Bei der Verleihung des Jahrespreises der Deutschen Schallplattenkritik durch Eleonore Büning im Vorsitz von 160 unabhängigen Kritikern und im Gespräch mit den Preisempfängern war beim Streaming der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie nicht davon die Rede. Trotzdem brachten es die Mezzosopranistin Olivia Vermeulen und der Pianist Jan Philip Schulze im letzten Satz ihrer Lied-Anthologie „Dirty Minds“ (Schmutzige Gedanken) im Booklet-Text auf den Punkt: „Die Tatsache, dass erotische Abgründe, Begierden und Traumata immer der Anlass zu großer Kunst waren, darf nicht verleugnet werden – ebenso wenig wie die Tatsache, dass es Kunst und Musik ohne ‚schmutzige Gedanken‘ nicht gäbe.“
Im Gespräch mit Eleonore Büning gab Olivia Vermeulen stimmtechnische Herausforderungen im Sprung zwischen Schubert-Melodien und den deklamatorischen Passagen Hanns Eislers, deren Gefahren nicht nur in deklamatorischen Forte liegen, zu. Ihr Begleiter und künstlerischer Treibstoff-Lieferant Jan Philip Schulze erhielt erste Anregungen zu der unverhohlen deutlichen CD-Anthologie „Dirty Minds“ im Unterricht an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Dort leitet er Studierende an, latente Ebenen von Texten und deren Vertonungen aufzuspüren und dieser dann in ihren eigenen Interpretationen zu berücksichtigen. Vermeulen bestätigt, dass gerade derartige motivische und symbolische Ambivalenz durch Text und Musik in Werken aller Epochen spannende Reizzonen der Ausgestaltung schaffe: Minimale Veränderungen von Kolorit und Klima eines Liedes mit erotischem bzw. sinnlichem oder emotionalen Sujet kommen einem Erdrutsch gleich.
So gelingt Vermeulen und Schulze in diesen Aufnahmen aus dem Deutschlandfunk Kammermusiksaal in Zeiten von Cancel Culture, in der es immer häufigeren Gleichsetzungen der inhaltlichen Aussage eines Kunstwerks und der Gesinnung seiner geistigen Urheber kommt, ein subversiver Akt gegen die vor allem im deutschen Sprachraum elitäre Funktionalisierung des sogenannten Kunstlieds. Dieser geht weit über die erotischen Sujets hinaus. Die Mezzosopranistin und der Pianist opponieren gegen das Axiom der Musikkritik, dass es von bestimmten Interpreten-Konstellationen nur eine gültig gemeißelte Darbietungsform geben könne, bis in einer nächsten Karriere- und Promotionsetappe die nächste unumstößliche Interpreten-Glaubenswahrheit folgen wird. Also ist es in Schuberts „Heideröslein“ op. 3/3 D. 257 durchaus von der Gestimmtheit des Publikums und künstlerischer Tagesverfassung abhängig, wie stark und wehrhaft das Röslein zusticht, bevor es der Knabe doch noch bricht. Vermeulen und Schulz gehen – noch einmal Schubert – davon aus, dass „Die junge Nonne“ mit dem Gang zum Glockenturm den Freitod aus ihrem nach außen so wohlgeordneten Leben wählen wird. Wer weiß... Vermeulen nimmt Eisler-Lieder weniger röhrend als in der Diktion pracht- und klangvoll, Debussys Bilitis-Lieder allenfalls etwas weniger lockend als etwa Régine Crespin und Véronique Gens. Es sei den Hörern überlassen, ob das sängerische Physiognomie oder Ausdruckswille ist.
Die Programmfolge räumt also auf mit dem Vorurteil, dass die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in der tönenden Benennung erotischer Eindeutigkeiten wenig absichtsvoll und wissend gewesen sei. Robert Schumann war sich über die Eindeutigkeit dessen vollauf bewusst, was er seiner Verlobten Clara Wieck mit der Vertonung von Heinrich Heines „Lotusblume“ im Zyklus „Myrhen“ als Hochzeitsgabe überreichte.
Das Erstaunen über die Erotik in der elitären und heute gern zum Kunstlied verbrämten, dabei offenen Gattung Lied zeigt vor allem, wie schwer man sich noch immer in der Klassischen Musik und deren Promotion mit erotischen Gegenständlichkeiten tut, ausgenommen deren Bühnengattungen. Schubert, Hugo Wolf, Johannes Brahms, Schumann und Mozart hatten Krankheitsverläufe, die man heute in Zusammenhang mit Syphilis-Ansteckungen diagnostiziert. Insofern ist „Dirty Minds“ auch ein wunderbar ehrliches Projekt gegen im Klassikbetrieb gerne praktizierten Auslassungen.
Die CD zeigt überdies Konventionen verschiedener Zeiten im Aussprechen erotischer Blessuren, Begehrlichkeiten und Basisbedürfnisse. Damit verfahren Vermeulen und Schulze genau in den Strategien, wie sie Manfred Schneider in seiner Studie „Liebe und Betrug. Die Sprache des Begehrens“ (1992) vom Mittelalter bis kurz vor dem Ausbau des WWW exemplifizierte. In Pigors und Benedikt Eichhorns „Es geht nur um Sex heute nacht“ ist das Ziel - passend zur tendenziellen Entliterarisierung in der Kommunikation – die fast wortlose Anbahnung einer sexuellen Begegnung zwischen (fast) Unbekannten.
Durch hohe Subtilität zeichnet sich Vermeulens und Schulz‘ Konzeptalbum auch darin aus, dass sie vokale Verdreckung bzw. die ungestüme Pranke zur künstlerischen Darreichung sinnlicher Paargymnastik und ihrer tödlichen bis stigmatisierenden Auswirkungen vermeiden. Sie agieren eher wie Mafiosi und Krawattentäter auf dem Weg zum nächsten Kavaliersdelikt. Die pornographische Schundarbeit machen andere, aber Vermeulen und Schulze erscheinen an den fiktiven Austragungsorten sexueller Leidenschaften, Leiden und Lustbarkeiten mit gestärktem Kragen und textilen Schnitten, in denen sich die Körperformen deutlich abzeichnen – frei von Schlüpfrigkeit, Bigotterie, Entrüstung oder Sensationsgier. Also zeigt dieses Album betreffend Methodik, Didaktik und vor allem im Umgang mit Sexualität jenen freien Geist, der unserer Gesellschaft an den Rändern zu entgleiten droht. Fa-bel-haft!
- Ab Sonntag, 6. Juni 2021, 18.00 Uhr: DIRTY MINDS - Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik (PdSK). Ein lustvoll eindeutig-zweideutiges Programm mit Olivia Vemeulen (Mezzosopran) & Jan Philip Schulze (Klavier). Preisverleihung und Gespräch mit Eleonore Büning (Vorsitzende PdSK): https://www.ihwa.de/index.php/de/liedbuehne
- Dirty Minds. Lieder von Schubert, Purcell, Eisler, Wolf, Schumann, Pigor/Eichhorn, Schönberg, Berg, Brahms, Debussy, Heggie, Bolcom, Weill – Olivia Vermeulen (Mezzosopran), Jan Philip Schulze (Klavier) – Challenge CC72835