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Wolfgang Rihm. Foto: Hans Kumpf

Wolfgang Rihm. Foto: Hans Kumpf

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Ineinander von Intuition und Wissen – Zum Tod des Komponisten und Musikpublizisten Wolfgang Rihm

Vorspann / Teaser

Vermutlich auch das eine Premiere: Die 20-Uhr-Ausgabe der ARD-„Tagesschau“ widmet am Samstag, 27. Juli, nach dem Rückblick auf die Olympiade-Eröffnung in Paris, zwischen einem kurzen Blick auf Zerstörungen im Gaza-Krieg und Wetterbericht dem Schaffen Wolfgang Rihms einen längeren Beitrag. Dieser rühmt einen der „ganz Großen“, der „meistgespielten Komponisten Europas“. Er hebt drei seiner Musiktheater-Werke hervor – „Die Hamletmaschine“, „Jakob Lenz“ und „Dionysos“. Ihr Schöpfer sei ein „ständig arbeitender unermüdlicher Virtuose“, dabei – die Kamera schwenkt auf eine Unterrichtssituation – durchaus „nahbar“ und „ein Menschenfreund“. Fazit: bleibende Bedeutung für das Musikleben! Dies unterstreicht ein Ausschnitt aus der Uraufführung von Rihms Beitrag zur Einweihung der Hamburger Elbphilharmonie im Januar 2017. Im Interview verweist der Komponist dann noch darauf, dass den einen seine Arbeiten zu sperrig erscheinen, anderen „zu schön“. Rihm klagt auf höchstem Niveau.

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Eigene Wege

Pointiert umreißen die „Tagesschau“-Stichworte die Bedeutung Wolfgang Rihms für die Konzertlandschaft zwischen Philharmonie und Kammermusik-Festival, insbesondere auch die für die Nische des kompositorisch neuen Musiktheaters. In der real existierenden Medienrepublik wurde dem Verstorbenen wohl die denkbar höchste Ehre zuteil.

Zuletzt, Anfang März dieses Jahres, entfaltete Rihms Hamletmaschinenmusik neuerlich ihren Furor und, ja, auch Irritationen. Die kolossale Raumwirkung der Klänge zu Heiner Müllers rüder Familienkonflikterörterung wurde begünstigt durch die von Florentine Klepper und Valentin Alfery im Kasseler Staatstheater koordinierten Choreographie von Vokalsolisten, Choristen, Tänzer und Statisten. Die immer wieder extrem wechselnden Anforderungen der Partitur verlangen besonderen Einsatz der Orchestermusiker für das, was 1987 bei der Uraufführung in Mannheim als „Katastrophenkunst wie aus dem Bilderbuch“ wahrgenommen wurde: Musik eines großen Aufbegehrens mit chaotischen Schlagzeugexzessen, brüllend intensiven espressivo- und ausgreifenden ‚Abgesangs’-Gebärden, Stilzitaten von Bach und Händel bis Wagner und Big-Band. Aber auch mit höchst wirkungsvoll eintretenden Momenten des Innehaltens und der Ruhe. Der Surround-Sound zieht das Publikum tief in die Verstrickungen der Handlung, deren verbalradikaler Text nur rudimentär zu verstehen ist. Inspiriert von der qualvollen Weltzerrissenheit des Originalprotagonisten, Shakespeares Hamlet, wollte der Komponist diese im Inneren seiner Musik hör- und spürbar machen.

Im Innersten ist nicht nur der Titel von Rihms Drittem Streichquartett aus dem Jahr 1976. Es ist Zielpunkt und zentrale Kategorie seines Musikdenkens geworden und geblieben.

Welch einen Weg hat der Autor dieser imposant zerklüfteten Theatermusik seit seinem Musiktheater-Debüt mit „Faust und Yorick“ zurückgelegt! Die Kammeroper Nr. 1 über den deutschen Schädel- und Gehirnforscher Dr. Faust, zehn Jahre vor der „Hamletmaschine“ ebenfalls in Mannheim erstmals präsentiert, nutzte einen keinesfalls nur heiteren grotesken Text des französischen Antifaschisten Jean Tardieu. Dennoch intendierte Rihm – nicht zuletzt in Anlehnung an Richard Strauss, das in vielerlei Hinsicht prägende Vorbild – einen Divertimento-Konversationston. Der Instrumentalsatz für das 16-köpfige Kammerensemble lässt helle Farben dominieren und stützt sich auf ausgedehnte Piano-Passagen, aus denen mit gelegentlichem Mahler-Anklang tonale Figuren und parodierende Reminiszenzen an Alte Musik aufragen. „Faust und Yorick“ greift auf den Sprechgesang Schönbergs zurück und zitiert Kurt Weill. Ungeniert kokettiert der Opern-Erstling mit dem Werkzeugkasten der  „Neuen Einfachheit“, die in den 1970er-Jahren heftig befehdet wurde. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung attestierte Rihm ein „schmerzlich-gebrochenes Verhältnis zu einer Tradition, die ihn zu überwältigen droht“ und äußerte leicht maliziös die Hoffnung, dass er „seine Sprache findet“.

