Die aus dem Erzgebirge stammende Profi-Leichtathletin Rebekka Haase trainiert derzeit für die Sprintwettbewerbe der Olympischen Sommerspiele in Paris 2024. Dabei greift die Sprinterin, die bei internationalen Wettkämpfen vielfache Erfolge errungen hat, auch auf ihre Erfahrungen zurück, die sie als Flötistin und Orchestermusikerin gewonnen hat. Wie nah und doch unterschiedlich diese Professionen sind, hat sie im Gespräch mit Alexander Keuk erzählt.
Der musikalische Rhythmus des Sprints
neue muskzeitung: Sehen Sie sich selbst als Musikerin oder Sportlerin?
Rebekka Haase: Das kann ich ganz klar beantworten, ich bin Sportlerin, das ist mein Beruf. Ich bin zum Training gefahren und dann zur Musikschule und zur Orchesterprobe und das habe ich über einige Jahre auch auf diesem Level durchgehalten, dann habe ich aber gemerkt, dass ich im Sport sehr viel weiter komme und wusste, dass die Musik fortan mein Ausgleich sein wird. Mittlerweile ist es so, dass mir die Musik unglaublich wichtig ist, aber ich kann nicht mehr so oft mit dem Orchester spielen, wie ich es mir auch wünschen würde.
nmz: Haben Sie Musik oder Sport auch studiert?
Haase: Ich habe tatsächlich mit Psychologie an der Uni angefangen, aber dann floss meine Zeit natürlich in den Sport. Es ist unheimlich schwierig, neben dem Profisport eine zweite Karriere aufzubauen. Ich habe dann festgestellt, dass es jetzt in meinem Alter für mich wichtig ist, mich dem Sport ganz zu widmen und dass es meine Leidenschaft ist.
nmz: Man lernt sehr schnell als Kind und hinterfragt ja auch erstmal nicht – was haben Sie damals gelernt in der Musik, parallel zum Sport, wie waren Ihre Erfahrungen?
Haase: Es ging für mich nicht ohne das jeweils Andere. Ich habe im Sport natürlich Qualitäten entwickelt, die für mich auch Sport ausmachen, dazu gehören auch Dinge wie Disziplin und Präzision und genau zu wissen, was man tut. Die Musik hat mir dann geholfen, auch die Ruhe zu haben, immer und immer wieder dieselben Bewegungen zu machen im Sprint und in der Sprinttechnik. Bei den Proben für ein schwieriges Stück im Orchester wurde auch ganz in Ruhe Takt für Takt geprobt. Aber es gibt auch andersherum schöne Erfahrungen. Als ich schon bei Olympischen Spielen war und dann wieder ins Orchester kam, tat es gut zu sehen, dass man dort eben nicht mehr Einzelkämpfer ist, sondern Teil einer großen Gruppe ist, wo jeder seinen Beitrag zum Ganzen, zum Entstehen eines wunderschönen Musikstücks leistet. Diese Perspektive hat mir auch wieder im Sport geholfen, wo ich dann zwar am Ende alleine auf der Bahn stehe, aber ich habe auch ein unglaublich großes Ziel, wofür viele Dinge perfekt zusammenspielen müssen, damit es dann auch funktioniert.
nmz: Dieses Alleinsein kennen die Musiker ja auch, zum Beispiel beim Üben, wo nicht immer der Lehrer anwesend ist – und dort kommt man auch in die Wiederholungen, das tatsächliche „Training“. Wie ist das denn auf der Bahn?
Haase: Ich habe da die glückliche Situation, dass ich schon seit 18 Jahren mit dem gleichen Trainer zusammenarbeite und wir auch eine kleine Trainingsgruppe sind. Er ist auch nahezu bei jeder Einheit dabei. Es ist wichtig zu wissen, dass ein Trainer bei einer harten Trainingseinheit zwar ein Feedback geben, aber mir nicht helfen (im Sinne von „die Aufgabe erleichtern“) kann, ich muss da trotzdem alleine durch. Das ist in der Musik ein Stück weit anders, dort braucht man eine gewisse Zeit alleine für sich, um die Fehler zu sortieren, neu anzusetzen – es sind grundlegend andere Herausforderungen, die man auf unterschiedliche Weise bewältigen muss, aber richtig: man arbeitet ganz oft allein mit sich selbst, in beiden Gebieten.
nmz: Wie gehen Sie an die Musik und an den Sport heran von der Einstellung her? Disziplin gehört ja zu beiden Gebieten – manchmal belegt man den Begriff auch negativ, aber es ist sicher eine Art Werkzeug, oder?
