Gesualdos Beiträge zur Liturgie der Karwoche, genauer: den sogenannten Tenebrae, also den in fast völliger Dunkelheit gefeierten Morgen- bzw. Abendandachten, bestehen aus jeweils neun Responsorien für den Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag.
Diese als musikalisches Vermächtnis des schwer gemütskranken Prinzen angelegten Werke wurden bisher nur vom Hilliard Ensemble (Triduum sacrum, ECM) komplett eingespielt; vorzüglich gelungene Einzelausgaben der King's Singers (Signum), des Taverner Consorts (Sony) und der Tallis Scholars (Gimell) liegen ebenfalls seit geraumer Zeit vor. Die Vorgängeraufnahmen sind jedoch mit der neuen Gesamtschau kaum vergleichbar.
Während die Tallis Scholars als einzige gleich ein Dutzend Sänger beiderlei Geschlechts aufboten, begnügten sich sowohl die King's Singers als auch das Taverner Consort, darin dem Beispiel des Hilliard Ensembles folgend, mit rein männlichen Protagonisten. Überdies bettete Andrew Parrott die Aufführung seines Taverner Consorts in einen quasi liturgischen Kontext ein, d.h. er lockerte Gesualdos hochchromatische Responsorien durch dazwischen geschobene gregorianische Choräle und Bibellesungen auf.
Dies bescherte dem Hörer einerseits Erholungspausen, andererseits die Illusion, er würde dem Mitschnitt eines religiösen Ritus' lauschen. Die drei Damen und drei Herren von La Compagnia del Madrigale, die aus den Vokalensembles Concerto Italiano und La Venexiana seit langem sowohl miteinander als auch mit diesem Spezialrepertoire vertraut sind, gehen genau den umgekehrten Weg: Sie betrachten die Responsorien als radikale, absolute Musik im Dienste des Wortes; die wie immer bei diesem Komponisten auffallend textverständlichen Responsorien transportieren zwar rein geistlliche Inhalte, aber der Komponist weigerte sich, deshalb irgendwelche stilistischen Zugeständnisse zu machen.
Das müssen Sie sich ungefähr so vorstellen, wie wenn ein in der Wolle gefärbter Blues- oder Soul-Interpret plötzlich ein Album mit Spirituals aufnimmt, jedes „baby“ und „girl“ akkurat durch „Jesus“ und „Lord“ ersetzt, sonst aber kein Iota von seiner gewohnt leidenschaftlichen Vortragsweise abweicht. Dasselbe hat damals Gesualdo getan, als er 1611 (anonym) seine berüchtigten V. und VI. Madrigalbücher in Druck gab, und danach (ohne Widmung, dafür mit voller Autorenangabe!) diese Responsorien veröffentlichte.
Weil die religiösen Vorlagen seine Fantasie nicht weniger befeuerten als die von den manieristischen Madrigalisten bevorzugte, masochistisch anmutende Liebeslyrik, sei sparsamer Genuss angeraten – so viel Dissonanz auf Dissonanz häufende Expressivität ermüdet das Ohr schnell. Zusätzlichen Reiz gewinnt die Ausgabe durch das wie stets bei Glossa geschmackvolle Design, den hier absolut unverzichtbaren, vollständigen und viersprachigen Abdruck aller Gesangstexte und nicht zuletzt die Bonusmaterialien: einige extrem seltene, stilistisch mit Gesualdo verwandte geistliche Madrigale seiner Zeitgenossen und vier verstreut veröffentlichte Kirchenwerke von Gesualdo selber. Wem allerdings die Interpretationen zu diesseitig geraten sind, der oder die möge sich an die oben genannten Alternativen halten.
Der eine Generation später geborene Heinrich Schütz lieferte im selben Jahr 1611, als Gesellenstück seiner venezianischen Lehrzeit, ein Madrigalbuch ab, um sich fürderhin dem bei Giovanni Gabrieli erlernten stile concertato und der vom Generalbass begleiteten Monodie zuzuwenden; dabei ließ er die hochkomplexe Polyphonie der Renaissance nie völlig hinter sich, sondern setzte deren Errungenschaften in den folgenden sechs Jahrzehnten bewusst als Stilmittel ein.