Das ist ihm fürwahr gelungen. Mitunter etwas mäandernd. 1974 präsentierten die Donaueschinger Musiktage „Morphonie“ für Streichquartett und großes Orchester, eine Studentenarbeit Rihms – „füllig, ausgreifend, angriffig“. Vor allem, so kommentierte der Schweizer Komponistenkollege Rolf Urs Ringger anerkennend, „setzte sich der Eindruck der Übereinstimmung zwischen Klangwelt und Ausdrucksgebärde des damals 22-jährigen Komponisten fest: gross, hünenhaft, massig“. Von nun an war er in der Szene der Neuen Musik, die damals in der Regel noch mit großem N geschrieben wurde, nicht mehr zu übersehen. Und vor allem nicht zu überhören.

Wahnsinns betönte Beute

Wolfgang Rihm wuchs im Nachkriegs-Karlsruhe in keineswegs besonders hochkulturaffinem Milieu auf, freilich in Hörweite von Radio France Musique. Die Eltern ließen ihm viel Freiraum. Mit elf Jahren begann er Noten zu schreiben, ohne nennenswert mit Kompositionstechniken vertraut zu sein – von der Orgelbank aus, auf die er sich vor allem zum unreglementierten Improvisieren immer wieder zurückziehen durfte. Im geschützten Kirchenraum konnte er sich nächtlichen Klangorgien hingeben, die stark von neueren französischen Orgelmeistern inspiriert waren – da schien „das Spiel immer Ernst.“ Die Fingerübungen fanden Zuspruch im Kreis der fördernden Familie und der Freunde. In der Straßenbahn sprach er den Kompositionsprofessor Eugen Werner Velte an, der sich dann zeigen ließ, was Wolfgang bereits an Kleinen Choralvorspielen, Präludien, Albumblättern, Variationen oder Liedern zu Papier gebracht hatte. Mitunter „schulversäumnisreich“.

Velte sorgte dafür, dass sich der auffällig begabte Gymnasiast und begeisterte Chorsänger an der Musikhochschule Karlsruhe als Jungstudent einschreiben konnte. Er begann, die ungebärdige Produktivität in geordnetere Bahnen zu lenken. Das, was aus späterer Sicht als „Œuvre avant la lettre“ erschien, professionalisierte sich. Er habe sich, erklärte Rihm gegen Ende seines Lebens, „immer in einem Feld des Defizitären und gleichzeitig des robust Überbegabten aufgehalten“.

Als Zwanzigjähriger absolvierte er im Frühsommer 1972 das Abitur und fast gleichzeitig ein Staatsexamen in Komposition und Musiktheorie. Um sich in der Welt der neuen Musik an ihren „Brennpunkten“ aus erster Hand sachkundig zu machen, besuchte er nicht nur von 1970 an die Darmstädter Ferienkurse (ohne sich in die dort ausgetragenen Richtungskämpfe zu verstricken). Er bewarb sich nun auch als quasi Meisterschüler bei Karlheinz Stockhausen in Köln und pilgerte verschiedentlich zu dessen Landgut in Kürten. Da der Meister aber rasch zur Auffassung gelangte, dass er den Eleven nicht mehr viel lehren könne, verabschiedete sich dieser nach Freiburg. Am dortigen Musikwissenschaftlichen Institut legte er sich, besonders gefördert von H.H. Eggebrecht, bemerkenswerte Repertoirekenntnisse zu. Vom bestens vernetzten Wolfgang Fortner und Humphrey Searle, der 1937/38 in Wien wohl von Anton Webern noch privat unterrichtet worden war, insbesondere dann vom streng modern gesonnenen Klaus Huber ließ er sich als Komponist fortbilden und erzielte mit „Morphonie“ 1974 den erwähnten Achtungserfolg. Zum großen Vorbild war ihm Arnold Schönberg geworden. Doch die feinnervigen Ohren schlossen Zuneigung zu Brahms und Mahler mit ein. Von den lebenden Kollegen beeindruckten Rihm wohl Luigi Nono und Helmut Lachenmann mehr als der zeitweise kulturrevolutionär gestimmte Pierre Boulez oder der altkommunistisch liebäugelnde Hans Werner Henze. 

