„Es waren nicht nur die Schreibmaschinen, die in Parade den Skandal gemacht haben.“ So Francis Poulenc, Augen- und Ohrenzeuge der Uraufführung: „Alles war neu – Botschaft, Musik, Bühne. Selbst die Kenner der Ballets Russes vor 1914 haben mit Erstaunen diesen kubistischen Vorhang von Picasso hochgehen sehen, selbst für sie absolut ungewöhnlich. Das war nicht mehr der Skandal in einem strikt musikalischen Sinn wie beim Sacre du printemps. Dieses Mal war jede Kunst widerspenstig.“
Übrigens auch die daran beteiligten Musiker. Man war konsterniert, glaubte, für eine Tanzdielenmusik engagiert worden zu sein. Ravel musste her, um ihnen zu versichern, dass die Musik meisterlich sei. Es reicht nicht. Ein Flötist steht auf, wendet sich an den Komponisten: „Monsieur Satie, es scheint, dass Sie mich für einen Idioten halten!“ Antwort, typisch Satie: „Nein, nein, ich halte Sie durchaus nicht für einen Idioten, aber – ich kann mich täuschen!“
Verblüfft
Die Vorgeschichte dieses Meilensteins der Musik- und Theatergeschichte fällt ins Jahr 1912. Jean Cocteau, Ideengeber und treibende Kraft hinter Parade, erzählt sie als Geschichte eines großen Ehrgeizes. Er und Ballets Russes-Impresario Serge Diaghilev, dessen Compagnie Paris mit einer neuen Sichtweise auf den Tanz seit 1909 in Atem hält, sind auf dem Nachhauseweg. Cocteau, nach seiner Gewohnheit mit notorischem Cocteau-über-alles-Tonfall. Diaghilev kennt die Platte. Irgendwann platzt ihm der Kragen. „Worauf ich warte, ist, dass Sie mich überraschen!“, bellt er seinen jungen Eleven an. Später hat Cocteau bekannt, dass es dieser Wutausbruch gewesen sei, der sein Leben verändert habe. Der Mann sollte seine Überraschung bekommen! „Endlich, 1917, mit dem Premierenabend von Parade hatte ich ihn überrascht!“
Mit eben diesem Ballett in einem Akt. Bühne, Kostüm, Dekor: Pablo Picasso. Choreographie: Leonide Massine. Musik: Erik Satie sur un thème, nach einer Idee Jean Cocteaus, die er Satie ein Jahr vor der Premiere bekannt macht. Reaktion: „Lieber Freund, ich habe das Manuskript erhalten. Sehr verblüffend! Das wird eine tierische Arbeit werden. Von ganzem Herzen, Ihr ES.“ Letzteres als Kalligraphie. Ein S, das sich um das E in der Art herumschnörkelt, dass man einen Kopf zu erkennen meint, einen Charakterkopf – wie eben Erik Satie einer gewesen ist. Wobei seine Briefschlussformeln durchaus wechseln können. Teilt er betrübliche, irgendwie schwierige Inhalte mit, grüßt am Ende auch einmal ein „Monsieur Sadi“.
Überrascht
In diesem Fall ist der Mann allerdings freudig überrascht, fast, dass es ihn, diesen bizarren Vertreter der Pariser Künstlerszene, auf dem falschen Fuß erwischt hätte: Das soll ein Thema sein für ein Ballett? Nur, wieso eigentlich nicht! Ein Ballett einmal nicht über ein ominöses Frühlingsopfer, über einen mythologischen Feuervogel, einen romantischen Petrouchka. Ja, erstmals drängt mit Parade ein Ballet réaliste auf die Bühne, ein realistisches Ballett, eines über das Alltagsleben gewöhnlicher Franzosen, „Menschen“, so Cocteau, „wie du und ich“.
„Die Dekoration zeigt Häuser in Paris. Ein Sonntag. Ein Wandertheater.“ Ein Szenario, von Cocteau ähnlich arrangiert wie auf den disparat mit Alltags-Fundstücken collagierten kubistischen Bildern eines Juan Gris, Picasso, Braque. Cocteau überträgt das Prinzip aufs Theater. „Drei Revuetheater-Nummern: Chinesischer Gaukler. Akrobaten. Kleines amerikanisches Mädchen. Drei monströse Ausrufer, die Reklame machen. Das Publikum hält solche Parade für die eigentliche Vorführung. Niemand geht hinein. Nach der letzten Nummer brechen die erschöpften Marktschreier einer über dem anderen zusammen. Der Chinese, die Akrobaten und das kleine Mädchen kommen aus dem leeren Theater. Als sie den Zusammenbruch der Reklamemacher sehen, versuchen sie nun ihrerseits zu erklären, daß die Vorführung im Inneren stattfindet.“
Parade – der Einbruch der radikalen Moderne in den Ballettbetrieb. Ein Mitstreiter der ersten Stunde, der Lyriker Guillaume Apollinaire, neben Picasso die andere große Artistenfigur jener Jahre, wird in seinem Programmheft-Beitrag zur Uraufführung das Stichwort dafür geben: „Aus dem neuen Zusammengehen von Bühne, Kostüm, Choreographie, Musik ist in ‚Parade‘ eine Art sur-réalisme erwachsen.“
Geteilt
Apropos. Bei der Premiere am 18. Mai 1917 steckt Apollinaire im Soldatenkleid, auf dem Kopf hat er einen Verband, was an diesem Abend der einzige Hinweis ist auf die Grande Guerre. Andererseits ist klar: Parade fällt ins vierte Kriegsjahr. Die Welt steht am Abgrund und ist, auch in Frankreich, hochpolitisiert, empfänglich jetzt vorwiegend für Botschaften mit dem Holzhammer. Eigentlich nicht das optimale Milieu für eine sur-reale Pièce mit einer Musik zwischen E und U, zwischen Fuge und Ragtime, angereichert mit Geräuschen des Alltags, Sirenen, Lostrommeln, Schreibmaschinen. Für Saties feinen gallischen Ton hat man kein Ohr, für Picassos Bild gewordene Hommage an die mediterrane Welt keinen Blick. Stattdessen glaubt man sich auf den Arm genommen. Dem konservativen Teil des Publikums geht es derart gegen den Strich, dass man den Akteuren auf wie hinter der Bühne am Ende mit Hutnadeln und wüsten Beschimpfungen zu Leibe rückt.
