Wie der zeitlebens von ihm bewunderte Brahms hinterließ Karol Szymanowski vier Symphonien. Ähnlich diesem tat er sich mit der symphonischen Form schwer – seinen Erstling hat er nicht vollendet, während ihm die Zweite zu einem polyphon überladenen, unverdaulichen Gebräu missriet, das auch der kürzlich mit dem Szymanowski-Preis ausgezeichnete Chefdirigent des London Symphony Orchestra, Valery Gergiev, im Rahmen seiner Retrospektive zum 75. Todestag (2012) nicht zu retten vermochte.
Das scriabineske „Lied der Nacht“, seine äußerst suggestive, im textlosen Chorpart an Ravels kurz zuvor vollendete „Daphnis und Chloe“ erinnernde Dritte, gehört durch die ins Polnische übertragenen Verse von Rumi in das Umfeld seiner ebenfalls von orientalischer Lyrik inspirierten „Liebeslieder des Hafis“ und wäre treffender als Kantate charakterisiert, während die Vierte gleich als „Symphonie concertante“ firmiert und an die Stelle des in Szymanowkis Werkkatalog ansonsten fehlenden Klavierkonzerts tritt. Hier, vor allem im ungestüm tänzerischen Oberek-Finalsatz, bricht sich der Einfluss der polnischen Folklore Bahn, mit der sich der Komponist zuvor so gründlich während seiner Forschungsaufenthalte in der Hohen Tatra befasst hatte.
Mit dem „Stabat mater“ von 1925/26 lieferte er schon vierzig Jahre vor Pendereckis Vertonung einen zentralen Beitrag Polens zur geistlichen Musik des 20. Jahrhunderts – was eine breitere Öffentlichkeit allerdings erst seit der viel gepriesenen Einspielung des jungen Simon Rattle wahrnahm. Goreckis wenig später in die Pop-Charts aufgestiegene „Symphonie der Klagelieder“ wäre ohne die Vorlage des abschließenden Sopransolos aus dem „Stabat mater“ zwar kaum denkbar, aber selbst die weitgehend unbekannt gebliebene „Messe“ des mit Szymanowski gleichaltrigen Strawinsky (von der „Psalmensinfonie“ zu schweigen) zeugt von einem ganz anderen kompositorischen Kaliber als dieses teils wirklich wunderschöne, in seinem Aufbau jedoch nicht restlos überzeugende „Stabat mater“.
Dass Szymanowskis Hauptproblem aber nicht bloß die Form, sondern mehr noch das Erfinden ins Ohr gehender Kantilenen oder wenigstens eigenständiger harmonischer oder rhythmischer Konzepte war, zeigt eindrucksvoll das (wie der „Sacre“) gut halbstündige Ballett „Harnasie“, welches ihn über einen Zeitraum von sage und schreibe acht Jahren hinweg beschäftigte. Das wohl wegen seiner zusätzlichen Tenor- und Chorpartien selten choreographierte Stück gefällt zunächst durch farbige Orchestrierung und angesichts der folkloristischen Thematik wohl unvermeidliche perkussive Einlagen.
Je länger das Stück jedoch andauert, desto mehr lässt das sorgfältige Handwerk weniger an Strawinsky oder Bartók als an Richard Strauss in seinen schwächeren, rein illustrativen Momenten denken, die auch noch dem unmusikalischsten Hörer ein Aha-Erlebnis vermitteln sollen. Trotz manch gelungener Passage, die vor allem seine Werke für Gesang und Geige adelt, fehlt Szymanowskis Musik nach meinem Dafürhalten insgesamt das über sich selbst hinausweisende, befreiende Element, das wirklich großer Musik innewohnt.
Aber urteilen Sie selbst: Sowohl die erstaunlich idiomatischen Live-Mischnitte Gergievs als auch die ungemein sorgfältige BBC-Studioproduktion Gardners gestatten Ihnen, sich mit diesem zweifellos interessanten Komponisten auf höchstem Niveau auseinanderzusetzen. Gardners „Stabat“-Aufführung allerdings gebührt wegen des zurückhaltenderen Vibratos der Sopranistin Lucy Crowe und einer insgesamt innigeren Darstellung die Krone.