In seinem 1995 erschienenen Buch „Modern Music and After. Directions since 1945“ erlaubte sich der englische Musikschriftsteller Paul Griffiths eine schöne Pointe: Sein Kapitel über Arvo Pärt bestand aus einem einzigen unkommentierten Notenbeispiel, der Passage aus Pärts Passion nach Johannes, in der Pilatus fragt: „Was ist Wahrheit?“
Dies konnte man als stille Hommage an Pärts Kunst der Reduktion deuten, oder als deren dezente Infragestellung. 15 Jahre später bekennt Griffiths Farbe und steuert zu der von ECM und Universal Edition gemeinsam veröffentlichten Sonderausgabe von „Tabula Rasa“ zu Pärts 75. Geburtstag im Jahr 2010 einen neuen Essay bei. Sehr anschaulich reflektiert er darin die Unmöglichkeit, sich ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen dieser ersten, seiner Musik die Bahn brechenden Pärt-Platte bei ECM wieder in den Zustand des ersten Hörens zu versetzen. Nicht Pärts Musik habe an Leuchtkraft verloren, wir aber, so Griffiths, stünden nicht mehr im Dunkeln.
So lesenswert dieser kurze Text auch ist (ebenso wie Wolfgang Sandners Originalkommentare zur Erstveröffentlichung), interessant wäre die Frage gewesen, ob die Faszination, die von Pärts Musik ausgeht – gerade in dieser, von Gidon Kremer und anderen mit viel persönlicher Anteilnahme, ohne jede meditative Glätte nachempfundenen Aufnahme –, nicht doch ein wenig Schaden genommen hat: durch die x-te Bearbeitung von „Fratres“, durch manches Werk, in dem Pärts Kompositionsverfahren zur Marke zu werden drohte und – am gravierendsten – durch die Flut an Nachahmern, die sich Pärts Spiritualität für Filmscores und andere Formen von Gebrauchsmusik ausborgten.
Eine wunderbare Hommage an den Komponisten ist diese Ausgabe aber vor allem deshalb, weil sie die Partituren aller eingespielten Stücke enthält, zwei davon zusätzlich in Pärts Autograph. Hier wird auf schönste Weise deutlich, dass man die Eigenart dieser Musik auch sehen kann, dass sie – Korrekturen in der ansonsten strengen und ebenmäßigen Handschrift zeugen davon – das Ergebnis eines überaus genauen Zusammenspiels von Proportionen ist, die aber im Notentext ebenso selbstverständlich aussehen, wie sie in den Aufnahmen dann frei und scheinbar natürlich ausschwingen. Eine Diskografie sämtlicher ECM-Aufnahmen mit Pärts Musik und eine Werkliste der UE-Ausgaben ergänzen den sorgfältig hergestellten Hardcover-Band mit integrierter CD.
Arvo Pärt: Tabula Rasa. Noten mit CD (Fratres für Violine und Klavier, Cantus in Memory of Benjamin Britten, Fratres für 12 Violoncelli, Tabula Rasa, Gidon Kremer, Tatjana Grindenko, Keith Jarrett, Alfred Schnittke, Staatsorchester Stuttgart, Dennis Russell Davies, Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker), ECM New Series 1275, UE 35 222, ISBN 987-3-7024-6980-1