Der Siedepunkt, so Poulenc, wird erreicht mit dem Ragtime du paquebot, Saties Ozeandampfer-Ragtime. „In diesem Augenblick teilte sich der Saal in zwei Lager, die einen dafür, die anderen dagegen. Die ganze Montparnasse-Szene auf den billigen Plätzen schrie: ‚Es lebe Picasso!‘ Auric, Roland-Manuel, Tailleferre, Durey und viele andere Musiker schrien: ‚Es lebe Satie!‘“ Den anderen passt die ganze Richtung nicht. Parade? Eine einzige unpatriotisch-teutonisch-bolschewistische Produktion! Der Dolchstoß windelweicher Etappenhengste! Der Ulk vaterlandsloser Gesellen!
Gefeiert
Vorwürfe, die im Prinzip ins Leere gehen. Nur, dass man für die künstlerische Solidaritätsadresse wie sie auf Picassos Rideau rouge, auf seinem rotem Vorhang erscheint, buchstäblich keinen Sinn hat. Während Fagotte, Celli, Streicher ein Farbenspiel auf engstem Raum entfalten, streicht das Auge über eine fantastische Artisten-Welt, registriert links das weiße Flügel-Pferd, auf dem die geflügelte Nike den Sieg verkündet, erfasst die den Theater-Himmel berührende Leiter in den Farben der Trikolore, ortet im Hintergrund Antike und Afrika, und bleibt hängen auf einer illustren Künstlergruppe mit einem die Gitarre schlagenden Spanier, im Kreis der Darsteller der Commedia dell’Arte: Feier mediterraner Zivilisation. Hommage an eine Künstler-Kreativität der Straße, die die Ehe mit der romanischen Welt eingeht: Spanien, Italien, Frankreich. Über ein Jahr arbeitet Satie an der Partitur. Was viel erscheint für gerade einmal fünfzehn Minuten Musik. Andererseits eine Viertelstunde, die es in sich hat. Wie so manche seiner komponierenden Kolleginnen und Kollegen ist auch der junge Poulenc fasziniert. Für ihn wie für andere wird Parade zum Inbegriff der französischen Kunst. Man sucht Kontakt zu Satie. Es entsteht „Le Groupe des Six“. Mit Satie als Schutzpatron, dem soviel Verehrung freilich nicht geheuer ist. „Es gibt keine Satie-Schule. Satieismus? Wüsste nicht, wie er bestehen sollte. Man träfe mich dort als Gegner. In der Kunst braucht man keine Sklaverei. Ich habe mich immer bemüht, durch die Form und durch den Inhalt in jedem neuen Werk die Mitläufer in die Irre zu führen.“
Nicht zuletzt in Parade, diesem genialen Gemeinschaftswerk von nicht weniger genialen, vor allem aber mutigen Künstlern, solchen, die mitten in einem Ersten Weltkrieg, quer zu den geistigen Frontlinien ihre künstlerische Vision behaupten, um dafür die Schelte einer ganzen Nation zu ernten. Wie ein Gnadenzeichen, über den realen wie über den geistigen Schützengräben der Zeit, leuchtet Parade noch heute.
Abgebrannt
Post Skriptum: Für den Komponisten hat die ganze Geschichte ein sehr spezielles Nachspiel. Am Abend der Generalprobe kommt der Musikkritiker Jean Poueigh, ein gescheiterter Komponist, in Saties Garderobe und gratuliert, nur, um Parade in seinem Premierenbericht in schamloser Weise herunterzumachen. Satie gibt seiner Wut freien Lauf und schreibt, so dass es die Concierge des Kritikers nachlesen kann, auf offene Postkarten: „Mein Herr und lieber Freund, Sie sind ein Arsch, aber ein Arsch ohne Musik!“ Poueigh klagt wegen übler Nachrede. Die Anhänger Saties daraufhin mit im Gerichtssaal. Letzterer wird zu acht Tagen Haft auf Bewährung verurteilt. Cocteau protestiert. Es kommt zur Schlägerei. Später wird zu Gunsten Saties interveniert. Er braucht seine Strafe nicht abzubüßen, vorausgesetzt, er lässt sich fünf Jahre „nichts zu Schulden kommen“. Nun, ein Satie kuscht nicht. Im April 1918 revanchiert er sich mit einer vergifteten „Lobrede auf die Kritiker“.
Und was ist finanziell? Was Satie betrifft, auch dies ein einziges Debakel. Unkollegial-gerissen übrigens Monsieur Cocteau, der sich die Gagen allein auszahlen lässt. Satie daraufhin bemüht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Lieber Dicker Freund“, schreibt er an Cocteau, „Georges Pioch hat den Tod von Poueigh bekannt gegeben – seinen Tod als Künstler, versteht sich. Trotzdem lande ich im Suppentopf & mehr noch! Sie werden mich ordentlich salzen! Ich bin völlig abgebrannt, mein armer Alter. Was tun? Bin tief betrübt & voller Überdruss. Guten Tag. Monsieur SADI.“