Die Sieben Worte, eine „Passionsmusik für fünf Favorit-Sänger, fünf Instrumente und Basso continuo“ sind dafür ein treffendes Beispiel: Sie stellen weniger die Passion Jesu selbst als eine Meditation über das Mysterium seines Leidens und Sterbens dar und begründeten eine Tradition, die über Buxtehudes Membra Jesu nostri bis hin zu Haydns „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“ weitergewirkt hat. Neben einer ähnlich wie die Sieben Worte instrumentierten „Historia der Auferstehung Jesu Christi“ hat Heinrich Schütz als Teil seines Spätwerks drei A-cappella-Vertonungen der Passionsgeschichte hinterlassen. Diejenige nach dem Evangelisten Lukas bildet das Hauptwerk der sechsten Folge von Hans-Christoph Rademanns zügig voranschreitender Schütz-Serie.
Mit Johann Sebastian Bachs beliebten, choralgebundenen Vertonungen haben dessen Gattungsbeiträge allerdings, außer eines Teils der Textvorlagen, herzlich wenig gemein. Ich musste über weite Strecken an eine Koranrezitation denken, nur mit dem Unterschied, dass ich jedes Wort verstehen konnte. Der karge, alles vermeintlich überflüssige aussparende Stil der Lukaspassion eignet sich bestens als klingendes Gegenstück zur ausklingenden Fastenzeit. Anders ausgedrückt: Ich ertappte mich dabei, den nächsten Chorsatz herbeizusehnen wie die nächste Arie in den Rezitativwüsten einer metastasianischen Opera seria. Unsere heutige Unruhe geht aber nicht etwa auf das Konto der Einfallslosigkeit des Komponisten oder einer lustlosen Interpretation, sondern verdankt sich der hohen Reizdichte, der wir 350 Jahre später ausgesetzt sind und an die wir uns mehr oder minder gewöhnt haben. Insofern sind die musikalischen Predigten von Schütz/Rademann eine willkommene Gelegenheit, uns in Gelassenheit und Geduld zu üben und wieder zuhören zu lernen.
Als Schütz seine Passionen niederschrieb, wurde in der Nähe von Graz Johann Joseph Fux geboren. Dass dieser nicht bloß Kontrapunktiker, sondern auch ein fleißiger und origineller Urheber von Vokalmusik war, dafür ist das ihm erst kürzlich eindeutig zugeschriebene Oratorium germanicum de Passione von 1731, sein letztes und zugleich einziges in (österreichisch gefärbter) deutscher Sprache, ein hervorragender Beleg.
Das Libretto benutzt die antike Sage von Andromeda und Perseus als Allegorie für das Leiden Christi. Die seinerzeitigen Aufführungsbedingungen im Stift zu Kremsmünster lassen keinen anderen Schluss zu, als dass die fünf Solostimmen auschließlich aus den Reihen der (männlichen) Gymnasiasten besetzt wurden, was zu dem kuriosen Ergebnis führt, dass drei der fünf Gesangspartien – nämlich die beiden Soprane und der Alt – von Kindern (hier rekrutiert aus den St. Florianer Sängerknaben) bestritten werden, glücklicherweise mit zuverlässigeren Ergebnissen als vor Jahrzehnten bei Harnoncourts Projekt der Bach-Kantaten.
Die instrumentale Begleitung beschränkt sich auf ein Streichquartett plus Violone und Orgel, wovon sich weder Fux noch Letzbors temperamentvolle Barockvirtuosen in ihrem Einfallsreichtum haben beschränken lassen. Doch ach – nach einer Stunde ist alles vorüber. Wir sehen: Es müssen, mit Verlaub, nicht immer die Evergreens des Thomaskantors sein, wenn es darum geht, in angemessen pietätvoller Form unsere Vorfreude auf das Osterfest zu schüren.
Carlo Gesualdo: Responsoria 1611; La Compagnia del Madrigale. Glossa GCD 922803 (3 CDs)
Heinrich Schütz: Die sieben Worte Jesu am Kreuz, Lukaspassion; div. Solisten; The Sirius Viols; Lee Santana, Theorbe; Ludger Rémy, Orgel; Dresdner Kammerchor, Ltg.: Hans-Christoph Rademann. Carus 83.253
Johann Joseph Fux: Oratorium germanicum de Passione; St. Florianer Sängerknaben, Ars Antiqua Austria, Ltg.: Gunar Letzbor. Pan Classics PC 10284
(Vertrieb in allen Fällen: Note 1)