Es klingt dunkel, aber nicht unbedingt düster. Eine Blockflöte tänzelt melancholisch um die ruhig abwartende Linie einer anderen Blockflöte. Eigentlich ist Violeta Dinescus „Immaginabile“ (1993) ein Solostück – für „Trajektorie“, die bei DreyerGaido erschienene Kammermusik-CD mit Werken Dinescus, hat die Blockflötistin Gudula Rosa auf Wunsch der Komponistin aber zwei Spuren aufgenommen: wie selbstverständlich agiert sie mit sich selbst.
Um es dem geheimnisvoll-mythischen Charakter der beiden Blockflöten und dem der restlichen Stücke („In lingua ignota.“ von 2015 und das namensgebende „Trajektorie I-XI“ von 2018) anzugleichen, hat Dinescu auch ihr eigentlich humorvolles Klavierlied „Mein Auge ist zu allen sieben Sphären zurückgekehrt …“ überarbeitet und das Klavier durch ein Akkordeon ersetzt. Herausgekommen ist eine charakterlich einheitliche Zusammenstellung mit Werken für Akkordeon, Stimme und Blockflöten – so stimmungsvoll und schlüssig wie „Immaginabile“ wirken aber nicht alle Stücke.
In ihrem Werk greift Dinescu häufig aus der Perspektive einer zeitgenössischen Komponistin in ihre eigene rumänische oder in die mehrere hundert Jahre zurückliegende Vergangenheit. Dabei lebt ihre oft mathematisch angelegte Musik von der Freiheit, die sie den Interpret*innen lässt. Dinescus Notation hält sie phasenweise so offen, dass die Musiker*innen immer wieder improvisieren müssen. Auch die Stücke auf „Trajektorie“ bekommen dadurch eine Lebendigkeit und Natürlichkeit, die sich hervorragend mit ihrem archaisch-urtümlichen Wesen verträgt.
In „In lingua ignota“ entsteht dieser Charakter durch einfache Melodik und einen altsprachlich anmutenden Text. Dinescu adaptierte dafür die gleichnamige „Fantasiesprache“ (rund 1.000 erfundene Wörter) von Hildegard von Bingen. Leider gibt das Booklet über den ganzen Text des Stückes für Akkordeon und Stimme (ad libitum) keine Auskunft. Auch hat das minimalistisch angelegte „Lingua Ignota“ musikalisch durchaus seine Längen, wenn auch einige Stellen mit dem Zusammenspiel von Akkordeon (Marko Kassl) und der variablen Klanggebung durch die Sopranistin Irene Kurka eine packend-beschwörende Atmosphäre erzeugen.
Mindestens genauso atmosphärisch, aber dramaturgisch noch ausgereifter, ist die bereits beschriebene Fassung von „Immaginabile“. Daran knüpft auch „Trajektorie I-XI“ für Akkordeon und Blockflöte(n) an: Mit einem Sinn für die große Form entwickeln und formen Kassl und Rosa das an einen Ritus erinnernde Material über die elf Abschnitte hinweg.
Der Text zu „Mein Auge ist zu allen sieben Sphären zurückgekehrt …“ ist ein Ausschnitt aus Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“ in Italienisch und in der deutschen Übersetzung. Tenor Markus Schäfer gibt seiner Stimme dafür einen teils irren und durchaus ironischen Charakter. Einen Kontrast liefert die Begleitung. Dabei wirken in dieser Aufnahme mit Akkordeon die schwellenden Akzente untergründiger, die Linien persönlicher und das ganze etwas ernster und bedrohlicher als mit Klavier. Das Stück ist auch in der Originalfassung mit Klavier keine Kabarettnummer, der komödiantische Aspekt („Und diesen Rat, die Welt gering zu achten,/ halt ich für gut, und wer nach andrem trachtet,/ den kann man wahrlich recht und tüchtig nennen.“) wird vom sachlicheren, teils perlenden, teils springenden Klang des Klaviers aber besser transportiert.
Auch wenn sich die angeglichenen Klangfarben über die Spieldauer von 71 Minuten etwas abnutzen, kann man mit „Trajektorie“ einen Einblick in die verwunschene Seite von Violeta Dinescus Werk bekommen, das den Geist hie und da auf fantasievolle Reisen schickt.
Violeta Dinescu. Trajektorie
In lingua ignota. Hommage à Hildegard von Bingen (2015); Immaginabile (1993); Trajektorie I-XI (2018); Mein Auge ist zu allen sieben Sphären zurückgekehrt … (2017).
- Gudula Rosa (Blockflöte);
- Marko Kassl (Akkordeon);
- Irene Kurka (Sopran);
- Markus Schäfer (Tenor)
DreyerGaido, 2021