Haase: Ich habe die Musik ja nie beruflich angegangen. Ich kann mir vorstellen, dass Berufsmusiker schon sehr ähnlich wie Leistungssportler an die Sachen herangehen, man widmet sich tatsächlich über Stunden und Tage den gleichen Dingen, um Fortschritt zu erreichen. Da fragt auch keiner, ob das Spaß macht, sondern man hat ja die Highlights am Ende im Kopf, das Konzert oder den Wettkampf. Für mich war die Musik immer so, dass ich sie machen konnte, aber nicht machen musste. Durch meinen Sportkontext hatte ich dann aber auch den Anspruch, dass ich diese auch so gut mache, wie ich eben kann. Ich habe dann gemerkt, dass es sich lohnt, sich mit der Disziplin aus dem Sport auch mit der Flöte hinzusetzen und zu üben.
nmz: Wie ist das mit der Präzision? Es geht ja bei Sprintern um Millisekunden, und damit um bestimmte Muskeln, um ganz genaue Bewegungsabläufe, dort ist Präzision ja wertvoll. Perfektion wiederum hat in Musik ja auch einen Ruch – im Sport wohl eher nicht…
Haase: Für uns Sprinter ist Präzision essenziell. Auch da gab es immer für mich die Parallele zur Musik. Man hat einen Rhythmus im Sprint, einen Laufrhythmus, und darüber gibt es noch einen Rennrhythmus als globalere Form. Du darfst an keiner Stelle zu wenig oder auch zuviel geben. Die Winkel müssen stimmen, der Krafteinsatz muss stimmen und das muss alles so ineinanderlaufen und flüssig sein, dass am Ende eine schnelle Zeit rauskommt. Für mich ist tatsächlich ein Sprint wie ein schönes Musikstück, dessen Teile exakt aufeinander passen, aber auch ineinander fließen, die Töne müssen in einer bestimmten Intensität getroffen werden, und beides ist extrem herausfordernd.
nmz: An welcher Stelle fließt beim Sprint ihre Persönlichkeit ein?
Haase: Der Sprint hat verschiedene Eckpunkte, wir nennen sie „golden position“, das sind Abschnitte innerhalb eines Schrittes, die biomechanisch ausgewertet genau definiert stattfinden sollten. Das kann man berechnen. Was aber bei jedem Sprinter ein Stück weit anders ist, ist die Anatomie. Nun versucht man die Sprinter so nah wie möglich an diese goldenen Positionen heranzubringen, aber das Laufbild muss trotzdem noch natürlich sein und das sieht bei jedem Sprinter minimal anders aus und er kann das auch ausgleichen. Es kommt also nicht auf Gleichförmigkeit an, sondern der individuelle Stil kann auch in seiner Natürlichkeit das Ergebnis befördern. So ähnlich also, wie unterschiedliche Dirigenten mit Musik arbeiten.
nmz: Das lässt vermuten, dass es in beiden Bereichen einen Bereich von Basis und Technik gibt und einen der Meisterschaft, die darüber hinausweist?
Haase: Das wurde auch in beiden Bereichen schon immens viel erforscht und diskutiert – aber was gleich bleibt, ist, dass ich die Meisterin meines Handwerks sein muss. Ich muss die Technik kennen und die Bewegungen und mich simpel immer und immer wieder damit beschäftigen, was ich zu tun habe. Es gibt ja auch keinen Musiker, der sich nicht mit seinem Instrument auskennt, das ist unmöglich.
nmz: Im Konzert gibt es diesen Moment, wo man auf die Bühne kommt, ähnlich wie Sie an den Start gehen. Dann richtet man sich noch kurz ein und gelangt in einen mental gespannten Zustand. Auch im Sport haben Sie das Publikum um sich – spüren Sie einen Unterschied?
Haase: Im Sport ist es noch auf einem anderen Level, weil man ja – trotz der anderen Läuferinnen – allein da steht, wie ein Solist auf der Bühne.
nmz: Über den Sport verfügen Sie ja auch über einen guten Zugang zu ihrem Körper. Bei der Flöte geht es ja auch um Atem und Gestaltung von Phrasen. Wie ist denn da das körperliche Bewusstsein für Erkundungen ausgeprägt?
Haase: Generell ist es für mich immer sehr spannend zu sehen, was man mit seinem Körper veranstalten kann und spürt. Mein Körperbewusstsein ist sicher durch den Sport nun anders ausgeprägt als es früher einmal war und natürlich ist Atmung auch im Sport ein großes Thema und dafür gibt es auch spezielles Training. Dafür wiederum ist das musische Training mit der Flöte nützlich, weil dort die richtige, gute Atmung ja vielfach im Vordergrund steht. Das kann man im Training dann anwenden. Beim Sprintlauf selbst ist es eher eine spannungsvolle Bauchtechnik, die im Vordergrund steht, aber die Atemregeneration und Atemkontrolle nach dem Lauf ist beispielsweise sehr wichtig, und da hilft wiederum das Wissen um den fließenden Flötenatem.
nmz: Sollte jeder Musiker Sport machen oder umgekehrt, jeder Sportler ein Instrument spielen?
