1.500 Seiten neue Schumannliteratur, 2010 gefühlte wichtige Begebenheiten. Schumann auf Taiwanesisch, auf Elektronisch, auf Fado, Jazz, Pop et cetera. Sonderausstellung, Sondermünze, Sonderprojekt, Sonderkonzert. Gold-, Platin- und andere Sponsoren machen ihn möglich, den Schumann-Wagen, der als Festival-Füllhorn durch die Schumann-Städte rollt. Als Turbo mit abgesägtem Public-Viewing-Auspuff. Das röhrt und macht Umsatz. Da könnte er fast überhört werden – der leise Zweifel der zeitgenössischen Kunst.
Für einen Schumann-Abend lang liegt Düsseldorf am Meer. Aufschlagende Brandung. Ein Videohimmel voller Geigen und ein Ensemble, in dem kein Geigenton erklingt. Noch das Cello muss durch den Engpass einer Live-Elektronik. Wie alles in dieser dekonstruierten Schumann-Adaption, in der die Sieben Lieder op. 104 auf Worte der von Schumann hochverehrten Elisabeth Kulmann in Schlingensief-Manier vermahlen werden. Schumann heute? Die Antwort der Kunst ist von verstörender Klarheit. Schumann – so unerreichbar wie ein Himmel voller Geigen, an die niemand mehr herankommt.
Den Optimismus der Komponisten-Kollegen im internationalen Liedprojekt „Von fremden Ländern und Menschen“ vermag Anton Lukoszevieze nicht zu teilen. Wo Sngkn Kim an gleicher Stelle im Düsseldorfer Robert Schumann-Saal noch den berückenden Schumann-Sänger Thomas E. Bauer und eine bezaubernde koreanische Gakok-Sängerin zur musikalischen „Einheit“ verschmelzen konnte, sieht Lukoszevieze mit den Augen Roland Barthes’ nur Bilder, die sich längst zersetzt haben. Was bleibt?, fragt Lukoszevieze und fühlt sich erinnert an die „Müllhaufen der Geschichte“ wie sie der amerikanische Landart-Künstler Robert Smithson aufgetürmt hat. Ernstzunehmende Gegenwartskunst, die an „Schumann“ erinnern will, funktioniert für ihn allenfalls noch wie die surrealen Fundstück-Boxen eines Joseph Cornell. Schumann hinter Plexiglas.
Ein Spielverderber?
Das mag man so sehen. Doch eine Welt, die es schafft, den Golf von Mexiko mit Öl vollzupumpen, kannte Schumann ja auch noch nicht. Erloschen, jedenfalls für Lukoszevieze, alle schumannschen „Freudenfeuer“. Was ihm aus der „Schumann“-Vergangenheit aufscheint, ist Schauer-Kunst im Stil einer Louise Bourgeois. Unter rostroter Madonnen-Frisur, wie dem Porträt eines Alten Meisters entsprungen, zieht Jennifer Walsh eine Dreiviertelstunde lang alle Rausch-, Flüster-, Glucks-, Säge- und Schreiregister ihrer Gesangskunst. In ihrem Rücken ein gärender Video-Buchstabensalat. Einmal lesen wir „Bilker Straße“. Im nächsten Moment legt Apartment House wieder den Schalter um, setzt die Zerkleinerungsmaschine neuerlich auf ON. Elektrosound wabert durch den Saal. Und wenn das Klavier urplötzlich Satie-Jarrett-artigen Klangmix absondert, ist die „De-Kreation“ (Lukoszevieze) mitnichten zu Ende. Nur ist der Schumann-Schredder nun lediglich im Standby-Modus jean-paulscher Ironie angelangt. Eine, die, wie wir wissen, das Endliche vernichtet, weil sie die „Idee“ retten will. Doch was haben wir an ihr – an diesem Flackerbild auf der Projektionsfläche unserer Schumann-Imaginationen?
Dass sich das Düsseldorfer Schumannfest mit solcherart antikulinarischen „Entropic Song Meditations“ ihre eigene Negation aufs Podium geholt hat, gehört zu den bemerkenswertesten, zu den mutigsten Entscheidungen des republikweit wohl opulentesten Schumannfestes im Schumannjahr. Ansonsten freilich hatte man am Rhein wie im sächsischen Zwickau viel konsumentenfreundliches Schumann-Antiquariat im Angebot. Und im dazugehörenden Aufgebot eine Matadoren-Riege in der Preisklasse eines (etwas amtsmüde gewordenen) Barenboim und anderer Topstars der Szene wie Eschenbach, Hampson, Järvi, Zehetmair.
Was wohl hätte Schumann, der so viel über Musik und Musiker nachgedacht und geschrieben hat, über sein eigenes Fest der Schumann-Wagen und -Gesänge geschrieben und gedacht!? – Sicher wäre er die Liste durchgegangen, hätte registriert, hätte kommentiert, wie man da und dort seiner gedenkt. Leipzig vor allem, wo er mit Clara, seiner Muse, seiner Prothese, erstmalig Tisch und Bett teilt, hätte ihn gerührt. An gleicher Stelle (Inselstraße 5, heute 18) hat dort 1995 ein Schumann-Liebhaber-Verein, der die Vornamen des Ehepaars im Namen trägt, die Arbeit aufgenommen. Und, wo der Atlas schon einmal aufgeschlagen ist, hätte Schumanns Zeigefinger entschieden bei Bonn halt gemacht.
