Noch anfangs der 1970er-Jahre hieß es, das Streichquartett sei tot, eine Fehldiagnose, die vorher auch schon mal der Oper gestellt worden war. Doch das 1974 gegründete Arditti Quartett und seine Nachfolge-Formationen sorgten für eine kräftige Wiederbelebung der Gattung, und heute werden mehr Streichquartette geschrieben denn je. Hier eine kleine Auswahl aus den laufenden Neuerscheinungen.
Jörg Widmann hat seine ersten fünf Streichquartette als Zyklus ge-plant. Die Nummern 1 bis 3, darunter das viel gespielte dritte („Jagdquartett“), das im Zyklus als Scherzo fungiert, entstanden 1997–2003. Mit den nun im Druck erschienenen Nummern 4 und 5, komponiert 2005, ist die Reihe abgeschlossen. Das vierte ist nach den Worten des Komponisten ein Stück über das Gehen und Schreiten (Andante/Passacaglia). Jede Stimme ist in sich stark ausdifferenziert, wobei gleiche Spielpraktiken selten gleichzeitig auftauchen. Das Resultat ist ein heterogener Satz von vier polyphon geführten Klangströmen, der den Spielern ein hohes Maß an individuellem Gestaltungsvermögen abverlangt.
Im fünften Quartett, „Versuch über die Fuge“, fließen die vier Stimmen, nun artikulatorisch geglättet, zu immer wieder neuen kontrapunktischen Konstellationen zusammen, vom Fugato bis hin zum Spiegel- und Kreiskanon. Neu ist hier der Einsatz einer Sopranstimme, die den technischen „stile antico“ mit Bibeltexten in lateinischer Sprache ergänzt. Der ernste Ausklang eines kammermusikalischen Zyklus’, hinter dem sinfonische Ambitionen zum Vorschein kommen.
Jörg Widmann: 4. Streichquartett, Edition Schott ED 20081 / 5. Streichquartett, „Versuch über die Fuge“ (mit Sopranstimme), Edition Schott ED 20082
„Songs are sung“ heißt der Titel des rund fünfzigminütigen 3. Quartetts von Henryk Mikołaj Górecki, uraufgeführt 2005 vom Kronos Quartett. Der Grundgestus der fünf Sätze ist mit Ausnahme des zentralen, rhythmisch markanten Allegro ruhig bis introvertiert, die kantablen Elemente sind von einer tonal eingefärbten Akkordik grundiert. Die Zurücknahme der kompositorischen Mittel geht jedoch einher mit einer Konstruktivität im Detail, deren Verfahren auf die Praxis altslawischer Volksmusik verweisen und die „weiche“ Harmonik mit klaren formalen Konturen versehen. Die Schwierigkeiten dieses Werks liegen nicht in der Technik, sondern im Treffen des richtigen Tons.
Henryk Mikołaj Górecki: Streichquartett Nr. 3 op. 67, „Songs are sung“, Boosey & Hawkes 17170
Dafür, dass Louis Andriessens einsätziges Werk „Tuin van Eros“ (Garten des Eros) 2002 für das virtuose Arditti Quartett geschrieben wurde, ist es eigentlich recht zahm. Über weite Strecken dominiert eine ostinate Zwei-Achtel-Figur in weiten Intervallen und homophoner Dreistimmigkeit, während die erste Geige in hoher Lage ihre melodischen Klimmzüge macht. Doch permanente kleine Abweichungen in Intervallik, Dynamik, Metrum und Dichte bringen Leben in die scheinbare Monotonie, und ein bewegter Einschub aus schnellem Laufwerk sorgt für ein starkes Kontrastmoment. Dem Stück liegt das gleichnamige Gedicht von Jan Engelman von 1934 zu Grunde.
Weitere Werke in dieser handlichen Edition von Andriessens Quartettkompositionen sind ein Miserere, das unter anderem auf den frühbarocken a-cappella-Vokalsatz von Gregorio Allegri Bezug nimmt, und eine Quartettversion des Präludiums h-Moll aus dem ersten Band von Bachs Wohltemperiertem Klavier.
Louis Andriessen: Works for String Quartet, Boosey & Hawkes, HPS 1436
Das neunminütige Streichquartett des 1961 in Eisenach geborenen Thomas Buchholz, Meisterschüler von Ruth Zechlin, besteht aus den beiden kontrastierenden Sätzen „Hymnus“ und „Jubilus“: der erste mit weit gespannter Linienführung und in einen strahlend hellen Schlussakkord mündend, der schnelle zweite geprägt durch seine rhythmisch-motorische Energie in dahinfliegenden Sechzehntelläufen, zu denen ein „misterioso“-Mittelteil kontrastiert. Mit den reihentechnischen Einflüssen und der kompakten Motivik besitzt das bereits 1987 entstandene Werk einen ausgeprägt konstruktiven Charakter.
Thomas Buchholz: Streichquartett 1987, Verlag Neue Musik Berlin, NM 821
Chaya Czernowin liebt die Überlagerung heterogener Schichten. Ihre beiden Streichquartette „Seed I“ und „Seed II“ hat sie zur gleichzeitigen Aufführung konzipiert.
Das kann live mit acht Spielern oder mit vier Spielern und einer Playback-Version geschehen und heißt dann „Anea“. Es gibt aber noch weitere Aufführungsmöglichkeiten: Wenn man dieser Simultanversion eine Abfolge der beiden Quartette voranstellt, ergibt sich ein Zyklus dreier verwandter Stücke, Titel: „Anea Crystal“. Die beiden Quartette exponieren je eine physisch-musikalische Geste – repetitive, rhythmisch klar definierte Tonfolgen einerseits und „betrunkene“, in den Tondauern approximativ zu spielende Gestalten andererseits, was zu zunehmend komplexeren Überlagerungen führt.
Chaya Czernowin: „Anea Crystal“, 2 Streichquartette und ein Oktett (1 Partitur), Edition Schott ED 20538