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Totenklage und Auferstehungsgesang: CD-Tipps zur Karwoche mit Palestrina, Keiser, Caldara und Isaac

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Wir sprechen heute noch umgangssprachlich von „Jeremiaden“: Die im Alten Testament enthaltenen Klagelieder des Propheten Jeremias, welche in 3 x 3 = 9 Textblöcke aufgeteilt (die 9 galt als die heiligste Zahl) zu Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag liturgische Verwendung finden, haben ungezählte Komponisten zu eigenen Versionen inspiriert.

Die einzelnen Lamentationen eröffnet ein reich ausgeschmückter Buchstabe aus dem hebräischen Alphabet, bevor Verfehlungen des Volkes Israel gegeißelt werden, die jeweils in die ritualisierte Ermahnung münden: „Jerusalem, Jerusalem, convertere ad Dominum Deum tuum!“ („...bekehre dich zum Herrn, Deinem Gott!“)

Palestrina (1525-94) hat die Klagegesänge gleich dreimal in Musik gesetzt – das 14-köpfige belgische Laudantes Consort hat nun die dritte Version in all ihrer ergreifenden Schlichtheit eingespielt, hinter der sich die höchste Kunstfertigkeit verbirgt. Palestrinas stets wohlklingender Vokalstil der Hochrenaissance kam der päpstlichen Kapelle äußerst entgegen, da er als Anspielung auf die Harmonie des Engelsgesangs verstanden wurde. Folglich dürfen wir uns Palestrinas Lamentationen keinesfalls dramatisch aufgeladen vorstellen; nichts soll die Gemeinde der Gläubigen (die allerdings des Lateinischen mächtig sein sollte) aus ihrer kontemplativen Haltung reißen: Sie möge vielmehr über die geschilderten Untaten meditieren und sich prüfen, inwiefern auch sie längst vom rechten Weg abgekommen ist und in Folge dessen der Umkehr, nicht genug: der Erlösung bedarf. Die drei „Lectiones“ (Lesungen, aber eben auch Lektionen im didaktischen Sinn) des jeweiligen Tages sollten sich Freunde der geistlichen Musik nach Möglichkeit zur passenden Uhrzeit zu Gemüte führen, also spätabends oder frühmorgens, wenn mit den wenigsten Störungen zu rechnen ist. Dann können sie ihre Wirkung kaum verfehlen.

Barthold Heinrich Brockes schrieb sein Libretto „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus“ im Jahre 1712. Komponisten wie Telemann und Händel stürzten sich geradezu darauf, der erfolgreiche – aber gegenüber den Genannten heute arg vernachlässigte – Hamburger Opernkomponist Reinhard Keiser (1674-1739) machte sich schon im Jahr der ersten Druckausgabe an eine Vertonung. Der erfahrene Dramatiker ist ihr sogleich anzuhören, sodass es ein wenig verwundert, dass sie so unbekannt geblieben ist. Nur im direkten Vergleich zu Bachs wohlbekannten Gattungsbeiträgen, die allerdings weitgehend den Worten der Heiligen Schrift folgen, mutet uns Keisers Version der Passionsgeschichte stellenweise unangemessen an, nämlich entweder zu bühnenhaft oder zu harmlos, mit einem Wort: zu weltlich. Seis drum: Der nicht nur ins Ohr gehenden, sondern immer wieder regelrecht spannenden Musik wird die vorliegende Antwerpener Einstudierung jedenfalls in allen Punkten gerecht; nur an vereinzelten Solisten fällt störend auf, dass sie keiner akzentfreien deutschen Aussprache mächtig sind. Für eine weitere, mit einheimischen Kräften realisierte Neuaufnahme (bei einem Major?) böte der CD-Markt durchaus noch Platz.

