus’. Erst ab Teil C, also nach 88 Takten, wird durch Verwendung der Doppelpedaltechnik (links wechselnder Orgelpunkt, rechts Achtelbewegungen) und der Vollgriffigkeit in beiden Händen der Klaviersatz etwas deutlicher in die orgelspezifische Sprache „übersetzt“. Ungefähr in der Mitte des Stückes setzt die (Schein-)reprise ein, die aber direkt zum Teil C führt. Hier nun wechselt – raffiniert angelegt – die Klaviersprache vollends in die Sprache der Orgel. Wiederum verwendet Guillou die Doppelpedaltechnik, wobei das rechte Pedal, wenn auch „nur“ durch Tonrepetition, gegen die 6/8-Bewegung der linken Hand Quintolen durchhalten muss. Der Walzerrhythmus, auch im Original aufgelockert durch die zeitweise Betonung der Zählzeit 2, gewinnt durch diese Rhythmusvariante weiter an Leichtigkeit und Charme. So wird dieser Reprisen-C-Teil zusammen mit der empfohlenen Registrierung zu einem echten „amoroso“, womit der „Vergessene Walzer“ diminuierend, nur noch kurz aufgehalten von einer das eigentliche Valse-Motiv augmentierenden codetta im Pianissimo verklingt.

Schriften
L‘Orgue. Souvenir et Avenir, Paris 1978, 21989; dt. Übersetzung von Ch. Glatter-Götz und D. Hütte: Die Orgel, Erinnerung und Zukunft, St. Augustin 2005
Literatur
A. Walker: Franz Liszt, 3 Bde., hier III. The Final Years, 1861–1886, New York
Notenausgabe des Originals
Emil von Sauer: Franz Liszt Werke zu 2 Händen, Band V, Original-Kompositionen

Auf historischen Orgeln begleiten

Choral-Buch. Zum Evangelischen Gesangbuch in tiefer Lage für historische Orgel, vorgelegt von Tillmann Benfer und Martin Böcker unter Mitarbeit von Albert Behrens, Winfried Dahlke, Volker Nagel-Geissler und Wolfgang Rosenmüller. Florian Noetzel Verlag „Ars Musica“, Wilhelmshaven, ISMN M-2019-7588-7

Der Norden Niedersachsens, das Gebiet von der niederländischen Grenze im Westen bis im Osten zur Elbe, ist reich gesegnet mit original erhaltenen oder wiederhergestellten Instrumenten aus der Blütezeit des dortigen Orgelbaus vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, darunter Juwelen aus der Werkstatt von Arp Schnittger (1648–1719). Um aber diese Orgeln außer als Soloinstrument auch für die heutige Musizierpraxis mit Ensembles nutzen und dem Gemeindegesang begleitend Impulse geben zu können, bedarf es der Vertrautheit mit der Spielweise dieser Orgeln wegen der historisch bedingten Unterschiede hinsichtlich Tonhöhe, Stimmungssysteme und Manualbauweisen. Welcher Organist aber, besonders der fachlich nicht ausgebildete, hat die Zeit, sich in allen nötigen Disziplinen einzuarbeiten? Für das Begleiten des Gemeindegesangs an diesen historischen Instrumenten ist deshalb das vorliegende Choral-Buch eine große Hilfe. In dem Vorwort von Martin Böcker werden, konzis und verständlich formuliert, alle „Hürden“, die beim Gebrauch historischer Orgeln zu überwinden sind, benannt: die Notwendigkeit des Transponierens auf Grund der Chorton-Höhe, die Beschränkung der Tonartvielfalt auf Grund der Mitteltönigkeit sowie die Schwierigkeit der manualiter-Ausführung auf einer Klaviatur mit kurzer Bass-Oktave. Das Vorwort verzichtet auf die genaue Erläuterung der einzelnen Schlagwörter wie „Chorton-Höhe“ et cetera (hierfür s. Literaturangaben). Doch werden dem Benutzer des Choral-Buchs die Sachverhalte zur Überwindung der „Hürden“ im Allgemeinen dargelegt. Im Notentext selbst gibt es dann bei den Chorälen Hinweise für die instrumentengerechte Ausführung. Das Choral-Buch ist ein wahres Vademecum für alle Organistinnen und Organisten.

Literatur
Gerd Zacher: Bachs „Kunst der Fuge“ ist mitteltönig komponiert – ein Vergleich, in: Ars Organi 47 (1999), S. 209–215
Sebastian Adamczyk: Das Stimmungssystem des Johannes Lublin (1540), in:Ars Organi 51 (2003), S. 224–227
Jürgen Grönewald: Eine Stimmanweisung – zwei Meinungen, oder Was bedeutet „tertia perfecta acuta“, in: Ars Organi 52 (2004), S. 104–105
Thomas Lipski: Zur Frage der Stimmtonhöhe aus der Sicht von Aristide Cavaillé-Coll, in: Ars Organi 52 (2004), S. 143–150
Werner Rehkopf: Zur Darstellung von Temperierungen, in: Ars Organi 53 (2005), S. 97–98

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