Während meines Musikstudiums ging mir der eine oder andere Stab entzwei. In die Partitur gesteckt, ragte seine Spitze heraus, brach ab, und, welch Entweihung, nicht selten fand sich der Taktstock in einem Blumentopf wieder, als Stütze für meine schief wuchernden Gewächse. Nach der Lektüre dieses köstlichen Buches wage ich das zu erzählen, denn auch die großen Meister halten derlei Geschichten aus ihrem Anekdotenschatz parat. Bernard Haitink hebt alle zerbrochenen Stäbe auf, schließlich erweisen sie sich fürs Barbecue als äußerst nützlich, und Semyon Bychkov besitzt eine große Sammlung der ausgedienten – einen wahren „Taktstock-Friedhof“. Holz scheint nicht langlebig zu sein, als viel robuster erweisen sich da Glasfiber-Stäbe – die halten ewig, doch sie sind auch gefährlich, und manch einem behagt das kalte Material nicht. Ashkenazy meint, mit Holzstäben könne man sich nicht so leicht in die Hand stechen, doch andere haben schon schmerzhafte Erfahrungen mit Holz gemacht. Haitink mussten einmal viereinhalb Zentimeter Stock aus der Hand herausoperiert werden. Immer wieder angeführt wird das Schicksal des Jean-Baptiste Lully, der ein „Te Deum“ mit mehr als 400 Beteiligten aufführen wollte, mit einem langen Stock der Musikermasse den Rhythmus stampfte, dabei unglücklicherweise nicht den Boden, sondern sich selber traf und an einer Blutvergiftung zugrunde ging.
Viele lassen sich ihre Stäbe eigens nach ihren Vorstellungen herstellen. Zwei gefragte Namen werden dabei immer wieder genannt: Henk Ummels und Richard Horowitz – „Taktstockbauer“ aus Leidenschaft. Nicht alle Dirigenten bevorzugen den Stock. Den Verfechter des stocklosen Dirigats schlechthin repräsentiert heute Pierre Boulez, der von seinen Kollegen immer wieder erwähnt wird. Er selbst erzählt: „Als ich einmal einen ganz dünnen Taktstock versuchte, hat er bei einer schnellen Bewegung in der Luft richtig ,uiiiiiit’ gemacht. Wie eine Rute oder Peitsche! Das finde ich unerträglich und unnötig.“ Ganz unabhängig davon: „Manche Dirigenten identifizieren sich mit dem Taktstock. Es ist viel besser, selber ein Taktstock zu sein. Der Zauber kommt aus dem Menschen.“
Ist der Taktstock ein Machtmittel? Ist der Taktstock ein Musikinstrument? Ist der Taktstock ein Werkzeug? Oder vielleicht ein Zauberstab? Diese Fragen versuchen in diesem Buch große Dirigenten unserer Zeit zu beantworten. Nicht alle waren bereit, über ihr „Instrument“ zu reden, schreibt Roelcke in seinem Vorwort, sei es aus Arbeitsüberlastung, Desinteresse oder gar aus der Notwendigkeit, dabei auch Negatives über Kollegen äußern zu müssen. Viele hatten erstaunlicherweise kaum über den Taktstock nachgedacht, und Eliahu Inbal sagt direkt: „Kollegen sprechen sehr wenig miteinander über ihre Taktstöcke. Das ist zu persönlich. Sie sprechen auch nicht über ihre Unterhosen.“
Jeder Dirigent hat individuelle Vorstellungen vom Dirigieren und von seinem „Instrument“, und gerade das macht die Lektüre von „Der Taktstock“ so spannend. Die Gespräche ziehen weite Kreise. Schulmäßiges wird ausgesprochen, verschiedene Aspekte der Technik erörtert, Ausflüge in die Musikgeschichte unternommen, Vorbilder und Lehrer – die großen „Alten“ wie Furtwängler, Walter, Scherchen, Mrawinskij – herangezogen und zitiert.
Eckhard Roelcke hat zunächst Musikwissenschaft studiert, anschließend die Hamburger Journalistenschule absolviert und arbeitet heute als Journalist. So auch in diesem Buch: Er legt großen Wert darauf, den Tonfall des Einzelnen zu bewahren, und auch die den Gesprächen vorangestellten Einführungen lesen sich unakademisch und lebendig.(„...noch immer rinnt ihm der Schweiß über die Stirn. Dirigieren ist harte, körperliche Arbeit. Tamayo spricht deutsch, redet schnell und denkt noch schneller.“) Die halbstündigen Interviews wurden zwischen Flughafen und Konzertsaal, in Künstlergarderoben und Hotellobbys geführt. Die wunderbaren Fotos von Steffen Ramlow und Hannes Ravic sind spontane Porträts, lebendige Momentaufnahmen der Maestros – mit oder ohne Taktstock, je nachdem. Der Band illustriert einen Aspekt der Orchesterleitung, dem bislang wenig Beachtung geschenkt wurde, ein winziges intimes Detail, oft mystifiziert und zum Machtsymbol erhoben.