Während die Handlung der Brockes-Passion mit dem Letzten Abendmahl einsetzt und mit dem Tode Jesu und im anschließenden, bei Keiser als musikalischem Höhepunkt inszenierten Erdbeben kulminiert, geht das Oratorienlibretto von Francesco Fozio von der bereits vollzogenen Kreuzigung aus. Der Evangelist schweigt hier ebenso wie Christus; dafür kommen die Personen am Fuße des Kreuzes mit ausgiebigen Reflexionen zu Wort: die zwei Marias, Joseph von Arimathäa, Nikodemus sowie ein römischer Centurio. Ein zweiter, ebenfalls einstündiger Teil behandelt dann deren emotionale Reaktionen auf Kreuzabnahme und Grablegung. Der Venezianer Antonio Caldara (~1671-1736) hat „Morte e sepoltura di Christo“ 1724 für die Kapelle der Wiener Hofburg vertont, allerdings wie schon der Titel (und die Nationalität Caldaras) verrät, auf italienisch wie jedes gegen Ende der Fastenzeit aufgeführte 'oratorio al santissimo sepolchro' – eine Tradition, die nur in der Donaumetropole gepflegt wurde. Da wir CD-Hörer es ohnehin gewohnt sind, etwaige visuelle Komponenten zu imaginieren, ist der Oratorien auferlegte Verzicht auf Kostüme, Dekors und Personenführung für uns irrelevant; wir assoziieren zu solchen Klängen unwillkürlich eine Barockoper.

Fabio Biondi, der geigende Dirigent des vielleicht etwas zu üppig besetzten Orchesters aus Stavanger (Norwegen), konnte für die fünf Solopartien italienische Muttersprachler gewinnen, sodass es zwar an der Idiomatik der italienischen Aussprache nichts auszusetzen gibt, dafür aber einiges am wirklich zu opernhaften Timbre der Maria Magdalena (Maria Grazia Schiavo), das besser ins 19. Jahrhundert gepasst hätte. Die anderen fügen sich weit organischer in den vibratoarmen Streicherklang ein. Das Fehlen einer eigentlichen Handlung hat Caldara durch üppige Affektausdeutung und einfallsreiche, zuweilen so noch nie gehörte Instrumentierung der insgesamt fünfzehn Arien ausgeglichen; letztere ist das große Plus dieser Aufnahme. Den Da-capo-Formen selbst gelingt es leider nicht immer, die Spannung zu halten, erreicht doch die Qualität von Caldaras melodischer Erfindung kaum je die Höhe Keisers.

Der zeitlich am frühesten anzusiedelnde Beitrag zu dieser kleinen Umschau steht ganz am Ende der Karwoche und damit der Fastenzeit: Der Heiland ist nun von den Toten auferstanden, und dies zentrale Ereignis des Kirchenjahres und damit den Beginn der Osterzeit gilt es zu feiern; Christus, das Licht, erstrahlt über der Welt, nachdem er den Tod, die Finsternis, besiegt hat – und draußen in der Natur darf endlich der Frühling Einzug halten. Das Beiheft zur außergewöhnlich sorgfältigen Einspielung einer sechsstimmigen Ostermesse von Heinrich Isaak (~1450-1517) geriet – wie schon das in Frakturschrift gehaltene Titelblatt – für Nicht-Historiker leider zu ausführlich, ja verwirrend, die Ausführung der Musik durch den niederländischen Chor Cantus Modalis allerdings vorbildlich klar und farbenreich, mit schön an- und abschwellenden Noten. Isaaks A-cappella-Messe erklingt „alternatim“, also abwechselnd mit den entsprechenden, stilecht auf einem gotischen Instrument realisierten Orgelversen Buchners. Schon ohne Wortanteil ergibt dies mitsamt kleineren, auf den Anlass bezogenen Ergänzungen ein 73-minütiges festliches Hochamt, wie es vor fünfhundert Jahren dem Habsburgerkaiser Maximilian angemessen gewesen wäre, aus dessen direktem Umfeld die Musik auch überliefert ist.

Giovanni Pierluigi da Palestrina: Lamentationes Hieremiae (Liber Tertius). Laudantes Consort, Ltg.: Guy Janssens. Sonamusica SONA1311 (2 CDs) (Vertrieb: Harmonia Mundi)
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Reinhard Keiser: Brockes-Passion. Vox Luminis, Ltg.: Lionel Meunier; Les Muffatti, Ltg.: Peter Van Heyghen. Ramée 1303 (2 CDs) (Vertrieb: Note 1)
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Antonio Caldara: Morte e sepoltura di Christo. Solisten, Stavanger Symphony Orchestra, Ltg.: Fabio Blondi. Glossa GCD 923403 (2 CDs) (Vertrieb: Note 1)
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Heinrich Isaak: Missa Paschalis a6 / Hans Buchner: Orgelverse. Cantus Modalis, Ltg.: Rebecca Stewart; Martin Erhardt, Orgel. Ambitus amb 96 965 (Vertrieb: Klassik Center Kassel)
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