„Wie komme ich zur Oper?“, fragt ein junger Mann einen älteren Passanten. Der mustert ihn von oben bis unten und spricht dann: „Üben, junger Mann, einfach üben!“ Dieser etwas betagte Witz, umformuliert in die Frage: „Wie komme ich dazu, gut vom Blatt zu spielen?“ hat ganz genau dieselbe Antwort: „Üben!“ So wie das Erlernen einer Sportart, einer neuen Sprache oder eines Instruments kann auch die Fähigkeit des Vomblattspiels durch systematisches Üben von Anfang an trainiert und immer weiter verbessert werden.
Gerade für Pianisten ist es ja besonders wichtig, vom Blatt spielen zu können, nicht nur, um die Sololiteratur schneller kennen zu lernen, sondern auch um einmal jemanden zu begleiten oder mit anderen zusammen im Ensemble zu spielen. Häufig ist gerade dies besonders erwünscht. Da ist es doch schön, wenn man das auch kann! Bisher führte die Disziplin „Vomblattspiel“ im Instrumentalunterricht eher ein Schattendasein. Bei bestimmten Aufnahmeprüfungen an Musikhochschulen, wie zum Beispiel Schulmusik oder Dirigieren, wird zwar Primavista-Spiel verlangt, aber da sind die zukünftigen Studenten pianistisch meist schon relativ weit fortgeschritten.
Ganz anders ist die Situation beispielsweise in England. Im Rahmen der alljährlichen „Grade“-Prüfungen des Associated Board oder anderer Organisationen, wie Guildhall, ist neben dem Literaturspiel, der Gehörbildung und der Technik das „Sight-Reading“ wichtiger Bestandteil der jährlichen Prüfungen, an der vor allem Kinder und Jugendliche teilnehmen. Prinzipiell ist es beim Vomblattspiel ja erforderlich, von Anfang an ein „Griffgefühl“ zum Beispiel für Lagen und Intervalle zu entwickeln, weil beim Spielen nicht auf die Tasten gesehen werden kann. Zum anderen ist es – vor allem für jede Form des Zusammenspiels mit anderen Musikern – ganz wichtig, auch bei Unsicherheiten oder Fehlern immer weiter zu spielen, beim „Aussteigen“ zumindest weiter zu zählen um dann irgendwann wieder „einsteigen“ zu können. Der englische Komponist Paul Harris, unter anderem Verfasser einer Blattspielschule („Improve Your Sight-Reading!“), hat hierzu zwei „Golden Rules“ (goldene Regeln) formuliert: 1. Always count (immer zählen)! 2. Never stop (nie aufhören zu spielen)! Für die ersten Blattspielübungen im Unterricht empfiehlt sich das gerade erschienene „Piano-Orchester“ von Hans-Jürgen Neuring mit je einem Heft für Schüler und Lehrer sowie einer CD zum Mitspielen.
Im Schülerheft finden sich 30 ganz kurze einstimmige Stücke, ausgehend von c’ bis zum Fünftonraum, in Violin- und Bassschlüssel. Dazu gibt es im Lehrerheft eine Klavierbegleitung und eine zweite einfache Stimme. Das Werk ist eigentlich als Schule für den Gruppen- und Klassenunterricht an einem Klavier konzipiert, aber mit seinen fantasievollen Texten zum Mitsingen, den gut klingenden Klavierbegleitungen und dem großen Notendruck ebenfalls sehr gut für das Vomblattspiel geeignet, gerade auch bei jüngeren Kindern (Eine ausführlichere Besprechung folgt.).
Vom selben Autor ist seit Jahren die Reihe „Kla-Vier-Händig“ mit vierhändigen Stücken im Fünftonraum für das Blattspiel sehr zu empfehlen (vgl. Klaus Börners Rezension in der nmz 2/2006). Das dreibändige Werk „Vom-Blatt-Spiel auf dem Klavier“ (Piano Sight-Reading/Déchiffrage pour le piano) von John Kember ist eine systematische Schule des Vomblattspiels, die kürzlich bei Schott in einer dreisprachigen Ausgabe (englisch, deutsch, französisch) erschienen ist. John Kember, selbst langjähriges Mitglied der Prüfungskommissionen des englischen Associated Board, hat aus der Praxis heraus kurze, anfangs meist achttaktige Übungen entwickelt, die sehr einfach beginnen, deren Schwierigkeitsgrad kontinuierlich ansteigt und die den Schüler in die Lage versetzen sollen, sich nach und nach in den verschiedensten Tonarten, Taktarten und Musikstilen zu Hause zu fühlen. Viele Übungen sind hilfreich kommentiert. Die Notation erfolgt in der üblichen Anordnung: rechte Hand im Violinschlüssel, linke Hand im Bassschlüssel.
Band 1 beginnt mit einstimmigen Melodien im Fünftonraum, die nach und nach rhythmisch schwieriger werden, am Ende des 1. Bandes sind einige zweistimmige Übungen zu finden. In Band 2 wird die Unabhängigkeit der Hände geübt und der Tonraum behutsam erweitert, die Tonarten haben hier maximal zwei Vorzeichen. In Band 3 finden sich kleine Charakterstücke verschiedenster Art, dazu Aufgaben zur Transposition und zur Klavierbegleitung. Wie Kember in seinem Vorwort betont, ist ihm ganz wichtig, die Schüler – gleich welchen Alters – zum selbstständigen Lernen zu motivieren. Er legt überzeugend dar, dass Vomblattspiel regelmäßig geübt werden sollte, um zum Erfolg zu führen („sight-reading … should become a regular part of a student’s routine each time they go to the piano …“). Um die Fähigkeiten des Vorauslesens zu trainieren, betont er immer wieder, sich jedes Mal vor dem Spiel der Übungen zu vergegenwärtigen, womit man es zu tun hat. Zu erfassen sind Tonart, Takt, besondere Rhythmen und wiederkehrende Spielfiguren.
