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Jean Sibelius um 1945. Foto: Santeri Levas/Finnish Museum of Photography
Jean Sibelius um 1945. Foto: Santeri Levas/Finnish Museum of Photography
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Vom wilden Virtuosenkonzert zum Klassiker

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Erstmals beide Fassungen des Violinkonzerts in der Sibelius-Gesamtausgabe
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Unter den groß angelegten Violinkonzerten seit dem Beethoven’schen ist das von Sibelius zusammen mit dem von Brahms zweifellos das beliebteste bei Geigern wie beim Publikum, und was auch immer altvordere Skeptiker einwenden wollen, lässt sich die Einmaligkeit der formalen Dynamik und Anlage wie der charakteristischen Inspiration nicht im Ernst in Frage stellen. Insbesondere der Kopfsatz in seiner singulären Verschränkung der Sonatensatz-Elemente (die Solokadenz fungiert als Durchführung) ist ein Musterbeispiel für kreativen, schrankenlos transzendenten Umgang mit der konzertanten Form, ohne die violinistisch dankbaren Elemente zu opfern, deren virtuose Vorbilder für Sibelius seine Zeitgenossen mehr in der üppig dunklen Glut eines Vieuxtemps erblickten als bei Mendelssohn, Tschaikowsky oder Brahms.

Wie bei den „Lemminkäinen“-Legenden, „En Saga“ (beides bereits in den divergierenden Fassungen in der Gesamtausgabe erschienen), den „Okeaniden“ und vor allem der Fünften Symphonie liegt auch beim Violinkonzert der besondere Fall vor, dass Sibelius eine umfassende und tiefgreifende Revision vornahm, die verworfene Erstfassung jedoch erhalten geblieben ist und nunmehr natürlich auf das Interesse nicht nur der Forscher und Sammler, sondern auch vieler Musiker stößt. Die 1904 entstandene Erstfassung des Sibelius-Violinkonzerts ist auch daher legendär geworden, dass mit der Meisterung des eminent schwierigen Soloparts für die Ersteinspielung beim schwedischen Label BIS die internationale Karriere von Leonidas Kavakos ihren entscheidenden Aufschwung nahm. Immerhin ungefähr fünf Minuten länger ist diese Erstfassung. Die Kürzungen in der Endfassung von 1905 betreffen ausschließlich das Finale und den Kopfsatz. Was nicht bedeutet, der langsame Satz hätte keine einschneidenden Änderungen erfahren: Hier hat Sibelius das ausufernde Passagenwerk stark reduziert, jedoch war ausgerechnet die in der Endfassung komplexeste Passage (der polymetrische Soloeinsatz nach der Tutti-Steigerung) in der Erstfassung viel simpler angelegt. Auch wenn im Finale die Änderungen rein quantitativ sehr umfangreich sind, haben diese doch im Kopfsatz die gravierendsten Folgen gezeitigt. Hier sind die Proportionen verrückt, sogar einige entwickelnde Abschnitte in der Endfassung länger geworden, und zugleich fällt auch dem unbedarftesten Hörer in der Urfassung sofort die zweite große Solokadenz unmittelbar vor der Allegro-Coda auf. Man kann natürlich bedauern, dass Sibelius so großartige Strecken ersatzlos gestrichen hat, doch wer offen dafür ist, kann unmittelbar bemerken, um wieviel bezwingender sich die Form als Ganzes aufgrund der Änderungen gestaltet.

Die Urfassung des Violinkonzerts wird sich nicht als gleichwertige Alternative neben der einst bei Lienau erstveröffentlichten Endfassung im Konzertsaal durchsetzen. Sie gelegentlich zu hören, wird immer eine besondere Erfahrung sein, verbunden mit hohen Erwartungen an den Solisten. Eine unabdingbare Voraussetzung für künftige Aufführungen der Endfassung ist für Solisten und Dirigenten jedoch nunmehr das Studium dieser Urfassung. Hieraus erschließt sich vieles eindeutiger, was der Notentext der Endfassung alleine nicht in dieser Form preisgeben kann.

Man denke nur an das erste kadenzartige, teils unbegleitete Solo in der Exposition des Kopfsatzes. Diesem war ursprünglich bereits der unerbittliche Rhythmus des Finalsatzes unterlegt, und entsprechend sollte sich der Solist hier nicht zu sehr auf seine Rubato-Rechte berufen! Interessant auch, dass die Instrumentation zu Beginn des Finales das rhythmische Wechselspiel alleine den tiefen Streichern überließ. Die übliche Dominanz des Paukenrhythmus in der Endfassung ist natürlich eine Entstellung.

Selbstverständlich ist diese Ausgabe von epochaler Bedeutung. Dieser angemessen sind der mehr als 40-seitige kritische Bericht und das ausführliche, von Frank Reinisch vorzüglich übersetzte Vorwort von Herausgeber Timo Virtanen, dem man nur noch einen kurzgefassten graphischen Überblick über die hauptsächlichen Abweichungen und Änderungen zwischen beiden Fassungen gewünscht hätte – über die Transformation vom wilden Virtuosenkonzert zum symphonischen Konzertklassiker, die man hier nun erstmals im fundierten Studium mitvollziehen kann.

  • Jean Sibelius: Violinkonzert d-Moll op. 47, beide Fassungen. Partitur, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden, ISBN 979-0004803-24-0

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