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Der deutsche Musikologe und Kästchenkritiker rümpfe angesichts seiner Klänge oft die Nase, als kämen sie aus dem Kaffeehaus, meint der Komponist Peter Michael Hamel. Und er fügt hinzu: „Was sich nicht puristisch seriös erhaben gibt, ist und bleibt verpönt.“ Die Rede ist von George Gershwin, der ein Leben lang zwischen allen Stühlen gesessen ist. Der Schöpfer von „Rhapsody in Blue“, „I Got Rhythm“ oder „Porgy and Bess“ wäre am 26. September 100 Jahre alt geworden.
Wenn er nur „I Got Rhythm“ komponiert hätte, es wäre schon genug gewesen, ihn weltberühmt zu machen, merkte der „Jazzpapst“ Joachim-Ernst Berendt einmal an: „Keinen Song der populären Musik unseres Jahrhunderts – außerhalb des Blues – haben Musiker häufiger als Improvisationsgrundlage gewählt als dieses Stück. Aber gerade weil so viele es wählten, darüber spielten, es veränderten, weiterentwickelten, umbenannten, wissen nur wenige noch, daß sie ein Thema von Gershwin benutzen. Wie auch er selbst nicht oft wußte, daß er Folklore benutzte. Als sei seine Musik wieder zurückgeflossen in den Fundus des Unbewußten, aus dem er sie bezogen hat.“ Als Melodiker sei er so groß wie Schubert oder Tschaikowsky. Aber als Gestalter von Formen und Strukturen? Ein wenig schulmeisterlich analysiert er: „‚I Got Rhythm‘“ hat zwei Takte zuviel. Oder sind’s zwei zu wenig?“ Nähern wir uns Gershwin von seinen Wurzeln her, wie der deutsche Broadway-Dirigent Franz Allers vorschlägt: „Die Grundstimmung seiner Musik ist natürlich amerikanisch: die unverkennbare Atmosphäre des Jazz und Ragtime, mit der Gershwin schon im Knabenalter vertraut wurde. Aber fast ebenso stark ist das vielleicht Russisch-Jüdische in Gershwins Musik. Dazu kommt die so häufige Verwendung uralter Kirchentonarten – jene so seltsame Verpflanzung, zuerst von den Missionaren nach Afrika gebracht, dann von den Negern in den Gospel-Songs nach Amerika mitgenommen. Eine solche Verquickung der verschiedensten Einflüsse ist wohl so gut wie einmalig, aber sie erklärt wenigstens zum Teil das einmalige Phänomen.“ Rhapsody in Blue Nachdem der ehemalige New Yorker „Songplugger“ George Gershwin in den frühen Zwanzigern am laufenden Band „Tin Pan Alley“-Schlager geliefert hat, von „Swanee“ über „Stairway To Paradise“ bis zu „Fascinating Rhythm“, wurde am 12. Februar 1924 von Paul Whiteman & seinem Orchester sein wohl berühmtestes Werk uraufgeführt: die „Rhapsody in Blue“, die Geburtsstunde des „sinfonischen Jazz“. Eine Komposition, die zu seiner Zeit sehr umstritten war. Der britische Komponist Constant Lambert merkte dazu noch 1934 an: „Die Gefahr besteht eigentlich immer, daß ein intellektueller Komponist die Melodie, die ihm zuerst einfiel, wieder verwirft und so lediglich die darauf aufbauende, kompliziertere Fassade stehenläßt. Genau dies ist auch in der so einmalig albernen und trotzdem beliebten „Rhapsody in Blue“ von Gershwin passiert. Der Komponist hat versucht, ein Konzert in Anlehnung an Liszt im Jazz-Stil zu schreiben und hat dafür nur die nicht-barbarischen Elemente der Tanzmusik verwendet. Dabei ist weder guter Jazz noch ein guter Liszt herausgekommen, und schon gar nicht ein gutes Konzert.“ Ein Bastard, der von vielen Zeitgenossen nicht geliebt und heute trotz oder wegen seiner „Fehler“ zu den Klassikern der amerikanischen Musik gehört. „Nobody is perfect!