Beide Werke handeln von Gefangenschaft, Befreiung und ultimativer Erlösung durch den Tod. Beide spielen in Kerkern der spanischen Inquisition des 16. Jahrhunderts, lassen einen Großinquisitor auftreten, üben radikale Kritik am Christus- und Menschenbild der Kirche. Beide thematisieren existentielle menschliche Verlassenheit, Ausweg-, Sinn- und Hoffnungslosigkeit, und beide stammen von Komponisten, die sich als ebenso gläubige wie zweifelnde Katholiken in bekenntnishaften Werken gegen Totalitarismus, Krieg, Gewalt und Unterdrückung jeglicher Art gewandt haben.
Die Dramaturgie der Oper Köln hatte damit gute Gründe, Luigi Dallapiccolas – nicht zuletzt wegen seiner Kürze von 50 Minuten – nur selten aufgeführten Einakter „Il Prigoniero“ (1944-48) mit Bernd Alois Zimmermanns Kantate „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“ (1970) zu einer pausenlos durchlaufenden Gesamtinszenierung zu verbinden. Das auf inhaltlicher und musikalischer Ebene spannende Experiment inspirierte Regisseur Markus Bothe und Bühnenbildner Robert Schweer zu eigenständiger Lesart beider Werke.
Worte wie Luftblasen
Zentrales Motiv beider Werke ist die Verkehrung der Bedeutung von Worten ins Gegenteil. Bei Dallapiccola redet ausgerechnet der Kerkermeister von „Freiheit“ und nennt den politisch Gefangenen „Fratello“ (Bruder), um ihn später als Inquisitor hinzurichten. Dazu preisen lateinische Choräle Gott und die Gerechtigkeit der Priester. Bei Zimmermann verklagt der Großinquisitor aus Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ den auf die Erde wiedergekehrten Jesus als schlimmsten Ketzer. Wie sich Worte zu Dogmen und Ideologien verhärten, setzte die Kölner Inszenierung sinnfällig ins Bild. Dallapiccolas Gefangener kauert im schmalen Spalt einer ganz aus Buchstaben bestehenden Wand. Er ist durch Worte gefangen und gebeugt. Ursache seiner Haft sind nicht tote Steine, sondern Gedanken und Befehle der Herrschenden. Als sich der Gefangene der süßen Anrede „Bruder“ des Kerkermeisters erinnert, schweben die Buchstaben dieser „dolcissima parola“ per Video (Fritz Gnad) wie Seifenblasen über die Kerkermauer, wo sie sich in Nichts auflösen: Die behauptete Brüderlichkeit ist nur eitel Lug und Trug.
Symbolisch sprechend gestaltete die Inszenierung auch den Auftritt des Kerkermeisters. Dieser schiebt die Buchstabenwand auseinander, so dass sich der horizontale Kerkerspalt mit einer in der Mitte entstehenden vertikalen Öffnung zu einem die gesamte Bühne überragenden Kreuz verbindet, das den Durchblick auf einen nachtschwarzen Himmel mit einem tanzenden Irrlicht freigibt. Was dem Gefangenen neue Hoffnung auf seine Befreiung einflößt, nimmt in Wirklichkeit eben jene „Befreiung“ durch die kirchliche Inquisition im Namen Christi vorweg: nämlich die Läuterung der Seele des Gefangenen durch das reinigende Feuer des Scheiterhaufens. Der geöffnete Kerker führt nicht in Freiheit, sondern geradewegs auf das Schafott. Am Schluss von Dallapiccolas Partitur wird der Gefangene vom Großinquisitor lediglich abgeführt: „Mein Bruder, komm mit mir“.
Die Kölner Regie dagegen ließ den Gefangenen ans Kreuz schlagen. Die Umwertung aller Werte von Freiheit, Brüderlichkeit, Nächstenliebe und Gerechtigkeit erreichte damit ihren schrecklichen Höhe- bzw. Tiefpunkt. Der im Gewand der Unschuld weiß gekleidete Gefangene erleidet das Martyrium Christi. Die Stellvertreter Christi lassen dagegen mit ihren grauen Kutten auch alle ihre Scheinheiligkeit fallen, um darunter Kardinalsroben zu offenbaren: das blutrote Henkerskleid.
Eigenwillig an der Kölner Erstaufführung des „Prigioniero“ war auch, dass sie die sonst im Hintergrund singenden Chöre sichtbar auf die Bühne brachte. In den zwei Chorszenen entfaltete der von Marco Medved bestens einstudierte Opernchor folglich eine ganz andere Wucht. Zugleich traten auf diese Weise die kirchlichen Schergen des spanischen Königs Philip II. auch sichtbar in Erscheinung. Wie der Opernchor agierte das Gürzenich-Orchester unter Leitung des Dortmunder Generalmusikdirektors Gabriel Feltz mit großer Präzision und Intensität, sofern sich dies im Musical-Zelt am Hauptbahnhof – dem akustisch problematischen Ausweichquartier der gegenwärtig in Grundsanierung begriffenen Oper Köln – feststellen ließ. Ganz ohne Einbußen erleben ließen sich indes die bestens besetzten Gesangspartien: Dalia Schaechter als Mutter des Gefangenen, Raymond Very als Kerkermeister/Inquisitor sowie der überragende Bariton Bo Skovhus als Gefangener.