Eine schöne Idee!
Dieses Schumann-Netzwerk, hätte er sich gedacht, und der Projektleiterin Ingrid Bodsch dafür ebenso gratuliert wie für die Herausgabe eines die Schumannrepublik ziemlich vollständig abscannenden Veranstaltungskalenders. Gewusst, wo!, hätte er gesagt und damit womöglich auch Düsseldorf gemeint, das im Jubiläumsjahr so ehrgeizig ist, sich dem ganzen Werk zu stellen. In 80 Konzerten um die Schumannwelt.
„Durch Nachfliegen, mit Stricken und Heugabeln und Gedichten“, hätte man „dem Adler auf alle mögliche Weise beizukommen versucht“. Schumanns treffsichere Diagnose über das Ringen seiner Zeit um das Phänomen Liszt.
Eine, die nicht zuletzt auf ihn selbst zutrifft. Wie dem „Adler beikommen“? Auch in diesem Fall gilt die Quintessenz der musikalischen Haus- und Lebensregeln. So wie des Lernens kein Ende ist, so kommt auch (glücklicherweise) das Nachdenken über Robert Schumann nicht zur Ruhe. Zu dankbar denn auch der Lebensroman, den er abgegeben hat. Wenigstens ein halbes Dutzend Neuerscheinungen belegen, dass gerade dieses Künstlerleben wie kein anderes die Gemüter weiterhin bewegt. Andererseits – ebensowenig ist zu übersehen, dass besagte Schumann-Literaturknospen nach allen möglichen Richtungen austreiben. Gerade so, als hätte der Schumann-Diskurs erst begonnen, werden da Themen wieder aufgetischt, von denen man eigentlich glaubte, sie längst losgeworden zu sein. Immerhin war es doch Bernhard Appel gelungen, pünktlich zum Schumann-Jubiläum 2006 eine souverän-abwägende, wohltuend-unprätentiöse Dokumentation zum bedrückenden Endenich-Kapitel herauszugeben (s. nmz 7/06). Und jetzt dies: Ausgerechnet einer von Appels damaligen Autoren, der Psychotherapeut und Psychiater Uwe Peters hat den Faden der leidigen Schumann-Pathologie wieder aufgegriffen, die gerade freigeräumte traditionelle Schmuddelecke im Schumanngarten mit neuen klebrigen Fäden unpassierbar gemacht. Galt Peters die Frage des medizinischen Befundes auf Basis der Krankenberichte der behandelnden Ärzte in der Appel-Dokumentation noch unentscheidbar, so glaubt er jetzt zu wissen, woran Schumann litt und zugrundeging. Delirium tremens, vulgo: Säuferwahnsinn, lautet die Diagnose. Eine Hypothese, so recht geeignet für Musikerpartys und medizinhistorische Kongresse. Ärgerlich wird das positivistische Herumstochern in Schumanns Krankenakten aber spätestens dort, wo der Autor die Uralt-These vom Komplott wieder aufwärmt. Hinter Schumanns Rücken hätten sich sein Arzt und die Ehefrau auf die Einweisung in die Heilanstalt verständigt. Unterdrückt wird in dem auf zwei Bände verteilten, reißerisch aufgemachten 900-Seiten-Dossier das belegte Faktum, dass Schumann diesen letzten Schritt selbst mitgetragen hat.
Vom sensationsheischenden Grundton dieser Kolportage hält sich Dagmar Hoffmann-Axthelm tunlichst fern. Andererseits – auch ihr gilt wie unter Medizinern geläufig, die verwickelte, reich dokumentierte Schumann-Patientengeschichte als ein „interessanter Fall“. Nur, dass sie sich als musikwissenschaftlich gebildete Psychoanalytikerin für den vornehmen Gestus des „Zuhörens“ entscheidet. Ihre von Tilmann Moser prominent benachwortete Studie deutet Schumann tiefenpsychologisch als „Zeuge für die Angst“ vor dem Tod wie für die „Sehnsucht nach einem friedlicheren Sein“. Wem Peters’ Schumann-Pathologie zu düster ist, mag sich an Hoffmanns gut gemeinter Schumann-Psychologie erbauen. Eine Trostlektüre.
Ein Schlüssel
Ertragreicher das im eigentlichen Sinn musikwissenschaftliche Befassen: Da ist zunächst Helmut Loos zu nennen. Der Herausgeber der zweibändigen Schumann-Interpretationen (Laaber, 2005) hat mit seiner Studie die Formatvorgaben einer Porträt-Reihe seines Verlages bedient. Herausgekommen ist eine 130-Seiten-Broschüre, die mit ihrem Untertitel „Werk und Leben“ strikte Sachlichkeit intendiert wie suggeriert. Andererseits bildet sie für eine Überblicksdarstellung doch recht extravagante Thesen aus, wie etwa die von einer vorgeblich im Spätwerk zu konstatierenden „Prüderie“ Schumanns. Ein textanalytischer Querstand, dem ein kritisches Lektorat sicher vorgebeugt hätte, wie letzteres dieser Einführung insgesamt zweifellos gut bekommen wäre.
