Unter den Sowjetkomponisten, die nicht emigrierten, kennen wir Schostakowitsch, Prokofieff, Chatschaturjan, vielleicht Miaskowsky, Glière, Kabalevsky, zuletzt auch Weinberg. Große Meister wie Revol Bunin, Boris Tischtschenko oder Yevgeni Stankowitsch sind bislang unbekannt geblieben. Und doch, viele der bemerkenswerten, höchst unterschiedlichen Komponisten, die seit dem Ende der Sowjetunion auch in ihrer Heimat vergessen sind, müssen im Westen erst noch entdeckt werden. Vor vier Jahren erst trat ein Komponist posthum aus dem Dunkel der kompletten Anonymität, den manche Kenner seither als Giganten empfunden haben: Vsevolod Zaderatsky (gesprochen Saderazky mit stimmhaft weichem S) wurde 1891 in Riwne unweit des einstigen Lemberg in der heutigen Nordwest-Ukraine geboren (in einem Gebiet also, das stets polnisch-russisch-ukrainisch vermischt war und damit heute symbolisch für die absurde Spaltung der „neuen Weltordnung“ stehen kann).
Verhaftet, geächtet
Nach dem Studium bei Sergej Tanejew am Moskauer Konservatorium, wo er mit Alexander Skriabin befreundet war, wurde er 1915 Klavierlehrer des Zarensohns und designierten Thronfolgers Alexej Romanov in St. Petersburg. Im russischen Bürgerkrieg 1916–18 kämpfte er auf der Seite der Weißgardisten. Nach der Niederlage setzte er sein Studium in Moskau bei Michail Ippolitov-Ivanov fort. Er wurde ins südöstlich von Moskau gelegene Rjasan beordert, wo ihn 1926 seine zaristische Vergangenheit mit voller Wucht einholte: Er wurde verhaftet, und man vernichtete seine sämtlichen Kompositionen. Zwar gibt es auch in unseren westlichen Demokratien bis heute „schwarze Listen“, doch während diese außer Hindernissen im öffentlichen Dienst eher wenig ausrichten können, war man in den kommunistischen Diktaturen komplett der Behördenwillkür ausgeliefert.
1929 erhielt er die vorübergehende Genehmigung, wieder in Moskau zu leben. Doch wurde er ein zweites Mal inhaftiert und 1934 ins nordöstlich von Moskau gelegene Jaroslawl verbannt. Dort nahm man ihn unter dem Vorwurf, mit dem Schulorchester „faschistische Musik“ (Wagner und Strauss) aufgeführt zu haben, im Mai 1937 zum dritten Mal fest, und nun steckte man ihn in eines der berüchtigten „Gulag-Lager des Todes“ am Kolyma in Nordsibirien. Die wenigsten überlebten diese Haft, und die Angehörigen erfuhren nie, ob und wo sich der Betroffene befand. Zaderatskys Frau begab sich als Bittstellerin nach Moskau und reihte sich ein in die Schlange der Geächteten. Nach zwei Jahren wurde sie anscheinend erhört und ihr Mann wurde ohne Begründung freigelassen. Im Zweiten Weltkrieg lebten sie in Kasachstan, ab 1945 im nordukrainischen Schytomyr, dann in Jaroslawl, und schließlich wieder in Lemberg (Lwiw), ganz in der Nähe seiner Geburtsstadt.
Auf Telegrammpapier notiert
Zaderatsky starb am 1. Februar 1953, also einen Monat vor Stalin, und es hat in seinem Leben als Künstler bis zuletzt keinen Hoffnungsschimmer gegeben: Keines seiner Werke ab 1925 durfte je aufgeführt, geschweige denn verlegt werden. Vsevolod Zaderatsky existierte als Komponist neunzig Jahre lang (von denen er 28 Jahre noch lebte) einfach gar nicht. 2015 war es Jascha Nemtsov, der Zaderatskys 24 Präludien und Fugen in allen Tonarten für Klavier solo im an der tschechischen Grenze unweit Dresden gelegenen Gohrisch uraufführte und im selben Jahr die Ersteinspielung für Hänssler Profil besorgte. Diesen Zyklus komponierte Zaderatsky unter unvorstellbaren Bedingungen 1937–38 im Kolyma-Gulag. Weder gab es dort ein Klavier noch Notenpapier. Zaderatsky komponierte dieses monumentale Werk, dessen Gesamtaufführung über eine Stunde dauert, auf Telegrammformularen und anderen Zetteln.
Er hatte das Glück, dass er sowohl von den Mitgefangenen als auch offenbar von den Wärtern als Erzähler geschätzt und daher, soweit möglich, geschont wurde. Wenn man nun diese Präludien und Fugen hört, so kann man sich kaum vorstellen, dass eine derart vielgestaltig originelle, kühne und hochvirtuose Musik ohne jede äußere Hörhilfe komponiert wurde. Es ist übrigens anscheinend der erste derartige Zyklus der nachromantischen Ära; er entstand vor Hindemiths „Ludus tonalis“ (1942) und lange vor dem berühmten Zyklus von Schostakowitsch.
Bestechende Meisterschaft
Auch wenn Zaderatskys Präludien und Fugen bezüglich Kraft und Eigenart der musikalischen Sprache nicht ganz mit denjenigen von Schostakowitsch zu vergleichen sind, so ist sein „Wohltemperiertes Klavier aus dem Todeslager“ doch von bestechender Meisterschaft und Intensität und von einer für sowjetische Verhältnisse jener Zeit radikalen Modernität. Nun ist im Vertrieb von Schott die Erstausgabe von „Russian Music Publishing“ endlich auch hierzulande erhältlich, herausgegeben und mit einem informativen Vorwort und Analysen versehen von Vsevolod Zaderatsky jr. In fünf Fällen sind zusätzlich Erstfassungen erhalten, die ebenfalls abgedruckt sind, und außerdem sind Facsimile-Nachdrucke beigegeben, die eindrücklicher als alle Worte dokumentieren, unter welchen Bedingungen die Musik entstand. Pianisten mit analytischem Verstand und Neigung zur Fugenkunst sollten nicht mit der Anschaffung zögern.
- Vsevolod Zaderatsky: 24 Preludes and Fugues for piano solo (Complete Works for Piano solo, 1937–1939, Volume 1). Russian Music Publishing/Schott Music RMP 2601