Jean Sibelius: 1. Symphonie e-Moll op. 39, Partitur (ISBN 9790004212158), Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
Gesamtausgabenprojekte beanspruchen immer besonderes Interesse und verpflichten die Musiker weltweit, sich mit den Ergebnissen auseinanderzusetzen. Entsprechend kann man sich stets einen Schub für den Komponisten erhoffen, wenn eine solche Arbeit in Gang gesetzt ist. Jean Sibelius’ Werke sind noch 18 Jahre lang geschützt, und so lange haben jetzt die beteiligten Verlage mindestens Zeit, exklusiv die Früchte der herausgeberischen Mühen zu ernten. Auf wen soll ein Verlag heute als Geldmaschine setzen? Langfristig gesehen nur in den seltensten Fällen auf die Beiträge, die bei internationalen Festivals Neuer Musik präsentiert werden. Die mögen als Aufträge ein brauchbares Tagesgeschäft sein, doch das meiste davon existiert dann nur noch als Katalogleiche weiter. Bleibt das Populäre oder, in seltenen Fällen wie bei Sibelius, Musik, die unmittelbare Eindringlichkeit mit höchstem Anspruch verbindet.
Insofern sind Rechte an Jean Sibelius ein fantastisches Pfand am heutigen Markt, und Breitkopf & Härtel hält einen großen Teil davon, darunter die Symphonien Nr. 1, 2 und 4, Kullervo, die Lemminkäinen-Legenden, En Saga, die Karelia-Suite, Finlandia und die Valse triste. Nun ist die Partitur der Ersten Symphonie als praktische Ausgabe auf der Grundlage des Gesamtausgaben-Bandes erschienen. Der detaillierte Kritische Bericht ist hierin nicht enthalten, doch eine auszugsweise Auflistung der wesentlichen Unterschiede zur bisher geläufigen Druckausgabe wäre grundsätzlich mehr als wünschenswert. Das Vorwort ist, wie bei den anderen Sibelius-Neudrucken, sehr informativ, was die Umstände der Entstehung und Uraufführung betrifft, und befasst sich ansatzweise mit Fragen der Aufführungspraxis, wie vor allem Robert Kajanus und Jussi Jalas sie in direkter Anlehnung an Sibelius in Ton und Wort beantworteten (sehr interessant die Untersuchung zum nicht nachweisbaren Einfluss Alexander Borodins sowie die Verweise auf Sibelius’ abschätzige Einstellung zur Metronomisierung, die er höchstens als Notbremse gegen die allerschlimmste Entgleisung gelten ließ – und wann zieht man schon mal die Notbremse?).
Es wird noch einige Zeit dauern, bis die Studienpartitur (die mit den gleichen Begleitinformationen versehen ist) erscheint, was bei der Zweiten Symphonie, der Endfassung von En Saga, Luonnotar und – dies am wichtigsten! – dem Kullervo bereits geschehen ist. Den Koloss Kullervo, heute ein Klassiker, eines von Sibelius’ meistgespielten Werken, konnte man zuvor viele Jahrzehnte lang nicht in Partitur erstehen. Dringend zu raten im Sinne der Verbreitung des Stücks ist zu einer Studienpartiturausgabe des GA-Bandes der erratischen Tondichtung Skogsrået (Die Waldnymphe) op. 15, die Sibelius einst zrückgezogen hatte, bis sie 1996 in Lahti wiederaufgeführt wurde.
Die 1898/99 entstandene Erste ist Sibelius’ unausgewogenste Symphonie. Das gewaltige, ehestens an den „wilderen“ Tschaikowsky erinnernde Finale zerfällt in allen mir bekannten Darstellungen letztlich in zwei Teile, es scheint niemandem gelungen zu sein, einen Schlüssel zu finden, der die Energie der beiden gegensätzlichen Tempowelten in zusammenhängender Gestaltung zu vereinen vermöchte. Die Mittelsätze hingegen sind mehr als makellos gebaut, und der Kopfsatz ist nicht nur eine von Sibelius’ frischesten, abenteuerlichsten und mitreißendsten Kompositionen, sondern überhaupt einer der originellsten und unkonventionellsten Sätze in der Geschichte der Symphonie – ganz so, wie Pehr Henrik Nordgren, fraglos der authentischste Tonschöpfer Finnlands nach Sibelius, es ausdrückte: „It comes from where the wild tones are.“ Alleine dieser von Kraft überbordende Satz ist es schon wert, das Werk allerorten beständig im Repertoire zu führen.