Rundum empfehlenswert hingegen die Schumann-Bücher zweier anderer gestandener Autoren, unter denen Martin Geck wahrscheinlich doch das Verdienst zukommt, den wirklichen Schlüssel für den Typus der Schumann-Biographie im Allgemeinen gefunden zu haben. Zitiert wird eine Briefstelle, wonach sich, so Schumann, der „Mensch und der Musiker immer gleichzeitig bei ihm ausgesprochen“ hätten. Ein Wort, das Geck ernst nimmt, um im steten Wechsel Licht von der biographischen auf die kompositorische Situation zu werfen und umgekehrt. Wie von selbst ergibt sich von daher auch eine souveräne Perspektive aufs Spätwerk, das vielen immer noch kontaminiert gilt. Geck konstatiert eine „zunehmende Bereitschaft“ Schumanns, auch „Anwandlungen von Düsternis, Verlorenheit, Schroffheit, ja Absence unmittelbar in die Noten einfließen zu lassen“. Und wenn Geck als Verbeugung vor dem poetischen Genie in die Narration dieses Künstlerlebens eine Reihe von Miniaturessays interpoliert, die er Intermezzi nennt, so wird aus einem informativ-klugen letzten Endes auch noch ein schönes Schumann-Buch.
Wo Geck aufhört, fängt Peter Gülke an. Als der Philosoph (nicht nur) unter den Schumann-Musikologen beginnt Gülke gleich beim blochschen „Geist der Utopie“, übersetzt ihn als Geist der Musik und reiht, oft konvulsivisch, dann wieder schlingenförmig vorgehend, vorstürmend, eine Analyseperle an die nächste. Manches hat man auch anderswo bei Gülke schon gelesen. Neu ist das von ihm hier in die Debatte geworfene „Ringen“ Schumanns um ein „selbstbestimmtes Ende“. Schumann habe gefühlt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibe und habe darauf in seinem Schaffen reagiert. Ein wichtiges, ein zentrales Schumannbuch im Schumannjahr, das tatsächlich nur das eine Manko hat, über kein Verzeichnis der im Text erwähnten Werke zu verfügen. Aus Gründen der Gebrauchswertsteigerung sollte eine zweite Auflage hier unbedingt nachbessern.
Wer nicht so lange warten will, der sei schlussendlich an ein Bändchen verwiesen, das nicht nur in jede Jackentasche passt, sondern auch in dieselbe gehört – zumal in solche von aufrechten Schumann-Liebhabern: Schumanns „Schriften über Musik und Musiker“, geschickt von Josef Häusler ausgewählt und herausgegeben und verdienstvollerweise wiederaufgelegt in Reclams Universal-Bibliothek. Das zitierte Wort von den „Heugabeln“ und den „Gedichten“, womit man dem „Adler“ beizukommen versucht, findet sich dort ebenso (Seite 181) wie (zwei Zeilen davor) der geniale Satz: „In Sekundenfrist wechselt Zartes, Kühnes, Duftiges, Tolles: das Instrument glüht und sprüht unter seinem Meister.“ Virtuos, dieses hingetuschte Bild einer Klangschmiede, die er selber war.
Bibliografie
- Peter Gülke: Robert Schumann. Glück und Elend der Romantik, Zsolnay, Wien 2010, 272 Seiten, 21,50 €
- Martin Geck: Robert Schumann – Mensch und Musiker der Romantik. Biografie, Siedler Verlag, München 2010, 320 Seiten, 22,95 €
- Dagmar Hoffmann-Axthelm: Robert Schumann. Eine musikalisch-psychologische Studie. (Nachw.: Tilmann Moser). Mit 9 Abb. und 5 Notenbeispielen, Reclam, 197 S., 9,95 €
- Helmut Loos: Robert Schumann – Werk und Leben. Neue Musikportraits Bd. 7, Edition Steinbauer, Wien, 2010, Boschur, 136 Seiten, 3 Abbildungen, 22,50 €
- Uwe Henrik Peters: Robert Schumann – 13 Tage bis ENDEnich, ANA Publishers, Köln, 2010, 324 Seiten, gebunden, 26,00 €
- Uwe Henrik Peters: Gefangen im Irrenhaus – Robert Schumann, ANA Publishers, Köln, 2010, 620 Seiten, 34,80 €
- „Tag für Tag ... mit Robert Schumann“. Übersicht über Schumann-Veranstaltungen im Schumannjahr 2010, hg. v. Ingrid Bodsch, Projektleitung Schumann-Netzwerk, Büro StadtMuseum Bonn, 2009
- Robert Schumann: Schriften über Musik und Musiker, hg. v. Josef Häusler, Reclam, Stuttgart, 2010, 256 Seiten, 7,00 €