Weit ausschwingende Melodien in den Holzbläsern werden von nervösen Zuckungen der Streicher abgelöst. Die kurzen, massiven Einwürfe von Klavier und Schlagzeug erinnern an Panikattacken. Friederike Scheunchen probt mit dem 14-köpfigen Instrumentalensemble des Philharmonischen Orchesters die Oper „p r i s m“ von Ellen Reid, die am 9. Oktober im Kleinen Haus des Freiburger Theaters Premiere hat. Die Stimmen der beiden weiblichen Figuren singt sie mit ihrem hellen Sopran selbst, während sie gleichzeitig das komplexe musikalische Geschehen mit präzisen Bewegungen koordiniert. Über 200 Uraufführungen hat Scheunchen bereits dirigiert. Diese Erfahrung spürt man in jedem Takt. Ihre klaren Ansagen verbindet sie mit einem Lächeln.
„Ich liebe Herausforderungen“
Friederike Scheunchen ist keine Unbekannte am Freiburger Theater. In der vorletzten Saison leitete sie im Kleinen Haus die Uraufführung von Sara Glojnarićs Oper „Neuro-Moon“, letzte Spielzeit dirigierte sie das Philharmonische Orchester bei Liza Lims „Extinction Events and Dawn Chorus“ im Konzerthaus und in einem Filmmusikkonzert auf der Summer Stage. In der kommenden Spielzeit hat die 32-Jährige eine 50-Prozent-Stelle am Theater Freiburg, dirigiert zwei Premieren, leitet Orchesterstücke wie im 7. Sinfoniekonzert Hans Abrahamsens „Let Me Tell You“ und assistiert Generalmusikdirektor André de Ridder bei weiteren Produktionen (mit Nachdirigat). „Ich finde seine programmatischen Ideen super spannend, er kennt alles und jeden und verknüpft Musik, Stile, Leute, Orte, Formate immer neu. Ich schätze ihn als Menschen und Musiker überaus und bin sehr glücklich darüber, welches Vertrauen er mir entgegenbringt“, sagt Scheunchen im Gespräch nach der Probe.
Die Oper „p r i s m“ – die Leerstellen zwischen den Buchstaben sollen die seelischen Zwischenräume der Protagonistinnen zeigen – handelt von einem sexuellen Übergriff und dem dadurch ausgelösten Trauma. Die Komponistin Ellen Reid und die Librettistin Roxie Perkins haben in der 2018 in Los Angeles uraufgeführten 70-minütigen Oper, die mit dem „Pulitzer Prize for Music“ ausgezeichnet wurde, auch ihre eigenen Erfahrungen verarbeitet. Die Freiburger Produktion ist die europäische Erstaufführung. „Die Oper beginnt mit träumerischer, melodiöser, fast impressionistischer Musik. Und doch lässt einen sehr bald das Gefühl nicht los, dass diese musikalische ‚Zuckerwatte’ trügerisch ist, dass etwas nicht stimmt,“ erklärt Scheunchen.
Die Karriere der in Esslingen aufgewachsenen Dirigentin geht steil nach oben – gerade erhielt sie gemeinsam mit der Freiburger Mädchenkantorei das Stipendium des Reinhold-Schneider-Preises. Sie war nicht nur Mitglied der „Akademie Musiktheater heute“, sondern wurde vom Deutschen Musikrat in die Konzertförderung des „Forum Dirigieren“ gewählt, wodurch noch mehr Konzertveranstalter und Agenturen auf sie aufmerksam werden. Das Frankfurter Ensemble Modern, das Hamburger Ensemble Resonanz, das Kölner Ensemble Musikfabrik und natürlich das Freiburger Ensemble Recherche – mit all diesen hochkarätigen Neue-Musik-Formationen hat Scheunchen schon Projekte durchgeführt: „Ich habe eine große Leidenschaft für zeitgenössische Musik. Man sollte sich die Fähigkeit bewahren, sich immer wieder neu überraschen und gerne auch mal irritieren zu lassen. Mich reizt das Komplexe. Und ich liebe Herausforderungen.“
Schon früh war sie vom Theater fasziniert, als sie in Esslingen auf einer Jugendbühne stand. Nachdem sie 2017 von Trossingen an die Freiburger Musikhochschule kam, gründete sie gemeinsam mit der Klangregisseurin Lucia Kilger und dem Komponisten Clemens K. Thomas das Ensemble Scope, das spartenübergreifend und intermedial arbeitet. Ihre halbe Dozentinnen-Stelle am Freiburger Institut für Neue Musik hat sie für das Jahr am Freiburger Theater auf Eis gelegt, um noch genügend Raum für freie Engagements zu haben.
Nicht zu viel Trubel gerade? „Es ist genau richtig“, versichert die Dirigentin strahlend. „Ich gehe nach Musiktheaterproben meistens glücklich nach Hause. Wenn alle Gewerke zusammenarbeiten und etwas Gemeinsames, Neues entsteht, ist das magisch.“ Friederike Scheunchen freut sich auch schon auf die Uraufführung von Józef Kofflers 1932 komponierter Oper „Alles durch M.O.W.“ (28.06.2025), das ihr Lehrer Johannes Schöllhorn neu orchestrierte.
Inzwischen hatte „p r i s m“ Premiere am Freiburger Theater. Souverän führte Friederike Scheunchen durch den musikalisch komplexen Abend, schlug exakte Tempoübergänge und entwickelte mit dem kammermusikalisch besetzten Philharmonischen Orchester Freiburg auch klanglich Besonderes. Die Streicher hatten Schmelz, die vielen Unisono-Passagen überlappten sich perfekt. Auch der aus dem John Sheppard Ensemble und Studierenden der Freiburger Musikhochschule bestehende, auf beiden Rängen postierte Chor (Einstudierung: Johannes Opfermann), der sich immer wieder als Unterbewusstsein ins Geschehen einschaltete, war bei Friederike Scheunchen in guten Händen. Den minutenlangen Schlussapplaus nimmt sie mit einem erleichterten, natürlichen Lächeln entgegen.
- Weitere Vorstellungen von „p r i s m“: 2. und 24. November 2024, Theater Freiburg, Kleines Haus. www.theater.freiburg.de
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