Michael Schneider: Meylensteine. Reinhard Mey und seine Lieder +++ Reiner Hiby: „Große Zeiten“ – Lieder nach Texten von Erich Kästner +++ Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden +++ Keith Jarrett: Bordeaux Concert +++ Matthias Schriefl: Geläut +++ David von Bassewitz, Thomas von Steinaecker: Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam +++ Thomas Leibnitz: Verrisse. Respektloses zu großer Musik von Beethoven bis Schönberg +++ Michael Heinemann: Heinrich Schütz. Neue Musik im Dresden des 17. Jahrhunderts
Michael Schneider: Meylensteine. Reinhard Mey und seine Lieder, 194 Seiten, rüffer & rub 2022, ISBN 978-3-906304-93-9, € 20,-
Held meiner Jugend. Dass das lange her ist, merkt man daran, dass dieses Buch eine Hommage zu seinem 80. Geburstag ist. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein...“ Zack, Ohrwurm. Das Phänomen Reinhard Mey wird vom Musikwissenschaftler, Mey-Fan der ersten Stunde und Publizisten Michael Schneider anhand von 60 ausgewählten Liedern aufgefächert. Eine musikalische Zeitreise zu Meys biografischen Stationen und prägnanten Songtexten, die immer eng verbunden sind mit den „Meilensteinen“ des Reinhard Mey. Von der Konsumkritik, der heißen Schlacht am kalten Büffet, über die rasante intellektuelle Annabelle (1972) zum Maikäfer, den es nicht mehr gibt (1974) – hellsichtige Voraussicht auf die Klimakatastrophe – bis zur letzten Zigarette und das Glas im Stehen, das uns immer noch ganz melancholisch an unsere Endlichekeit erinnert. Reinhard Meys Lieder begleiten einen ein ganzes Leben lang. und sind Zeitgeschichte pur. Michael Schneider schreibt darüber mit viel Sachverstand und immer mit viel Respekt und Hingabe and den Meister des deutschen Songwriting. Eine schöne Hommage an einen ganz Großen. [Ursula Gaisa]
Reiner Hiby: „Große Zeiten“ – Lieder nach Texten von Erich Kästner, Produktion: Das Blaue Klavier Artproduktion und Courage Records 2022. CD-Bestellung und Download: www.courage-records.de
Wer sich auf die Suche nach deutschsprachigen Chansons begibt und nicht im Tümpel von pseudoambitioniertem Textschleim samt ausgeleierter Melodik und hysterischer Interpretation landen mag, tut gut daran, sich auf eingangs erwähnter Website ein vorzüglich zubereitetes Wort- und Klangmenü einzuverleiben, das als CD auch noch bestellt und verschenkt werden kann. Erich Kästners Texte treffen in vielerlei Hinsicht die Achillesferse unseres Zeitgeistes. Scharfzüngig, ironisch, amüsant und bisweilen bissig – nachdenklich und auch melancholisch. Als Komponist hat Reiner Hiby durchweg die stimmigen Töne zu Kästners Gedichten gefunden. Als Interpret bahnt er einen bestens präparierten und abwechslungsreichen Weg durch Kästners Seelenlandschaften, mit denen er stimmlich präzise helle und dunkle menschliche Felder in unseren amorphen Zeiten charakterisiert. Große Zeiten für schwere Zeiten– fein präsentierte Gegenwartslyrik aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. [Theo Geißler]
Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden, Rowohlt Buchverlag 2021, 304 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3498001223, € 24,-
In diesem autobiografischen Buch steht neben dem Autor selbst vor allem dessen Vater im Mittelpunkt: ein Gefängnisdirektor mit (immer noch) Sympathien für Nazi-Ideologien, gleichzeitig passionierter Pianist und Kammermusiker. Vater Selge widerlegt einmal mehr die Behauptung, nur gute Menschen hätten Lieder. Selge beschreibt eine durchwachsene Kindheit und Jugend in den 1950er- und 1960er-Jahren, ein Elternhaus, das geprägt ist vom Wechselspiel von Strafe, Gewalt und Liebe. Und er schreibt von der Wirkung der Musik, von sich selbst als kreativem Zuhörer und widersetzt sich damit implizit der hierarchischen Macht des Vaters. [Barbara Haack]
Keith Jarrett: Bordeaux Concert, ECM 2740
Der Endpunkt des pianistischen Schaffens von Keith Jarrett womöglich. Über diesem Live-Mitschnitt schwebt ein unbewusst diffuses und trauriges Gefühl, weil man unterdessen weiß, dass nach zwei Schlaganfällen im Jahr 2018 das Ende der künstlerischen Laufbahn dieses Ausnahme-Pianisten erreicht sein dürfte – jedenfalls in der Form des selbständigen Pianospiels. Im Konzert in Bordeaux aus dem Jahr 2016 beseelt die musikalische Melancholie, die einen dunkel mitherabzuziehen in der Lage ist und doch in den Arm nimmt. Das ist fast schmerzhaft. Das Konzert in Bordeaux signalisiert wohl auch das Ende eines in der Tat ziemlich vollendeten musikalischen Lebens. [Martin Hufner]
