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Wo unsauberes Greifen Spielvorschrift ist

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Neue Klaviermusik von Braun und Kagel für Kinder und Konzertpianisten
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Unter den vorgelegten Klavierwerken fand ich zwei, die mein Interesse in starkem Maße ansprachen, – eine Sammlung von Kinderstücken von Gerhard Braun und ein schwieriges, großes Konzertstück von Mauricio Kagel.

Unter den vorgelegten Klavierwerken fand ich zwei, die mein Interesse in starkem Maße ansprachen, – eine Sammlung von Kinderstücken von Gerhard Braun und ein schwieriges, großes Konzertstück von Mauricio Kagel.Gerhard Braun, 1932 geboreer Flötist und Blockflötist aus Stuttgart, hat von 1971 bis 1995 erfolgreich als Professor an der Musikhochschule in Karlsruhe gewirkt. Er ist darüber hinaus als Interpret, Leiter von Meisterkursen und als Herausgeber bekannt geworden. Als Komponist hat er bisher vornehmlich Musik für seine Instrumente geschrieben. Als sehr positive Überraschung – vor allem für Pädagogen – hat er in der Edition Gravis unter EG 659 eine kleine Sammlung von zwischen 1996 und 1998 entstandenen Klavierstücken für Kinder veröffentlicht; „Traumwelt“, das fünfte in dieser Reihe, liefert den Titel für das ganze Heft. „Traumwelt, 12 ‚leichte‘ und seltsame Stücke“ lautet die vollständige Bezeichnung des Werks, das der Komponist seinem Enkel Sebastian gewidmet hat; die ersten Silbenkombinationen des Kindes führten zum Namen des ersten Stücks: „Bumelit und Bumedak“. Die relativ einfachen und kindgerecht komponierten Sätze entsprechen einem Schwierigkeitsgrad, der etwa mit dem dritten Heft des Mikrokosmos von Bartók zu vergleichen ist. Sie umfassen – bis auf Nr. III – je zwei großzügig und sehr gut lesbar gesetzte Druckseiten; schade ist nur, dass in den beiden ersten Stücken umgeblättert werden muss.

Braun verlangt von seinen Spielern neben bloßem Tastenspiel einige inzwischen bekannte neuere Wege zur Klangerzeugung, – diese allerdings wohldosiert und in von einem Kinde zu bewältigenden Ausmaß. So kommt zum Beispiel Präparation vor (Abdämpfung mittels Gummikeilen) und der Einsatz eines Filzschlägels. Begriffe wie space-notation werden erklärt:
Bei der „space-notation“ (Nr. III und XII) richtet sich die Dauer eines Tones nach der Länge des Dauerbalkens. Die Sekundenangabe am Anfang des Stücks dient dabei als Orientierungshilfe. Das rechte Pedal ist durchweg in konventioneller Form genau eingezeichnet. In Nr. IX werden linkes und rechtes Pedal auch als Geräuschinstrumente eingesetzt; an diesen Stellen stört allerdings, dass das Symbol für das rechte Pedal tiefer notiert ist als das für das linke. Eine Zeichnung von Gerhard Braun hat als Grundlage für das ungemein ansprechende Titelbild gedient. Den kleinen Zyklus „Traumwelt“ von Gerhard Braun möchte ich unbedingt für den Klavierunterricht mit Kindern empfehlen.

Mauricio Kagel, 1931 in Buenos Aires geborener und seit 1957 in Köln ansässiger Komponist, legt in der Edition Peters unter Nr. 8874 sein „Passé Composé“ mit dem Untertitel „KlavieRhapsodie“ vor. Das zwischen 1992 und 1993 entstandene Werk umfasst 32 Druckseiten und wird ohne irgendwelche Zusatzgeräte nur an den Tasten gespielt. Der Komponist gibt eine Dauer von 20 beziehungsweise 21:30 Minuten an. Letztere Zeit gilt für den Fall, dass der Spieler von der Möglichkeit einer veränderten Schlussfassung Gebrauch macht und dabei szenische Elemente einfließen lässt: Im letzten Takt schaltet der Ausführende einen Kassettenrecorder oder einen anderen Tonträger per Fernbedienung unbemerkt ein, der innerhalb oder unterhalb des Flügels versteckt ist. Aus einem Lautsprecher soll – zusammen mit dem gespielten und in dieser Version allmählich verklingenden Schlussakkord – aus dem Stück ein leiser, durchsichtiger Teil erklingen, der vorher aufgenommen wurde. In seinem Kommentar zu dieser Stelle gibt Kagel einen Hinweis auf den Titel der Komposition: Gerade der unvollkommene Klang des eingebauten Lautsprechers wird hier der Atmosphäre einer „unbestimmten Vergangenheit“ am ehesten entsprechen. Unmittelbar nach dem Anschlag des letzten Akkords erstarrt der Pianist und bleibt in dieser Stellung bis zum Ausklingen der Einspielung. Kagel hat hier ein in freier Form geschriebenes, groß angelegtes Klavierwerk veröffentlicht, das an ältere Traditionen anknüpft. Es treten Motive beziehungsweise Themen, aber auch Spielformen auf, die zwar an die Vergangenheit gemahnen, aber – im Gesamtbild des Stücks – echten Kagel ergeben; Vergangenheit und Gegenwart vereinigen sich zu Zeitlosigkeit. Erheblich sind die technischen Anforderungen, die der Komponist an seine Interpreten stellt, die nicht zuletzt über Hände mit großer Spannweite verfügen sollten. In Takt 217 schreibt der Komponist vorsichtshalber „ossia: unsauber greifen“. – In „Passé composé“ beweist Kagel, dass er auch als Klavierkomponist ein wichtiger Repräsentant Neuer Musik ist; versierte Pianisten sollten sich mit diesem Stück beschäftigen.

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