Es ist ein sich Fallenlassen in über tausend Jahre Musikgeschichte. Anders ausgedrückt: Barry Guy, Kontrabass, und seine Partnerin Maya Homburger, Violine, markieren in ihrem Spiel persönlich bedeutsame Stationen innerhalb dieser Zeitspanne. Die gleichberechtigte Beschäftigung mit alter und neuer, mit überlieferter, komponierter und improvisierter Musik ist ohnehin ein Anliegen dieses künstlerisch wie privat miteinander verbundenen Paares.
Barry Guys musikalische Sozialisation erfolgte maßgeblich in den späten 60ern, wo der radikale künstlerische Aufbruch neue Visionen bei der Musik und eine Hinwendung zu den unverbrauchten alten Musikkulturen mit einschloss. Seine Partnerin ging einen ähnlichen Weg und ist heute eine hoch profilierte Barockviolinistin.
„Tales of Enchantment“ heißt die neue Duo-CD der beiden, und der Hörer wird mitgenommen auf eine faszinierende Passage durch einzelne miteinander verwobene Stilepochen und Ausdruckswelten. Alt und neu stehen dabei so oft direkt einander gegenüber, berühren sich. Etwa eine karge Hymne aus dem 9. Jahrhundert „Veni Creator Spiritus“ mit einer achtteiligen Suite von Barry Guy, welche visuelle Eindrücke aus der Malerei wiederspiegelt. Lupenrein intonieren Maya Homburger und Barry Guy einen tief spirituellen Gesang, und Guy schwärzt mit seinen abgrundtiefen, auf bewusst rau eingefärbten Basstönen immer wieder den Hintergrund. Das ist ätherisch und vorsichtig, zugleich aber auch roh und heftig.
Den Bildern von Max Bill stellt Guy ähnlich unmittelbare, konkrete Klanggesten gegenüber – das zieht weiter hinein in den Kosmos aus spielerischen Möglichkeiten, den diese Konfrontation eines sehr hohen mit einem sehr tiefen Instrument eröffnet. Sämtliche Geniestreiche, mit denen Barry Guy zur Revolutionierung des Spiels auf dem Tieftöner beitrug, scheinen hier auf engstem Raum konzentriert und sind vor allem – im Gegensatz etwa zu Barry Guys Freejazz-Eruptionen – aus einem Zustand tiefer Ruhe heraus erfahrbar. Da federt der Bogen auf den Saiten, wird der Ton sphärisch verzerrt durch extensives „sul ponticello“- Spiel nahe dem Steg oder perlen Pizzicati und explodieren Tonkaskaden. Und alles wirkt so treffsicher logisch, so tiefempfunden in jedem Moment.
Heinrich Ignaz Franz Bibers „Mysteriensonaten" stellen einen gewissen Ruhepol in dieser Aufnahme dar. Die Violine singt, schwelgt und ziert in filigranem Geflecht aus - während Guy machtvolle Tiefen auslotet, mit Arpeggien imaginäre Kalligrafien zeichnet oder eine beredte zweite Stimme im Kontrapunkt hinzu treten lässt. Ungewöhnlich ist diese Konstellation. Trotzdem lässt gerade die hier in jedem Moment hörbare freie Geisteshaltung diese Barockinterpretation wieder so vollendet, so unverbraucht daher kommen. Und die Kunst dieses Duos liegt daran, die Interpretation dieser komponierten Musik nahtlos dem Spiel mit freier Geste bis zum Geräusch zu öffnen. Aus Klang wird immer wieder Sound.
Bach selbst, der ja so oft als geistige Mitte und Bezugspunkt von Musikern thematisiert wird, die zwischen alt und neu unterwegs sind, kommt nur indirekt ins Spiel - nämlich in Györgi Kurtags Bach-Hommage, die das puristischste, formstrengste Stück Musik auf diesem Tonträger ist.
So durchgeistigt dieses Gesamtkonzept anmutet, so unmittelbar und sinnlich wirkt dieses aufgenommene Zusammenspiel. Wie vertraute, Wärme spendende Inseln im abstrakten muten die Barock-Parts beim ersten Hineinhören an. Das weitere, viel innere Ruhe erfordernde Hören lässt immer stärker auch die freieren Kompositionen aus ihrer musikalischen Gegenwart heraus sprechen. Beides wird eins, so wie alt und neu im gemeinsamen künstlerischen Leben von Maya Homburger und Barry Guy ebenfalls eins geworden sind. Kunstvoller lassen sich Verbindungslinien wohl kaum legen.