Haase: Ich bin der Meinung, dass Musik viel Gutes schaffen kann, vor allem auch einen emotionalen Ausgleich, den man als Sportlerin doch öfters brauchen kann, als man manchmal wahrhaben will, weil man auch oft überreizt ist. Dann kommt für mich auch dazu, dass auch in neuronaler Hinsicht Musikmachen sehr wertvoll ist, da beide Gehirnhälften aktiviert werden, das macht durchaus Sinn. Deswegen bin ich ein großer Fan davon, wenigstens ein bisschen Musik zu machen als Sportlerin und umgedreht bin ich davon überzeugt, dass jede Musikerin auch um so besser wird, um so mehr sie im Einklang mit ihrem Körper ist und dafür ist Sport und Bewegung natürlich eine der besten Möglichkeiten.
nmz: Erkenne ich mich als Mensch, als Persönlichkeit besser, wenn ich laufe, schwimme oder bergsteige?
Haase: Das ist überhaupt ein gesellschaftliches Problem, was ich immer mehr bemerke: immer weniger Menschen spüren überhaupt ihren Körper, oder was mit ihm auch nicht stimmt. Manche merken beispielsweise, dass etwas weh tut, verstehen aber nicht, dass da etwas vorher dann nicht gestimmt hat. Wer sich aber regelmäßig bewegt, nimmt das eher wahr oder hat einen stärkeren Zugang zum Körper, wie es ihm geht, was ihm guttut. Beim Musizieren muss man da besonders darauf achten, man ist ja da beim Üben stundenlang am Instrument, aber der Körper gehört ja dabei auch gepflegt. Der Sport kann dann ein guter Baustein sein, um festzustellen, was der Körper braucht.
nmz: Was ist denn ihr Ziel beim Sprint? Läuft man mit der Uhr in der Hand, um immer präziser zu laufen? Oder ist es einfach ein „guter Lauf“?
Haase: Ich will ein gutes Rennen haben, aber ich weiß auch, dass es den perfekten Lauf tatsächlich nicht gibt. Man muss zwar mit einem gewissen Perfektionismus, mit der Annäherung an das Idealbild herangehen, damit man diese Dinge im Wettkampf abrufen kann. So etwas bespreche ich auch mit dem Trainer, aber ein guter Lauf kann auch unabhängig von Zeiten sein, denn da sind so viele Bedingungen mit verknüpft, dass es nicht realistisch sein kann, wenn man sich eine Zeit xy schon im Voraus vornimmt. Ich werde mich also mit den Bedingungen beschäftigen und weiß, am Ende werde ich schnell laufen, wenn es ein gutes Rennen war.
nmz: Aus der Musikpraxis heraus weiß ich, dass manche Dirigenten an Höhepunkten oder Steigerungen empfehlen, nicht die „volle Pulle“ zu geben, sondern knapp darunter zu spielen oder zu singen. Oft wird dann festgestellt, dass die Musik dann mehr Energie hat und im Endeffekt lauter und kräftiger ist. Ist das auch beim Laufen anwendbar?
Haase: Bei uns heißt der Satz „schnell rennen kann man nicht erzwingen“ – wenn Du versuchst 100 Prozent zu geben, wirst Du verkrampfen und wenn Du verkrampfst, wirst Du nicht schneller. Solche Parallelen findet man eigentlich durchgehend.
nmz: Im Sport wie in der Musik gibt es auch Situationen, in denen es nicht immer so läuft, wie wir uns das wünschen – ein Ziel wird nicht erreicht, ein Vorspiel scheitert oder man kommt über die entscheidenden Stellen nicht hinweg und – zweifelt. Sie kennen diese Situationen auch und haben auch schon offen darüber gesprochen, möchten Sie Musikern wie Sportlern da vielleicht eine Erfahrung mitgeben?
Haase: Ja, diese Situation, dass man an einem Punkt ist, wo man sagt, das habe ich mir jetzt anders vorgestellt, das kennen wir natürlich alle. Ich kann nur von mir sprechen – im Sport ist es so, dass ich weiß, was ich mache, was mein Ziel ist und wo ich hin möchte. Ich bin mir dessen sehr bewusst, dass das, was ich vorhabe in meinem Kopf, vieles ist, aber nicht leicht. Dass man da hinkommt, ohne dass etwas schiefgeht, ohne dass man daran verzweifelt oder dass man auch mal scheitert, das ist naiv, das gibt es nicht, das gibt es höchstens noch im Film. In Situationen, wo ich sehr hart an mir gezweifelt habe, war es gut zu wissen, nicht damit alleine zu sein. Es ist völlig normal, und es gibt ganz viele Menschen, zu denen man aufblickt, die Idole sind, die bekannt sind und außergewöhnlich gut sind in ihren Bereichen – und denen geht es genauso. Zweifeln ist völlig okay und Hinterfragen auch. Das Wichtige dabei ist, man braucht irgendwo dabei einen kleinen positiven Einflussfaktor, der einem dann hilft, wieder auf die Bahn zu kommen und weiterzumachen. Vielleicht fängt man an einem Punkt an und macht den ein bisschen besser und dann wieder den nächsten Punkt. Und dann freut man sich plötzlich wieder über das, was man geschafft hat und hört auf zu verzweifeln über das Nichtgeschaffte. Wenn man an dem Punkt der Verzweiflung feststeckt, sieht man auch erstmal nicht, was man schon erreicht oder geschafft hat…
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