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Vor und nach den „Trois poèmes“: Vokalsymphonisches von Witold Lutosławski auf CD

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Witold Lutosławski wurde und wird, sehen wir von seinem Streichquartett einmal ab, nicht nur als Instrumental- sondern, spezifischer noch, als Orchesterkomponist wahrgenommen, der seine Begabung in konzertanten und symphonischen Werken auslebte, ohne seine Ambitionen auf geistliche oder szenische, also wortgezeugte oder zumindest sprachgebundene Musik gerichtet zu haben.

Dennoch hat er sein Schaffen mit bedeutenden vokalsymphonischen Werken angereichert – zunächst im Zuge seiner Beschäftigung mit „gesellschaftlich nützlicher“ Gebrauchsmusik wie Volks- und Kinderliedern, dann angeregt durch seine Lektüre französischer Lyriker. Das vor zwanzig Jahren bei Lutosławskis Begräbnis erklungene „Lacrimosa“ (1937) für Sopran und Orchester, das einzige erhaltene Bruchstück einer nicht ausgeführten Requiem-Komposition, gibt eine ebenso knappe wie anrührende Talentprobe des gerade sein Studium abschließenden Jungkomponisten, der im Todesjahr Szymanowskis einen letzten Blick zurück auf die Spätromantik wirft.

Die beiden kurz nacheinander geschriebenen Stücke aus den sechziger Jahren sind jeweils einer persönlichen Unzufriedenheit Lutosławskis zu verdanken: Die „Trois poèmes d'Henri Michaux“, weil ihn kein Chorwerk seiner Zeitgenossen wirklich überzeugte, die „Paroles tissées“ (ein Zyklus mit Tenorliedern, ebenfalls nach einer französischen Vorlage) als Reaktion auf den ausbleibenden Erfolg seiner hier leider nicht berücksichtigten, erstaunlich progressiven 5 Lieder nach Gedichten von Kazimiera Illakowicz (1956-58), deren weitere Verbreitung seinerzeit an der polnischen Sprache scheiterte.

Die „Trois poèmes“ (1961/63) führen den in Lutosławskis Schlüsselwerk „Venezianische Spiele“ erstmals erprobten „aleatorischen Kontrapunkt“ weiter und verteilen die Verantwortung auf zwei Dirigenten: einen für den Chor und einen fürs Orchester. Genau definierten Zufallsprinzipien zu folgen mag insbesondere bei verbeamteten Mitgliedern öffentlich-rechtlicher Klangkörper unbeliebt sein – ihnen werden ungewohnte improvisatorische, vor allem rhythmische Freiheiten eingeräumt, aber auch abverlangt – aber wenigstens gleicht keine Aufführung dieser an neuartigen Klangeffekten nicht armen Partitur der anderen. In den 1965 folgenden „Paroles tissées“ (gewebten Worten, nach Jean-François Chabrun) für den Tenor Peter Pears nun ist der surrealistische Text ganz deutlich zu verstehen, und die Begleitung dient bei aller Originalität wirklich als Stütze der Textaussage und verunklart nicht die Gesangslinie.

Zehn Jahre später – diesmal im Hinblick auf den Bariton Dietrich Fischer-Dieskau – folgte als erste Vertonung von Texten Robert Desnos' „Les espaces du sommeil“ (Die Räume des Schlummers). Hier ist passenderweise ein eher melodramatisch deklamierender Sprechgesang gefordert, auch das Orchester wird etwas traditioneller verwendet. Die Wirkung der „Espaces“ hingegen steht den früheren Stücken in nichts nach. „Chantefleurs et Chantefables“ nach demselben Dichter schließt 1989/90 einen Kreis, weil der Duktus der Textvorlage (kleine Episoden aus der Pflanzen- und Tierwelt) ebenso wie die Form ihrer Vertonung an die volkstümlich-humoristischen polnischen Lieder der Jahre um 1950 anschließen, die auch schon alle einem Sopran plus Instrumentalbesetzung zugedacht waren. Das aleatorische Moment tritt nun ganz zurück und macht einem pseudofranzösisch-neoklassischen, aber weiterhin höchst raffiniert instrumentierten Stil Platz. Solveig Kringelborn, die den Zyklus auf Wunsch des Komponisten uraufführte, sang ihn 1996 kongenial für Virgin ein.

Jedoch auch die Landsleute des Komponisten, die im Rahmen der Hundertjahrfeiern „Lutosławski 2013 – Promesa“ die Solopartien übernahmen, zeigen sich äußerst versiert in der Anverwandlung der wechselnden, aber einer inneren Kontinuität folgenden Tonfälle des frankophonen Komponisten. Das Orchester und die Tontechnik geben ebenfalls keinen Anlass zu Kritik, sodass ich diese in jeder Hinsicht gehaltvolle Produktion nur wärmstens empfehlen kann.

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