Rihm pflegte ein pragmatisches Verhältnis zu den real Mächtigen. Er interessierte sich nicht nur für satztechnische Fragen, sondern auch für gesellschaftlichen Irrsinn und individuellen Wahnsinn. Zu Silvester 1979 trug er im regionalen Hörfunkkulturprogramm „Gedankensplitter“ vor, die er mit kurzen Ausschnitten aus der 1974 komponierten Dis-Kontur für großes Orchester als musikalische Ausrufezeichen versah: „Die Atmosphäre ist voller Gewalt. Alles zittert von verhaltener oder ertragener Gewalttätigkeit. Das ist es, was ich spüre.“ Und in seinen Arbeiten immer wieder laut werden ließ.

Nach fünf von enormem Fleiß und nicht zuletzt von intensiver Auseinandersetzung mit Texten Friedrich Nietzsches erfüllten Jahren feierten Publikum und Presse die Uraufführung von „Jakob Lenz“ im März 1979 auf der kleinen Bühne der Staatsoper Hamburg als Sensation. Der zunehmend belesene Rihm hatte bemerkenswertes Gespür bewiesen mit der Entscheidung, die Novelle Georg Büchners über den Sturm- und Drang-Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz zu komponieren – getrieben von einem Stachel des „inneren Aufruhrs“. Lenz und Büchner, zwei Außenseiter in ihrer Zeit und noch lange in der Rezeptionsgeschichte, avancierten in der jungen Bundesrepublik zu offiziöser Anerkennung. So erwiesen sie sich als Garanten eines nicht nur an musikalischer Kulinarik orientierten Interesses. Für Büchner wie für Rihm war Jakob Lenz „Exponent eines von Realitätsverlust bedrohten modernen Künstlertums“, resümierte Hans-Klaus Jungheinrich nach der Premiere. „Im weiteren Sinne scheint Lenz typisch für sensible, unangepaßte Menschen der Neuzeit, denen keine befriedigenden Verbindungen mit der Umwelt möglich sind; an die Stelle der reduzierten Außenbeziehungen tritt bei ihnen ein phantasmagorisch bevölkertes Innenleben. Die Psyche wird zur Bühne.“ Insbesondere als Glücksfall erwies sich das vom Kompositionsauftrag gesetzte Format Kammeroper hinsichtlich der Beweglichkeit und ‚Machbarkeit’ des Bühnenwerks. Es gehört längst zu den meistgespielten Arbeiten dieser Sparte.

Generell entwickelte Rihm früh ein Faible für die poètes maudits. Zu den von ihm bevorzugten Dichtern gehören im Wahn endende – Hölderlin, Nietzsche, Artaud. Drei Liederzyklen schrieb er auf Gedichte zweier berühmter Schizophrener: „Alexander“ (Ernst Herbeck) und Adolf Wölfli.

Der große Artaud-Komplex

Rihms Aufstieg zum Jung-Star war kometenhaft verlaufen. Zunehmend unangefochten konnte sich der Komponist nach dem Erfolg des „Lenz“ im Opern- und Konzertbetrieb bis dato unbekannten Sujets zuwenden und die Horizonte seiner Tonsprache produktiv erweitern: Er entdeckte den vom Surrealismus, vom balinesischen Theater wie „bewusstseinserweiternden Drogen“ geprägten französischen Theoretiker und Experimentalkünstler Antonin Artaud für sich. Jahrelang arbeitete er sich an dessen Texten und Visionen heftig ab, verleibte sich diesen „neuen Kontinent“ gleichsam mit Haut und Haaren ein.

Die reiche Ernte dieser Anstrengungen schlug sich in zahlreichen Werken für verschiedene Besetzungen nieder – 1980/81 mit der „Tutuguri“-Serie (I, II, III für Orchester, IV für großes Orchester und Sprecher) sowie „Tutuguri“ VI für sechs Schlagzeugspieler. Diese „Geräuschplastik“ von gut einer halben Stunde Dauer operiert ausschließlich mit den Parametern Geräusch, Zeit und Dynamik, ist mit „ausgestufter Monochromie“ weitgehend auf Fellklang konzentriert. 1982 folgte nach verschiedenen Teil-Uraufführungen das insgesamt in Berlin realisierte „Tutuguri“-Ballett, ein Poème dansé, bei dem sich Rihm an Michel Foucaults These über Artaud hielt und ein polyszenisches, simultanes, zerstückeltes Theater entwickelte, in dem Masken tanzen, Körper schreien und Hände gestikulieren.