“ Der Schriftsteller und Komponist Beverly Nichols zeigte sich dagegen 1926 total begeistert von Gershwins nächstem großen Werk, „Concerto in F“: „Als ich die Musik hörte, war mir plötzlich, als stünde das ganze Amerika in seiner vollen Pracht vor mir. Die Phrasen fegten über das Klavier mit einer Anmut, die an die strenge, konzentrierte Silhouette eines Wolkenkratzers erinnerte. Immer wieder waren die Bässe kurz davor, verrückt zu spielen... Es gab lebendige und launige Passagen, plappernd wie die Revuegirls vom Broadway, die bei Child’s ein Mintjulep trinken, und dann wieder langsame, verschlossene Weisen, die das geheimnisvolle Mysterium der riesigen Wälder erahnen ließen. Die Melodien stießen heftig gegeneinander und bekämpften sich verbissen, beherrschten sich wieder, fanden endlich zusammen und hetzten wie besessen über die Tastatur in einem letzten Ansturm – und es drängte sich mir unwillkürlich das Bild einer Rinderherde auf, die über die weiten Prärien im Westen donnert.“ Porgy and Bess Nach großen Erfolgen am Broadway mit Musicals wie „Lady, Be Good!“, „Funny Face“ oder „Girl Crazy“ fand am 30. September 1935 in Boston die Premiere seines ambitioniertesten Werkes statt: die „Volksoper“ (oder „Negeroper“) „Porgy and Bess“. Das Werk ist allerdings keine Jazz-Oper, wie oft behauptet wurde, sondern pure Americana. Die rhythmische Faktur der Musik, die Verwendung der berühmten „blue notes“, also kleiner Terz und kleiner Sept in der Durtonart, und bestimmte Farben der Orchestrierung würden zwar auf Jazzeinflüsse verweisen, meint Hanspeter Krellmann, aber das seien nur die Bausteine für eine amerikanische Musik originärer Prägung: „Über alles Stückwerk-Komponieren hinweg wurde von Gershwin das eigentliche Ziel niemals aus dem Auge gelassen: eine Musik zu realisieren, die es in einem solchen amalgamierenden Stil vorher nicht gegeben hatte. Unter dem Einfluß des Schmelztiegels Großstadt schrieb er eine urbane Musik und kam damit – wie Ravel, Strawinsky und andere – zu einer klimatischen Unterscheidung im musikalischen Elementarhaushalt, wie es sie im 19.Jahrhundert noch nicht gegeben hatte.“ Inszeniert hat „Porgy and Bess“ der Theater- und Filmregisseur Rouben Mamoulian, der auch schon beim Vorläufer „Porgy“ dabeigewesen war. Schwärmerisch hat er jenen Abend beschrieben, als ihm George und Ira Gershwin zum ersten Mal ihr Werk am Klavier vorspielten: „Sie schlossen selig ihre Augen, ehe sie mit dem lieblichen ‚Summertime‘-Lied fortfuhren. Während George spielte, lag ein überglückliches Lächeln auf seinem Gesicht. Er schien auf den Wogen seiner eigenen Musik zu treiben, während die Sonne des Südens über ihm strahlte. Ira sang – mit Hingabe warf er seinen Kopf zurück, die Augen immer noch geschlossen –, und er sang wie eine Nachtigall. In der Mitte des Liedes konnte sich George nicht mehr länger beherrschen und übernahm von ihm die Melodie. Georges Gesicht zu beschreiben, während er ‚Summertime’ sang, übersteigt meine schriftstellerischen Fähigkeiten. ‚Nirvana’ wäre vielleicht das richtige Wort.“ Obwohl „Porgy and Bess“ anfangs am Broadway nur ein bescheidener Erfolg war, nur 124 Aufführungen!, – erst in den Fünfzigern sollte das Werk um die Welt gehen – entwickelte sich „Summertime“ bald zum Standard. Es war Billie Holiday, die 1936 zuerst das Lullaby auf Platte aufnahm und damit aber nur einen mageren 12. Platz in der amerikanischen Hitparade erreichte. Im Laufe der Jahre aber findet man „Summertime“ im Repertoire fast aller Musiker zwischen Jazz, Klassik, Pop, Soul. Ein kleine alphabetische Auswahl von Interpreten gefällig? Ein „Who is Who“ der Musikgeschichte unsere Jahrhunderts: Herb Alpert, Chet Baker, Sidney Bechet, George Benson, Ray Charles, John Coltrane, Sam Cooke, Miles Davis, Ella Fitzgerald & Louis Armstrong, Jascha Heifetz, Janis Joplin, Roland Kirk, Lambert, Hendricks & Ross, Charlie Parker, The Residents, George Shearing, Billy Stewart, Swingle Singers und Sarah Vaughn. Tod in Hollywood Ein Tennismatch zwischen George Gershwin und dem emigrierten Komponisten Arnold Schönberg inspirierte den Schriftsteller Albert H. Sendrey zu einem Text über das