Hektische Betriebsamkeit
Die Überleitung von Dallapiccola zu Zimmermanns „Ekklesiastischer Aktion“ leistete der Bach-Choral „Ich habe genug“, der dem Abend bereits als Motto vorangestellt worden war. Abgeleitet hatte man diese leitmotivisch wiederkehrende Klammer aus dem Schluss von Zimmermanns fünf Tage vor seinem Selbstmord vollendetem Werk. Dort bricht der Choral allerdings nach dem dritten Vers abrupt ab, so dass die nachfolgende glaubensgewisse Zuversicht „Mein Jesus kömmt“, „Ich fahr ins Himmelshaus“, „mit Frieden“ ungesagt bleibt. Und schlimmer noch, die mit diesen Worten verbundene Jenseitshoffnung wird von einem apokalyptischen Posaunen-Unisono fallbeilartig abgeschnitten.
Kaum ein anderes Werk der Musikgeschichte wurde derart bewusst als ultimativ letzte Komposition geschrieben. In der Überleitung zur Kölner szenischen Erstaufführung hört man den Bach-Choral beim Anblick des noch am Kreuz hängenden Gefangenen, dessen letzte Frage „La Libertà?“ das Geschehen für die nachfolgende „Ekklesiastische Aktion“ öffnete. Derselbe Sänger übernimmt nun die Rolle des Predigers, der die deklamierten Verse des ersten Sprechers (Jörg Ratjen) „und siehe, da waren Tränen derer, die Unrecht litten und hatten keinen Tröster mehr“ als Christus am Kreuze singend verkörpert: Ecce homo!
Während die Schwelle von Werk zu Werk durchaus eindrucksvoll war, litt dagegen die „Ekklesiastische Aktion“ fortan unter künstlich herbeigeschafften Requisiten und Handlungs-Versatzstückchen. Im Gegensatz zu Dallapiccolas Einakter ist Zimmermanns Kantate nicht für die Bühne bestimmt. Wie ihr Untertitel betont, kennt sie zwar verschiedene instrumentale und pantomimische „Aktionen“, doch entfalten diese auf dem Konzertpodium eine ganz andere fremdartige Wirkung als auf der großen Opernbühne, wo sie zu Bestandteilen einer regelrechten Handlung und mehr schlecht als recht psychologisch motiviert werden. Der vom Kreuz genommene Gefangene bzw. Prediger erscheint nun leibhaftig als wiedergekehrter Jesus Christus, den der zweite Sprecher (Stephan Rehm) in der Rolle von Dostojewskis Großinquisitor direkt anredet, statt diese Erzählung nur zu deklamieren. Indem die Regie Sprecher und Vokalist zu Bühnenfiguren machte, musste sie diese auch entsprechend handeln und interagieren lassen. Das aber lief Zimmermanns konzertantem Werk völlig zuwider und ließ den ambitionierten Inszenierungsversuch scheitern.
Das von Zimmermann verlangte kryptische Aufstampfen und Springen der Sprecher bleibt nicht rätselhaft vieldeutig, sondern wird exzessiv verschauspielert. Die Sprecher raufen sich um einen Stein, schubsen sich, hantieren mit Eimer und Besen, rangeln um einen Sessel, beißen sich gegenseitig in ihre Krawatten und spielen Ball mit einer großen Weltkugel. An die Stelle von Zimmermanns extrem reduzierten Mitteln, Gesten und gerade deswegen besonders eindringlicher Bild- und Klangsprache tritt hektische Betriebsamkeit. Die Theatermacher machen schlicht Theater, das völlig kontraproduktiv Ersatz dafür zu schaffen versucht, dass Zimmermann gar keine Szene vorsieht.
Das Zuviel an szenischem Beiwerk überlagert die Nacktheit der Musik und die gerade darin ausgedrückte Verzweiflung, Erstarrung, Einsamkeit, Hoffnungs- und Sinnlosigkeit. Zugleich korrespondiert dem Zuviel auf der Bühne ein Zuwenig im Orchester. Im Konzert sonst sichtbar, verschwindet das Orchester nun im Kölner Graben. Verloren geht damit ein Gutteil derjenigen instrumentalen Aktionen, die Zimmermann von „Ekklesiastischer Aktion“ sprechen ließen. Der Hörbetrachter muss eben auch sehen können, wie das groß besetzte Orchester über weite Strecken nur stumm dasitzt, während wenige Soloinstrumente wie etwa die E-Gitarre durch ihre musikalische Vereinzelung eben jene menschliche Einsamkeit verkörpern, von welcher der Prediger „Wem dem, der allein ist“ handelt. Lediglich aus diffusem Untergrund vernehmen ließ sich das sonst auf der Bühne hör- und sichtbare Hämmern auf Nägel und Bühnenboden. Was sonst an die Kreuzigung Christi und das für den wiedergekehrten Heiland erneut gezimmerte Schafott gemahnt, erschloss sich diesmal nur dem, der das Werk zuvor bereits konzertant erlebt hatte.
Gleichwohl: Die Kölner Doppelproduktion wagte ein außergewöhnliches, wenn auch nicht durchweg gelungenes Experiment. Der Inszenierung von Dallapiccolas „Prigioniero“ gebührt das Verdienst, ein in seiner musikalischen Kraft und theatralen Stringenz ausgezeichnetes Musiktheaterwerk der Moderne wieder auf die Agenda gebracht zu haben, dessen zeitlos gütige Aussage häufiger szenisch gedeutet zu werden verdient. Und bei aller Eindringlichkeit des neu geschaffenen Übergangs zwischen beiden Werken hat die Kölner Produktion auch gezeigt, dass Zimmermanns musikalisches Testament besser dort verbleibt, wo es hingehört: in den Konzertsaal.