Hauptsächlich auf Artaud basiert insbesondere auch „Die Eroberung von Mexico“, wohl Rihms größtes und kulturgeschichtlich bedeutendstes Projekt. Vier Jahre, in seiner Arbeitsökonomie eine sehr lange Zeitspanne, nahm ihn dieses „Hauptwerk“ schwerpunktmäßig in Beschlag. Das dem Zusammenprall der Denkformen und Kulturen zu Beginn der Neuzeit gewidmete Musiktheater zum Azteken-Fürsten Moctezuma und seinem Gegenspieler, dem Konquisdator Hernán Cortés, erblickte mit Zeitverzögerung an der Hamburger Staatsoper das Licht der Opernwelt. Die Fertigstellung der Partitur verzögerte sich bis 1992 wegen der Arbeit an der „Hamletmaschine“ und der von der Deutschen Oper Berlin für 1987 bestellten „Oedipus“-Oper sowie weiteren „dazwischengeschobenen“ Orchesterwerken wie „Ungemaltes Bild“, „Ins Offene“ oder „Gesungene Zeit“ für Violine und Orchester. Längst übertraf die Nachfrage des Marktes die Liefermöglichkeiten auch eines so schnell und meist mit sicherer leichter Hand schreibenden Tonsetzers, selbst wenn dieser immer wieder Teile früherer Arbeiten recycelte.

Als Nachzügler gehört zu Rihms Arbeiten, die Artaud reflektieren, schließlich auch die auf Text verzichtende semiszenische Kreation „Séraphin“ für Stimmen und Instrumentalensemble. Die Alte Oper Frankfurt präsentierte 1994 deren „1. Zustand“.

Der Weg hinaus aus musikalischen Schulbildungen, Systemzwängen oder – wie Rihm schreibt – „Stildiktaten“ der westdeutschen Nachkriegsmoderne ins Offene, ins Freie (und zu einer im wesentlichen freiberuflich bestimmten Existenz) mag als genial-kontinuierliche Grundlinie des Rihmschen Künstlerlebens und der in ihm wechselnden Schreibweisen erscheinen. Zu Papier gebracht wurden die Werke wie das sie begleitende Theoretisieren samt den teils durchaus polemischen Kommentaren zum Musikleben und zu Rihms Konkurrenten auf dem umkämpften Markt allemal säuberlich mit Bleistift. Ganz „altmeisterlich“.

Zweieinhalb Jahre vor seinem Tod bemerkte Rihm mit Blick auf die Kathedralen der Picardie und in ungeschmälerter Selbsteinschätzung, ihn fasziniere „das Ineinander von Intuition, Wissen, dieses Prinzip des Trial and Error, Vertrauen und Gemeinschaftswille und natürlich die Versammlung der Ästhetiken.“

Volles, aber gefährdetes Leben

Längst war der bereits sehr früh durch Dutzende von Stipendien und Preise geförderte Karlsruher Komponist bestens in Institutionen des Musikbetriebs eingebunden, vornan das Präsidium des Deutschen Musikrats, das Kuratorium der Heinrich-Strobel-Stiftung der Landesrundfunkanstalt, den Aufsichtsrat der GEMA, das Wissenschaftskolleg zu Berlin und die für die Szene der Neuen Musik so einflussreiche wie finanzkräftige Siemens-Musikstiftung. Sie kürte ihn 2003 zum Hauptpreisträger. Die Salzburger Festspiele widmeten ihm wie keinem anderen wiederholt gewichtige Programmschwerpunkte. Das erste Bundesverdienstkreuz stellte sich 1989 ein (es folgten weitere der höheren Klassen). Ein repräsentativer Saal im Neubau der Karlsruher Musikhochschule wurde noch zu Lebzeiten des Namensspenders „Wolfgang Rihm Forum“ getauft.

Tatsächlich konnte sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts der Eindruck einer gewissen Ubiquität Rihms einstellen, den sein Wirken als gewichtiger Netzwerker unterstrich. Rihm ließ sich für Bedürfnisse der beiden offiziösen christlichen Konfessionen einbinden. Für das Kunstfest Weimar steuerte er einen ausladenden „Penthesilea-Monolog“ für Sopran und Orchester bei, für das Münchener Musiktheater die Nächtliche Szene „Im Gehege“ nach einem Text von Botho Strauß, für das Schwetzinger Rokoko-Theater und die Sopranistin Mojca Erdmann die höllische Goethe-Szene „Proserpina“. Sie wurde Teil des Kombinationskunstwerks „Drei Frauen“ in Basel. Den Schlusspunkt setzte eine neuerliche Auseinandersetzung mit Nietzsche – „Dionysos“ bei den Salzburger Festspielen 2010.