Dilemma der beiden Komponistenkollegen, die vereint waren in dem Ziel, einen kleinen Ball über das Netz zu schlagen: „Laßt kurzsichtige Leute doch die Nase rümpfen über Dissonanzen..., null–fünfzehn,... laßt sie doch die ‚Rhapsody in Blue‘ als Modeerscheinung abtun..., fünfzehn beide,... laßt sie doch grimassenziehend und sich die Ohren zuhaltend aus dem Saal gehen,... dreißig–fünfzehn,... laßt sie doch sagen: einmal Tin Pan Alley, immer Tin Pan Alley,... vierzig–fünfzehn,... laßt sie von ‚Porgy and Bess‘ als musikalischen Zwerg angesichts des Goliaths der literarischen Vorlage reden,... Spiel und Satz, 6:2.“ Gnadenlos hätte Gershwin gegen Schönberg gespielt, mit demselben amerikanischen Drive, den seine Musik immer ausgezeichnet hat. Der Pianist Oscar Levant, ein enger Freund, der später auch dabei ist bei Vincente Minnellis grandioser Gersh-win-Hommage „An American in Paris“ von 1951, erinnert sich an einen Vorfall während der Vorbereitungen zu dem Film-Musical „The Goldwyn Follies“ in Hollywood: „Der Produzent forderte ihn auf, am Nachmittag zur Versammlung zu kommen, und verlangte, daß die Musik vor der versammelten Mannschaft seiner treuen, gutbezahlten Gefolgsleute gespielt würde. Dieses Ansinnen, sein Werk dem Urteil einer aus Statisten bestehenden Jury überlassen zu müssen, deren Meinung so vorhersehbar war wie das Ergebnis einer Jersey-City-Wahl, empfand George, der meinte, daß dieser Abschnitt seiner Laufbahn längst vorbei war, als demütigend.“ Die Ausbeute dieses letzten Jahres, das er in Hollywood verbrachte, war freilich nicht gering: zwei Fred-Astaire-Filme, „Shall We Dance“ und „A Damsel in Distress“, und „The Goldwyn Follies“ trugen seine musikalische Handschrift. Zumindest acht Songs aus dieser Zeit sind zu Klassikern des „Great American Songbooks“ geworden: „Slap That Bass“, „They All Laughed“, „They Can’t Take That Away From Me“, „Let’s Call The Whole Thing Off“, „A Foggy Day“, „Nice Work If You Can Get It“, „Love Walked In“ und „Our Love Is Here To Stay“. Trotzdem fiel Gershwin immer mehr in Melancholie: „Ich bin jetzt achtunddreißig, reich und berühmt, aber todunglücklich – warum nur?“ David Ewen – dessen vorzügliche Gershwin-Biographie gerade vom Hannibal-Verlag wiederaufgelegt wurde – hat seine letzten Tage in Hollywood beschrieben: „Gershwin erwachte erst gegen neunzehn Uhr und war so schwach, daß er seinen Pfleger bitten mußte, ihn zur Toilette zu führen. Plötzlich sackte er zusammen, kollabierte – als hätte er einen epileptischen Anfall erlitten – und fiel in ein Koma. Die Symptome waren nun so eindeutig, daß kein weiterer Zweifel an einer organischen Schädigung bestehen konnte; der Verdacht auf Vorliegen eines Gehirntumors verhärtete sich.“ George Gershwin hätte seinem Bruder Ira offenbar noch etwas Wichtiges mitteilen wollen, aber aus dem unverständlichen Lallen sei nur nur noch das Wort „Astaire“ zu entnehmen gewesen. Nach einer Gehirnoperation starb George Gershwin am 11. Juli 1937 in Hollywood. Zwei Tage nach seinem Tod sprach sein Freund Arnold Schönberg, den der leidenschaftliche Maler einst auch porträtiert hatte, im Radio einen Nachruf, der noch heute seine Gültigkeit besitzt: „George Gershwin war einer jener seltenen Musiker, für die Musik nicht ein Produkt mehr oder weniger großer Geschicklichkeit ist. Musik war für ihn die Luft, die er atmete, die Speise, die ihn nährte, der Trank, der ihn erfrischte. Musik war das, was sein Gefühl erweckte, und Musik war das Gefühl, das er ausdrückte. Unmittelbarkeit dieser Art ist nur großen Männern zu eigen, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß er ein großer Komponist war. Was er vollbrachte, kam nicht nur der amerikanischen Musik zugute, sondern es war ein Beitrag zur Musik der ganzen Welt.“