John Kember gibt hier oft Hilfestellung, erläutert Ton- und Taktarten und lässt es auch nicht fehlen an hilfreichen Merksätzen. Sicherlich ist die Schule nicht nur für das eigenständige Lernen, sondern gerade auch für den Klavierunterricht sehr gut geeignet. Sie ist vor allem auch dann gut einsetzbar, wenn die Schüler – was ja gelegentlich vorkommt – im Unterricht nicht optimal vorbereitet sind! Man kann einfach anfangen und losspielen; die Schüler machen erfahrungsgemäß sehr gern mit. Eine CD zum Mitspielen, bisher noch nicht vorhanden, wäre sicherlich eine sinnvolle Ergänzung.
Einen anderen Weg, das Vomblattspiel zu üben, geht Eliska Kleinová, die ihre zur Zeit leider vergriffene „Schule des Vomblattspiels in Form des Vierhändigspiels“ schon 1986 veröffentlicht hat. Eliska Kleinová ist der Meinung, dass die Übung im Vomblattspiel besonders in der Form des Vierhändigspiels mit dem Lehrer (oder jemand anderem, der schon fortgeschritten ist und gut vom Blatt spielen kann) besonders sinnvoll ist. Dadurch ist es nämlich leicht möglich, das für das Vomblattspiel wichtige „Immer-Weiterspielen“ zu üben, selbst wenn man den Faden verloren hat oder ins Stocken gerät. In einem sehr lesenswerten Vorwort erläutert Eliska Kleinová die Voraussetzungen ausführlich, die gutes Vomblattspiel bedingen und geht auf die instrumentenspezifischen Anforderungen des Klaviers ein. Die „Schule des Vomblattspiels“ ist eine wahre Fundgrube leichter vierhändiger, an anderer Stelle nicht ohne weiteres zugänglicher Literatur. Die Stückauswahl, nach Schwierigkeitsgrad geordnet, setzt sich vor allem aus Werken osteuropäischer Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts zusammen (Fibich, Szelényi, Oginski, Majkapar u.a.), aber auch zum Beispiel Diabelli ist vertreten. Der Schülerpart ist meist im Primo, gelegentlich auch im Secondo zu finden.
Die Notation erfolgt auf die übliche Weise: Primo auf der jeweils rechten Seite mit zwei Violinschlüsseln, Secondo links mit zwei Bassschlüsseln. Stücke im Fünftonraum (beim Schülerpart) nehmen in dieser Schule den Hauptbestandteil ein. Man staunt, wie viele Komponisten sich in den letzten 200 Jahren sich mit dieser Art Literatur auseinandergesetzt haben! Die Schule beginnt mit kleinen Melodien für eine Hand im Violin- oder Bassschlüssel; es folgen Unisono-Stücke im Fünftonraum in den verschiedensten Tonarten und ansteigenden rhythmischen Schwierigkeiten. Im V. Kapitel wird die Unabhängigkeit der Hände, immer noch im Fünftonraum, gefördert, im VI. Kapitel finden wir Stücke mit Lagenänderungen, aber ohne Daumenuntersatz, das VII. Kapitel schließlich enthält leichte vierhändige Bearbeitungen von Ausschnitten bekannter Opernarien oder Orchesterstücke. Das Fazit dieser Schule ist für mich: Musizieren macht Freude! Die umfangreiche Literaturauswahl – es sind 146 Stücke – ist nicht nur fürs Blattspiel geeignet, sondern auch für Unterricht und Konzert. Eliska Kleinovás Schule könnte daher – bei einer Neuauflage – sicher einen festen Platz im Klavierunterricht einnehmen. Ihr Werk und auch das oben besprochene von John Kember ergänzen sich nämlich sehr gut.
Eine weitere Bereicherung der Blattspiel-Literatur bieten nach wie vor die kurzen, seit vielen Jahren sehr empfehlenswerten vierhändigen Stücke im Fünftonraum (Primo) von Anton Diabelli, Melodische Übungsstücke op. 149 und Cornelius Gurlitts Der Anfänger op. 211. Sie klingen schön und führen ganz nebenbei in die verschiedensten Tonarten, Taktarten und Formen ein. Außerdem sind sie nach wie vor bestens geeignet für Unterricht und Konzert.
Hoffen wir, dass wir mit all dieser interessanten Literatur viele Schülerinnen und Schüler ausbilden können, für die das Primavista-Spiel ein ganz selbstverständlicher Bestandteil ihres Klavierspiels wird!
- Hans-Jürgen Neuring: Das Piano-Orchester, Ein Gruppenprojekt für Grund- und Musikschulen; Lehrer- und Schülerheft, Lugert 6007/6008 (2008)
- Ders.: Kla-Vier-Händig, Heft I bis XIII, Noetzel Edition
- John Kember: Piano-Sight-Reading (Vom-Blatt-Spiel auf dem Klavier), Heft 1–3 ; Schott
- Eliska Kleinová: Schule des Vomblattspiels in Form des Vierhändigspiels, Editio Supraphon Prag bzw. Editio Bärenreiter Prag (zur Zeit vergriffen)
- Paul Harris: Improve Your Sight-Reading! A Workbook for Examinations, Piano Grade 1-8, Faber Music (in englischer Sprache)
- Anton Diabelli: Melodische Übungsstücke op. 149 , hrsg. v. Monika Twelsiek, Schott (in Kürze auch mit CD); Edition Peters (mit CD)
- Cornelius Gurlitt: Der Anfänger op. 211 (Schott)