Die Konzertsphäre erhielt noch an die zweihundert Opera zugeeignet. Darunter die Orchesterstücke „Das Lesen der Schrift“ und „Verwandlung“ sowie das für Sol Gabetta geschriebene späte Concerto en Sol für Violoncello und Orchester. Rihm profilierte sich als Festredner und als vom „Glück des Weitergebens“ beseelter Dozent – und dabei nicht zuletzt auch bekennender Genießer. Doch zunehmend suchten ihn schwere Krankheitseinbrüche heim und reduzierten den Aktionsradius. Sehr lange trotzte er den Beeinträchtigungen von Leben und Wirken.

Verbale Hochsprünge

Wolfgang Rihm bereitete die an Fragen der gegenwärtigen Künste und deren Galionsfiguren interessierte Öffentlichkeit gründlich auf sein Ableben vor – gleichsam zu Wasser, Lande und Luft: Interviews in den repräsentativen Printmedien und darüber hinaus, in Rundfunkgesprächen und TV-Portraits enthielten allemal auch Krankheitsberichte und Durchhaltebekundungen. Am 27. Juli starb er in Ettlingen bei Karlsruhe. Und wie vom Venedigreisenden Gustav von Aschenbach lässt sich mit den Worten Thomas Manns sagen: „Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode“. Spätestens am Mittag musste sich online gemeldet, also Vorfabriziertes eingepflegt haben, wer auf der Überholspur der Superlative mithalten wollte. Da ist es nicht getan mit den routinierten Nachruf-Formeln, er habe mit „vitaler Schaffenslust“ und „unerschöpflicher Fantasie“ (als könnte es dergleichen geben!) „jahrzehntelang nachhaltig geprägt“. Die üblichen Verdächtigen überboten sich mit den Bekundungen, dass sie „Rihm unendlich viel zu verdanken“ und buchstäblich alle Begegnungen mit ihm „bereichert und erfüllt“ hätten. Nun blicken sie „mit höchstem Respekt und Dankbarkeit auf die vielen Sternstunden“ zurück „die sie dem vergleichslosen Werk Wolfgang Rihms“ verdanken. Als würden nicht gerade die eloquenten Manager des Betriebs beständig vergleichen – und die Rezensenten tun es im günstigen Fall ebenso professionell. Ein besonderer Volltreffer: „Sein Tod reißt einen Krater in unsere Welt“. Bei allem schuldigen Respekt: Eine solche Eruption warmer Worte hat Freund Wolfgang nicht verdient.

Das eine oder andere Resümee mag zum genaueren Nachdenken anregen, wie z.B. das in Rihms Heimatsender SWR vorgetragene: Als „Berater allerorten agierte er wirkungsvoll, uneigennützig und kenntnisreich“. Mag Letzteres weithin konsensfähig erscheinen, lässt sich beim uneingeschränkten Hinweis auf die Uneigennützigkeit eine Brise Euphemismus vermuten und drängt sich bei der vollen Doppelwirkung von Werk und Ratgebertätigkeit die Frage nach der kulturpolitischen Richtung der Ratschläge und Empfehlungen auf. Warum aber wurde die diskutable Eloge erkennbar unzutreffend mit dem Epitheton „allerorten“ garniert, wo der nun posthum Geehrte seine Einsatzorte doch sehr zielgerichtet wählte (und ihre Zahl klein hielt), kultur- und kirchenpolitisch durchaus auch mit einseitigen Präferenzen agierte? Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth war klug beraten, als sie in ihrer Würdigung anmerkte: „Wir verlieren eine wahre Institution der Musikwelt“.

Das Lebenswerk des „Unermüdlichen“ ist, wenn auch wohl nicht ganz vollendet, nun definitiv abgeschlossen. Er wird der Berliner Staatsoper die vereinbarte „Saul“-Oper nicht mehr liefern. Der hoch motivierte Urheber so vieler für lebenskräftig erachteter Werke ist von den einschlägigen Abteilungen des Medienbetriebs in den Pantheon der Guten Geister der Bundesrepublik Deutschland erhoben worden.

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