Am 26. Mai 1945 erfüllt sich im zerstörten Berlin gewissermaßen ein Traum. Nur zweieinhalb Wochen nach der Kapitulation improvisieren die Philharmoniker ihr erstes Konzert nach dem Krieg und Lew Ljewitsch Borchard am Pult dirigiert – vom Publikum stürmisch begrüßt – Tschaikowskys Sinfonie Nr. 4. Eine Woche später beauftragt ihn der Magistrat von Berlin, das geliebte Orchester zu leiten. 30 Tage später wird Leo Borchard Vater, ein Vierteljahr nach dem Konzert ist er tot.
Der Dirigent Leo Borchard. Eine unvollendete Karriere, aufgezeichnet von Matthias Sträßner, TRANSIT Buchverlag Berlin 1999, 295 Seiten. Am 26. Mai 1945 erfüllt sich im zerstörten Berlin gewissermaßen ein Traum. Nur zweieinhalb Wochen nach der Kapitulation improvisieren die Philharmoniker ihr erstes Konzert nach dem Krieg und Lew Ljewitsch Borchard am Pult dirigiert – vom Publikum stürmisch begrüßt – Tschaikowskys Sinfonie Nr. 4. Eine Woche später beauftragt ihn der Magistrat von Berlin, das geliebte Orchester zu leiten. 30 Tage später wird Leo Borchard Vater, ein Vierteljahr nach dem Konzert ist er tot. Der Abend im Steglitzer Titania-Palast attestiert dem 1899 in Moskau geborenen Künstler, der erste Dirigent des ersten Orchesters der Stadt nach dem Kriege gewesen zu sein, und damit seinen kurzen, aber rastlosen Einsatz um kulturelle Reorganisierung. Die Frage ergibt sich, was ihn dazu berief und welchen Ruf der Nicht-Emigrant bei den wechselnden Besatzern genoss.Der Begriff der Karriere bedeutete für Leo Borchard noch keine Zwanghaftigkeit und kam aus einer „Zeit vor der Eisenbahn und dem Automobil“. Deshalb vielleicht konnte er warten. Als Opernkorrepetitor auf sein erstes Konzert, später in Berlin auf ein festes Orchester, auf Arbeitsmöglichkeiten während des Kriegs. Schließlich auf dessen Ende und eine angemessene Stellung danach.
Im Text indes läuft die Uhr. Matthias Sträßner rechnet wiederholt vor, wie viel Zeit Leo Borchard an seinen Lebensstationen verbleibt. Nach intensiver Recherche skizziert der Autor den Dirigenten als nach außen hin herben, verschlossenen Kosmopoliten, der sich eher indirekt mitteilt und nur selten die Initiative ergreift. Wiewohl er sich nie zu den Zirkeln der Petersburger Emigranten gesellt, stellt Russ-land die entscheidende Bezugsgröße für ihn dar. Die Kenntnis der Sprache rettet ihm Tage vor Kriegsschluss das Leben, bedeutet Kontaktmöglichkeit und ermöglicht, russische Bücher und Partituren im Original zu verstehen. Schon 1930 in Königsberg, neben Scherchen am Pult des Rundfunkorchesters der Orag, gilt Borchard als Exponent speziell russischen Repertoires. Über Rimsky-Korsakow gelangt er zu Bach, Tschaikowsky erschließt ihm Beethovens Sinfonien. Borchard entwirft das Libretto zu Boris Blachers „Großinquisitor“ und Nina Berberovas Tschaikowsky-Biografie erweist sich im Nachhinein als ein Schlüssel zum Verständnis seiner inneren Emigration.
Noch Borchards deutsche Übersetzung jener Publikation im Jahre 1939 liefert Mosaiksteine zum Persönlichkeitsbild. Matthias Sträßner, selbst beruflich erfahren in Konzertmanagement und modernem Medienbetrieb, liest Dokumente als Dokumente und hinterfragt autobiografische Skizzen oder die Tagebücher der Journalistin und zeitweisen Lebensgefährtin Ruth Andreas-Friedrich bezüglich ihrer einstigen Funktion. Angestrebt wird dabei kein Urteil, sondern Rekonstruktion. Ein vorsichtig tastendes, sich selbst immer neu diskutierendes Schreiben schafft dabei historische Plastizität.
Ehe der Buch-Anhang abschließend Borchards Konzerte, erhaltene Tondokumente, Primär- und Sekundärliteratur dokumentiert, summiert ein finales Kapitel. Es beschreibt Reaktionen des Kulturbetriebs auf den überraschenden Tod durch Schüsse beim Betreten des amerikanischen Sektors und stellt die Frage nach Borchards dirigentischem Rang. Bezüglich einer fiktiven Perspektive im bald zweigeteilten Deutschland entscheidet sich Sträßner für die Tragödie. Kulturpolitische Realitäten in Ost wie in West, aber auch die Persönlichkeit Borchards hätten, so der Autor, eher ein Scheitern als Vollendung nahegelegt.