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„Wahre Grausamkeiten“ zum Üben und Repetieren

Untertitel
Etüden, Klangbilder und anderes Musikpädagogisches für Klavier
Publikationsdatum
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Irene Vogt-Kluge, Dorothee Graf, Jutta Schwarting: Klaviergarten *** Reinhard Gagel: Tagträume und Nachtmahre *** Ignaz Moscheles: 24 Studien zur höheren Vollendung op. 70 *** Johannes Brahms: 51 Übungen für Klavier *** Carl Czerny: Schule des Legato und Staccato op. 335

 

Irene Vogt-Kluge, Dorothee Graf, Jutta Schwarting: Klaviergarten, Edition Conbrio, ECB 6103

Der Klaviergarten ist keine Schule. Der „Garten“ bezieht sich auf die Altersgruppe der Vorschüler ab vier Jahren und das Klavier auf den Ort, wo das „Spiel“ stattfinden soll. Die drei Autorinnen begnügen sich mit einem Bilderbuch, es wird also noch nicht wirklich gelernt. Der Lehrerkommentar enthält Fallbeispiele für die Arbeit in der Gruppe (wobei die Frage steht, ob sich ein Klavier für den Gruppenunterricht überhaupt eignet), in denen mögliche Vorgehensweisen aufgezeigt werden. Auf jeweils zwei Doppelseiten gibt ein Bild eine bestimmte Situation wieder, die zuerst in Worte gefasst und dann musikalisch umgesetzt werden soll. Unter Anleitung mag das zweifelsfrei gelingen, aber was treiben die Kinder dann daheim? Tier- und Wettergeschichten gibt es mittlerweile in jeder Klavierschule; der improvisatorische Moment ist nicht mehr wegzudenken, aber er setzt auch ganz eindeutig Grenzen, weil er sehr schnell erschöpft ist. Wie geht es nach einigen Wochen Bilderbuch weiter? Die Kinder dürften immer noch vier Jahre alt sein und wollen schließlich weiter beschäftigt werden. Und dann müssen sie sich doch mit dem Thema Noten befassen, wenn sie hier ein Instrument lernen und nicht nur spielen wollen. Das Spielen kann nur ein Kennenlernen des Instruments bedeuten, ein Austesten verschiedenartiger Klangkonstellationen, das Sensibilisieren für „passende“ Rezeption und eine erste Erfahrung damit, was der Anschlag der Tasten bewirkt. Das ist ja nicht wenig und darauf lässt sich sinnvoll aufbauen. 

Reinhard Gagel: Tagträume und Nachtmahre, Breitkopf Pädagogik, EB 8660

Der Untertitel „Neun Klangbilder für Klavier mit Materialien zum Improvisieren“ präzisiert schon im Ansatz, worauf Gagel hinaus will: Er möchte nicht nur etwas „vormachen“, er zeigt auch, wie das „Nachmachen“ funktionieren könnte. Ersteres geschieht durch kurze, ausnotierte Stücke. Mithilfe von kleinen Fotografien in schwarz-weiß (Jakob Schröck) gelingt ein Eintauchen in die programmatisch vorgegebene Situation. Das muss man erst mal auf sich wirken lassen, bevor man sich, soweit man das will, den Anleitungen nähert. Schritt für Schritt lässt sich testen, was machbar ist. Dabei werden die eigenen spieltechnischen Möglichkeiten und kreativen Fähigkeiten das Ergebnis beeinflussen; für Anfänger im Klavierspiel also ungeeignet. Ergänzend zu den Improvisationsmustern werden Fachbegriffe erläutert; eine von Gagel eingespielte CD dient als Orientierungshilfe. Ein Heft also fürs „stille Kämmerlein“, zur Selbstfindung in Tönen.

Ignaz Moscheles: 24 Studien zur höheren Vollendung op. 70, Schott Frères, SF 6717

Moscheles leitete bis zu seinem Tod 1870 die Klavierklasse am Leipziger Konservatorium. Bevor ihn Mendelssohn an die von ihm gegründete Ausbildungsstätte rief, wirkte Moscheles mehr als zwei Jahrzehnte an der Royal Academie of Music. Er gehörte zu den wenigen Pianisten seiner Zeit, die ihre Erfahrungen institutionell angebunden weitergeben konnten. Bereits 1827, also am Anfang seiner Lehrtätigkeit, lagen die Studien gedruckt vor. Es liegt nahe, dass sie auch für die eigene pädagogische Arbeit herangezogen wurden; Moscheles war als Lehrer sehr begehrt und die Liste namhafter Schüler ist lang. In den vorliegenden Studien kam es Moscheles nicht auf Quantität an. Die Zahl 24 lässt sogleich einen Verweis auf die Tonarten zu, und diese Anzahl schien ihm auch zu genügen, um das seiner Meinung nach notwendige spieltechnische Rüstzeug mit den zur Verfügung stehenden Tonarten paaren zu können. Das Ergebnis sind nicht Übungen schlechthin, sondern Miniaturen, die als Vorwegnahme zahlreicher romantischer Vortragsstücke anzusehen sind. Hinweise darauf finden wir in der Gewichtung auf musikalisch-ausdrucksvolle Aspekte, die den meisten Lehrwerken dieser Zeit abgehen. 

Johannes Brahms: 51 Übungen für Klavier, G. Henle Verlag, HN 27

Philipp Spitta bezeichnete die Übungen als „wahre Grausamkeiten“. Brahms forderte, allerdings etwas ironisch, in einem Brief an Simrock, das Titelblatt der Erstausgabe mit allerlei Folterinstrumenten zu versehen. Im Zeitalter der Technikbesessenheit lief man zudem ständig Gefahr, dass die eine oder andere Übung bereits jemand Anderem eingefallen sein könnte. Tatsächlich werkelte Brahms sehr lange an diesem Lehrwerk (ohne Opuszahl!) herum, bis es schließlich in seiner Komplexität 1893 erscheinen konnte. Die Entstehungsgeschichte kann man sehr ausführlich bei Camilla Cai nachlesen. Da stellt sich die Frage, ob bei der Fülle bereits vorhandener Ausgaben überhaupt ein Handlungsbedarf bestand. Der Begriff „Übung“ präzisiert die Absicht: Bestimmte Grundmuster werden „gerückt“ (chromatisch oder leitermäßig), was eine Ausnotierung zumeist erübrigt.Brahms kommt ohne Umschweife zur Sache, die Übungen sind kurz und bündig und bedienen sich des monotonen Repetitionscharakters. Es scheint nichts zu fehlen, was man für eine vollkommene Technik zu damaliger Zeit brauchte. So gesehen orientiert sich die Technik immer an den Anforderungen, die neue Kompositionen an sie stellen.

Carl Czerny: Schule des Legato und Staccato op. 335, Schott, ED 20416

Etüden sind Sperrbezirk – nur zugänglich für Personen, die sich pianistischer Schwerstarbeit beugen wollen. Czerny hat seine Übungen mit Schwierigkeiten getrüffelt, aber die Sorgfalt auf alle Bereiche ausgerichtet. Hier geht es primär um Klangqualität. Das Training ist zudem sehr effizient, weil im Umfang sehr überschaubar. Zu Unrecht gerät das Lehrwerk Czernys gegenüber den später entstandenen romantischen Etüdensammlungen etwas ins Abseits. Der Herausgeber Klaus Wolters mag da richtig liegen, wenn er bemerkt, dass es gerade hier manches musikalische Kleinod zu entdecken gibt. Er recherchierte akribisch genau und gibt wertvolle Hinweise zum Üben, die unbedingt gelesen werden sollten.

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