Matthias Schriefl: Geläut, resonando RN-10016
Süßer die Glocken nie klingen: Der Jazz-Trompeter Matthias Schriefl ist mit seinem Ensemble aus Blas- und Streichinstrumenten sowie Sängerin und Glöckner in diverse Glockenstühle gestiegen und hat für jede Kirchturmglocke seiner Wahl ein Stück komponiert. Für das ehemalige Dorfkind aus dem Allgäu gestaltete das Läuten der Kirchenglocken den Tages- und Wochenlauf: Vesperzeit, Hochzeiten, Beerdigungen und jeden Sonntag als Trompeter in oft eiskalten Allgäuer Kirchen. Als in der ersten Zeit des Lockdowns die Kölner Kirchenglocken läuteten – als einzig übrige musikalische Manifestation – wuchs in Schriefl der Plan für „Geläut“. Unter allen „Neustart“-geförderten Projekten sicher das einzige, das Groove und Spiritualität in einem transportiert. [Andreas Kolb]
David von Bassewitz, Thomas von Steinaecker: Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam. Carlsen Verlag, Hamburg 2022, ISBN 978-3-551733-66-5, Gebunden, 392 Seiten, € 44,00 EUR
Ein Junge in der Oberpfälzer Provinz lernt über eine Schallplatte Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ kennen. Wie der Zeichner David von Bassewitz dieses Erweckungserlebnis des Autors Thomas von Steinaecker in dieser üppigen Graphic Novel visualisiert, ist herausragend: aus anfänglicher Irritation und verunsichertem Lachen wird Faszination. Über diesen schlüssigen Umweg nähern sich Bassewitz und Steinaecker niederschwellig und schlüssig ihrem Protagonisten, ohne dessen komplexe Persönlichkeit und Musik zu banalisieren. Auf jeder Seite merkt man dem wunderbaren Band an, dass der Autor den Komponisten persönlich kannte und sich anhand von Originaldokumenten und Gesprächen mit Zeitzeug*innen intensiv mit dem Komponisten, seiner Lebensgeschichte und seinem musikalischen Denken auseinandergesetzt hat. Die Verzahnung dieses Hintergrundwissens mit der graphischen Gestaltung, die immer wieder in spektakulären Panoramaseiten kulminiert, funktioniert bestens. Wem das nicht reicht: Im Stil einer Netflix-Serie stimmt ein Teaser am Ende ein auf Band 2 … [Juan Martin Koch]
Thomas Leibnitz: Verrisse. Respektloses zu großer Musik von Beethoven bis Schönberg, 256 Seiten, Wien, Salzburg: Residenz Verlag 2022, ISBN 9783 7017 3565 5, € 28,-
Stell dir vor, du kommst nach dem Konzert nach Hause, bist noch beseelt von den Klängen Gustav Mahlers, setzt dich auf‘s Sofa, schlürfst einen Rotwein und nimmst ein Buch zur Hand. Wie wäre es, könntest Du die zeitgenössische Kritik der Uraufführung des Werkes lesen, welches du noch vor einer Stunde hörtest und das dir nicht aus den Ohren geht. Thomas Leibnitz‘ „Verrisse“ machen dir das möglich. Der Musikwissenschaftler und Direktor der Musiksammlung der österreichischen Nationalbibliothek trug ein Best-of historischer Negativurteile über Opern, Sinfonien und Konzerten des klassischen Repertoires zusammen, die bei ihrem Erscheinen ein widersprüchliches Publikum hinterließen. Leibnitz listet nicht nur Verrisse der Werke von acht Komponisten auf, sondern ordnet sie auch ein. Das Stöbern im Buch bringt einfach nur Spaß. Und insgeheim wünschst du dir, dass der Kritiker mit seiner spitzen Feder vor zwei Stunden neben dir im Gewandhaus gesessen hätte. Mahler im Ohr und ein Lächeln auf den Lippen begibst du dich ins Bett und bist für ein paar Stunden einfach nur glücklich. [Barbara Lieberwirth]
Michael Heinemann: Heinrich Schütz. Neue Musik im Dresden des 17. Jahrhunderts, Verlag Dohr, Köln 2022, 220 S., Notenbsp., ISBN ISBN 978-3-86846-174-9, € 29,80
Ein langes Leben – auch in Zeiten eines europäischen Krieges. Ein großer Künstler – gerade durch Offenheit für die europäische Musikkultur. Vom Nutzen eines unbefangenen Miteinanders in den Künsten, das schon immer über alle Grenzen fruchtbringend war, können wir hier lesen – in einem kompakten Format, das glücklich Biographisches mit musikalischen Betrachtungen verknüpft – ein lesenswertes Gedenken an den weitgereisten Barockmeister zu seinem 350. Todestag. [Michael Wackerbauer}