Jean Sibelius: Sämtliche Werke, Bd. V/2: Klavierwerke II, hrsg. von Kari Kilpeläinen, Wiesbaden 2008, Breitkopf & Härtel, SON 612, XVII+188 S., € 117,00
Heute kennt man Jean Sibelius nahezu ausschließlich als den großen Sinfoniker, der einen ebenso kräftigen wie langen Schatten auf die Musikgeschichte seiner finnischen Heimat geworfen hat. Dabei ist sein Schaffen weitaus vielfältiger. Denn es finden sich gleichermaßen Lieder, Chöre und Klaviermusik. Zu letzterer glaubt man gemeinhin auch die bekannte „Valse Triste“ op. 44 (1904) zählen zu können – doch handelt es sich um das Arrangement einer Nummer aus der ein Jahr zuvor entstandenen Bühnenmusik zum Schauspiel Kuolema.
Diese eigenartig verquere Rezeption durchzieht nahezu das gesamte Œuvre. Umso dankbarer ist man daher für die in Helsinki redaktionell betreute Ausgabe sämtlicher Werke, die nun Schritt für Schritt bei Breitkopf & Härtel erscheint (übrigens ein schon von Sibelius selbst bevorzugter Verlag). Notwendig wurde dieses Großprojekt aus gleich mehreren Gründen: Nicht alle Werke liegen gedruckt vor, viele Ausgaben sind längst vergriffen und zahllose Druckfehler werden bis heute hartnäckig tradiert. Dies gilt auch für die „Cinq morceaux“ op. 75 und die „Treize morceaux“ op. 76 – zwei Sammlungen von Klavierstücken, die Sibelius 1914 an einen finnischen Verleger verkaufte. Dieser allerdings konnte kriegsbedingt die Werke nicht veröffentlichen, sondern veräußerte Teile der Rechte nach London. Die bei Augener und Chester gedruckten Ausgaben aber basieren auf Abschriften, und Sibelius selbst hat wohl nie eine Korrekturfahne erhalten …
Dass sich Sibelius in so weitem Maße der Klaviermusik, vor allem aber dem kurzen und kurzweiligen Charakterstück gewidmet hat, geht allein auf ökonomische Interessen zurück. Dies zeigt sich besonders an den in der vorliegenden Neuausgabe in hervorragender editorischer und drucktechnischer Qualität wieder zugänglichen Sammlungen aus den Jahren 1909 bis 1919 (op. 58, 67, 68, 74, 75 und 76). So waren die Zehn Klavierstücke op. 58 (1909) ursprünglich für den Verlag von Robert Lienau vorgesehen. Die anfängliche schöpferische Euphorie wich aber bald einem starken Zweifel („weil diese Klaviertechnik mir nicht geläufig ist“), und dieser dann dem Zwang des Portemonnaies („Die Finanzen zwingen mich, Klavierstücke zu komponieren“). Als Sibelius für die Sammlung 5.000 Reichsmark verlangte, lehnte der Verlag allerdings dankend ab. Auch bei Breitkopf konnte der Komponist sich nicht durchsetzen. Sein Mittelsmann, der Schriftsteller Adolf Paul, hatte für Sibelius’ Gefühl viel zu schnell und zu einem schlechten Preis eingeschlagen: 300 Mark pro Stück erschienen ihm zu wenig, vor allem, weil viele der Nummern sich hervorragend für Violine und Klavier et cetera bearbeiten ließen. Denn: „Für diese Arrangements bekomme ich also nichts, nach dem Wortlaut des Kontraktes.“
Wie ein roter Faden ziehen sich diese wirtschaftlichen Überlegungen durch die Entstehungsgeschichte nahezu aller Klavierwerke. Zu op. 75 und 76 notierte Sibelius im Tagebuch: „Ich beginne Miniaturen für Klavier zu pflegen. Vielleicht auch: Violine und Klavier. Ich vermute, dass diese Gebiete, die Lieder, mich finanziell auf den Beinen halten können. Meine großen Schulden muss ich auf andere Weise erledigen.“ – Erstaunlich nur, welch hohe kompositorische Qualität all diese Brot-Werke haben. Die mit ihnen verbundene Last hört man an keiner Stelle. Die Wiederentdeckung der Kleinode lohnt auf jeden Fall.