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Überraschung!

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Glenn Gould’s Greatest HitsSony „Lassen Sie uns für ein paar Zeilen über 46 Minuten Video sprechen – Das Video voller Überraschungen!“ Aber wir werden uns schon bald fragen müssen, was das denn da für ein Glenn Gould ist, der seine Greatest Hits präsentiert: „Lassen Sie uns für 55 Sekunden über zwei Stunden Radio sprechen. ... CBC Tuesday Night. Das Programm voller...!“ Sie wissen schon: „Überraschungen!“ Mit einer strukturellen Akkuratesse, die nur noch in der Unbeirrbarkeit seiner Feinmotorik ihresgleichen findet, setzt Glenn Gould so in diesem „Greatest Hits“-Video drei Zäsuren köstlicher Kabinettstückchen – die Mittlere entfaltet das Video exakt von seiner zeitlichen Mitte her –, in denen er karikierend in die Figuren Sir Nigel Twitt-Thornwaite („spinnerter“ Dirigent mit EMI-„His Master’s Voice“-Bildsatire), Myron Chianti (schlampig artikulierender Schauspieler mit Ausführungen über den ersten Foxtrott in Fidschi) und Karl-Heinz Klopweisser (Aktionskünstler der Stille mit Gedanken zum Unterschied von deutscher und französischer Stille) schlüpft, hinreißend ergänzt in einer Interpretation der Scotch Rhapsody von Sir William Walton mit Patricia Rideour und Glenn Gould als Sprecherin und Sprecher. Aber keine Sorge, auch der hinreichend bekannte Schwarzweiß-Bach-Goldberg-Variationen-Gould gelangt zu Ton und Bild. Mit der Aria dieses Zyklus eröffnet er das Video. Skrjabins Prélude op. 49 No. 2, Johann Sebastian Bachs Allegro aus der Sonate für Violine und Klavier BWV 1017, Beethovens Bagatelle op. 126 No. 3, seine Sonate für Klavier und Cello und Bachs 12. Fuge aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers sind weitere Hits dieses Video-Samplers der Jahre 1957 bis 1977. Da bleibt verständlicherweise bisweilen die Tonqualität des Videos auf der Strecke. Aber die visuelle Qualität hinsichtlich der engen Musik-Bild-Verknüpfung im Sinne einer strukturellen Abbildung ist schon mit den ersten audiovisuellen Einspielungen Goulds unbestritten und hat schließlich mit zu seinem Ruf als erstem Video-Künstler beigetragen. Letztlich ist die Anwendung dieses visuellen Gestaltungsmittels nur allzu konsequent, um im Zusammenspiel mit der sprichwörtlichen Transparenz von Goulds Klavierspiel Musik sichtbar werden zu lassen. Aber seien wir doch einmal ehrlich: Erwartet unser Ohr nicht auch ein bißchen Knistern, Knacken und Rauschen, wenn das Auge nur schwarzweiß sieht? Und musikalische Überraschungen? Na klar! Gould als Dirigent des „Urlicht“ aus Mahlers zweiter Sinfonie. Dieser Dirgentenlaufbahn wird weniger seine von der Sängerin Maureen Forrester monierte Linkshändigkeit im Wege gestanden haben, als daß vielmehr seine unverwechselbare Art der äußeren Diskrepanz zwischen körperlichem und musikalischem Gestus nur wenigen Eingeschworenen nachvollziehbar und umsetzbar erscheint. Außerdem Gould als Pädagoge in einer Gesprächeinspielung über Strauss‘ Elektra mit einem Klavier-Excerpt. Außerdem Gould als Komponist einer Fuge („Man schreibt ja manchmal eine“) mit dem Titel „So You Want To Write A Fugue!“ für vier Singstimmen und sie mitunter unterstützendes Steichquartett. Genug? Also machen Sie sich auf, und suchen Sie Glenn Gould zu fassen: Es wird unterhaltsam. Vielleicht nicht so tief, wie’s das Booklet („Auf der Suche nach Glenn Gould“) tut, leicht mystifizierend, ästhetisch und soziologisch hinterfragend, dafür halt auch nicht so schwer. Aber seine dort gefundene Unberechenbarkeit mag der rote Faden in der Zusammenstellung dieses Videos gewesen sein: Voller Überraschungen eben!

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