Body
In einer Zeit, in der die Kirchen in Deutschland ihre Kräfte aufs wirtschaftliche Überleben konzentrieren, treibt uns die Sorge um, daß darüber unser eigentlicher Auftrag in seiner verheißungsvollen Kraft Schaden nimmt. Der Gottesdienst lebt aus dem Bemühen um Mit-Teilen und Teilen im Sinne des Evangeliums und der Danksagung (Eucharistie), die gleichzeitig Diakonie ist. (Vergleiche Markus 6,41; Lukas 22,17; Hebräer 13,16) So kann er Inbegriff des Leben schaffenden Handelns Gottes sein.
Dies führt notwendig in die Anfechtung: nicht Kirche mit dem richtigen Marketing, nicht Diakonie, die mit anderen Sozialkonzernen konkurrieren kann, verkündigt, was uns rettet. Zeichen als Wort und als Kunst, bespielsweise das Abendmahl als „göttlich Wortzeichen“ (Martin Luther), stehen für Gottes rettendes Handeln. Kunst kann und will also durchaus auch eine Form von Diakonie sein. Sie ist notwendig zeichenhaft, weil sie nicht für sich selber steht, sondern hinweist. Irritationen, Mißverständnisse, Kunst sei elitär und abstrakt, können nicht ausbleiben. Dennoch: Kunst und Gottesdienst und Gottesdienst und Kunst machen Kirche zur Kirche. Alle anderen kirchlichen Bemühungen sind sekundär.
Vier Grundgedanken und jeweils einige biblische und literarische Hinweise mögen mithelfen, die musikalischen und theologischen Aktionen auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof und in der Esslinger Frauenkirche mit zu vollziehen – kritisch, vielleicht weiterführend.
1. Kunst begegnet. Sie bedarf deshalb des Aufenthalts des Menschen in ihr. Begegnung und Aufenthalt offenbaren ihren religiösen Ursprung, ihre Nichtobjektivierbarkeit: sie ermöglicht Begegnungen, beschleunigt, verlangsamt, eröffnet Räume und bleibt in dieser Tätigkeit gegenständlich und transzendent zugleich. Mit anderen Worten: der religiöse Ursprung der Kunst zeigt auf ihre unabdingbare Lebendigkeit.
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1760-1834) hat in seinen „Reden über die Religion“ (1799) Religion beschrieben als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“. Er meint damit eben diese Qualität von Begegnung und Transzendenz. – Die Bibel erzählt die Geschichte von der blutflüssigen Frau (Matthäus 9,20-22). Sie berührt den Saum des Gewandes Jesu in der Erwartung, dadurch von ihrer Krankheit geheilt zu werden. Die Grundkategorie der Kunst ist die der Lebendigkeit.
2. Liturgie spitzt den Begegnungscharakter des Lebendigen und den so zuteil gewordenen Aufenthalt im Wesentlichen zu. Gott begegnet uns nicht wie Menschen oder Dinge unseres Lebens: direkt. Er begegnet uns indirekt, um das Geheimnis unseres Mensch-seins zu wahren.
Im biblischen Buch Exodus (Kapitel 3) wird die Geschichte von Moses Berufung durch Gott erzählt. Gott erscheint Mose in einem brennenden Dornbusch und spricht so mit ihm; Mose verhüllt sein Angesicht. Er nimmt eine Haltung ein, in der er Gott begegnen kann. Im Gespräch mit Gott als Geheimnis des Wegs seines Volkes sucht er Gewißheit. Gott kommt ins Wort in der Dialektik von Äußerung und Ent-äußerung. Gott kommt ins Wort – jenseits einer bestimmten Rhetorik.
Die Grundkategorie der Liturgie als Praxis des Glaubens ist die der Indirektheit, ja der fast beiläufigen Zeichenhaftigkeit. Nach der Überlieferung von 1. Könige 19 erscheint Gott dem Propheten Elia nicht in einem Sturm, der die Berge zerbricht, nicht in einem Erdbeben, nicht im Feuer – Gott erscheint „in dem Flüstern eines leisen Wehens“ (Zürcher Bibel). Zur Dialektik des Lebendigen tritt der Geist, die Zweiheit zeigt sich als Dreiheit, als Trinität.
3. Kunst innerhalb und außerhalb der Kirche ist bedroht durch Formen von Trivialität, die das Geheimnis unseres Menschseins verletzen, ja an unserem Menschsein „schuldig“ werden. Schuld verbirgt sich hinter Belanglosigkeiten, Vereinnahmungs- und Bemächtigungsstrategien, Zer-streuungen. Sie verbirgt nicht nur sich, sondern lenkt ab von der unabdingbaren Kraft von Visionen, von Glauben.
Die Kriegsknechte losen nach der Überlieferung aller Evangelien um Jesu Kleider; sie versuchen, sich zu zerstreuen, während Jesus in der Kraft des Gebets den Himmel gleichsam offen sieht. – Exodus 32, 1-35 erzählt den Versuch des Volkes Israel, sich in einem goldenen Standbild Gottes zu bemächtigen. – Die Werbung eines großen Milchkonzerns empfiehlt ihre Butter auf „unser täglich Brot“ (Matthäus 6,11). Eine Bitte des Vater-Unsers erscheint funktionalisiert, der Dialektik von Äußerung und Entäußerung beraubt.
Dietrich Bonhoeffers (1906-1945) Zeitdiagnose, geäußert in letzten Briefen aus der Haft, wonach wir einem religionslosen Zeitalter entgegengehen, ist erfüllt. Religionslosigkeit bedeutet nicht, daß die Menschen keine Religion mehr „haben“, im Gegenteil: Religion ist im Haben in Lebensfunktionen integriert: damals in eine politische Doktrin, heute in Marketing-Konzepte.
4. Trivialität scheint in ihrer Durchschaubarkeit und Verfügbarkeit den Sehnsüchten der Menschen nach einfachen Lösungen entgegenzukommen. Sie ist in den Zentralen der Macht Instrument, in den Wechselfällen alltäglichen Lebens Mittel zum Ausgleich, zur Kompensation.
Lebendigkeit und Indirektheit von Kunst und Liturgie dagegen setzen sich in ihrer Zeichenhaftigkeit dem Nichtverstehen aus. Glaube und Kunst bleiben deshalb angefochten. Sie reiben sich an sich selber und an der Wirklichkeit, ja sie vergehen und werden immer wieder neu. Nach Helmut Lachenmann heißt Kunst wahrnehmen, „an den Tod, die große Mutter, denken, aus solcher Erfahrung leben und von neuem lebendig werden.“
Letztlich deshalb sind Lebendigkeit und Indirektheit als geistliche Dimension von Musik und Wort unverzichtbar. Plakative Musik und wohlfeile Versuche religiöser Rede, sich dem Spiel der Trends öffentlich etablierter Wortspiele zu unterwerfen, scheiden aus.
5. Leben geschieht – zugespitzt – seit den Tagen Jesu von Nazareth im eschatologischen Horizont, das heißt im Zeichen der Ankunft Gottes. Der alte Äon, das gegenwärtige Zeitalter, vergeht, Gottes Zeit kommt. Kunst und Glaube/Liturgie und Religion/Ritus und Kunst schöpfen daraus jeden Moment und einmal endgültig ihre Kraft. Es ist die Kraft der Begeisterung, der Inspiration. Wir dürfen die Grenze betreten, an der uns die Last und die Leistungen unsres Lebens abgenommen werden, die Grenze, die uns beschenkt. Kunst und Religion können sich deshalb nicht mit Surrogaten, mit schnellen Ersätzen zufrieden geben.