Europa InTakt.2010 steht für aktive Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Kulturleben der Gesellschaft. Das Projekt umfasst drei Bereiche: Musikalisch-kreative Praxis, eine Konzertreihe und einen wissenschaftlichen Kongress. Ein Konzert im Audimax der TU Dortmund eröffnet Europa InTakt.2010 am 6. Oktober 2010. nmz-Herausgeberin Barbara Haack sprach mit der Initiatorin Irmgard Merkt.
neue musikzeitung: „InTakt“ ist ein Projekt der Technischen Universität Dortmund. Wofür steht „InTakt“ – und wie kommt es zu diesem Namen?
Irmgard Merkt: Es geht uns darum, dass Menschen mit Behinderung am Musikleben teilhaben. Der lateinische Begriff intactus heißt so viel wie „unberührt“ und „in Ordnung“: „Unberührt“ von zerstörerischen oder negativen Einflüssen, und „intakt“ im Sinne von Zufriedenheit. InTakt ist der Oberbegriff für unsere musikalischen Aktivitäten, weil wir denken, dass alle Menschen intakt sind, wenn sie Musik machen oder hören. Das heißt natürlich nicht, dass im Bereich der Musik alle Menschen das gleiche können oder in gleicher Weise auf Musik reagieren. Aber so, wie sie es tun, ist es zunächst mal richtig und ihrer Person angemessen. Wir arbeiten darauf hin, dass eine bunte Gesellschaft existiert, in der sich Menschen mit Behinderung nicht ausgesondert an besonderen Orten wiederfinden, sondern im Alltagsleben dazu gehören.
nmz: Wie definiert sich der Begriff „Behinderung“, welche Arten von Behinderung unterscheiden Sie?
Merkt: Wir sprechen von Körperbehinderungen, wenn bestimmte Sinne oder Körperteile nicht funktionieren: Blinde, Gehörlose, Menschen im Rollstuhl fallen einem sofort ein. Daneben gibt es eine ganze Bandbreite von Behinderungen, die durch das System erzeugt werden, durch die Art, wie mit bestimmten Menschen umgegangen wird. Zum Beispiel mit Kindern, die nicht so schnell lernen. Das große Feld der Lernbehinderung wird zurzeit intensiv diskutiert. Die Frage ist doch: Müssen solche Kinder in eine eigene Schule oder können sie nicht gemeinsam mit anderen Kindern lernen? Da ändert sich gerade vieles, vor allem auch durch die UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung. Diese UN-Konvention stellt das separierende Schulsystem in Deutschland in Frage. Ich denke, dass sich die Integration so entwickelt, dass sich Menschen mit Behinderung vom Rand mehr in die Mitte der Gesellschaft bewegen werden.
nmz: Es gibt auch Menschen mit geistiger Behinderung …
Merkt: Natürlich gibt es die. Jede Gesellschaft wird immer einen bestimmten Prozentsatz von Menschen haben, die einer Fürsorge und Unterstützung bedürfen, die nicht selbständig leben können.
nmz: Macht die musikpädagogische Arbeit mit Behinderten einen Unterschied zwischen den verschiedenen Arten der Behinderung?
Merkt: Immer, wenn ich einem Menschen etwas beibringen will, muss ich über die Methodik nachdenken. Wenn ich mit Menschen mit Behinderung arbeite, muss ich mir ganz einfach angemessene Methoden überlegen. Es gibt zum Beispiel Menschen, die nicht lesen können. Da macht auch das Notenlesen keinen Sinn. Das Unterrichten funktioniert dann über Zeigen, über das Vor- und Nachmachen, über die Arbeit mit Symbolen oder Farben. Man erfindet eine andere Systematik. Aber im Prinzip gibt es zum Unterricht mit nicht-behinderten Kindern keinen Unterschied.
nmz: Also eine Methodik, die immer auf den einzelnen Menschen reagiert?
Merkt: Ja, natürlich. Und es gibt viele Lehrer, die das mit großer Begeisterung und Phantasie tun. Inzwischen unterrichten viele Lehrer an Musikschulen Menschen mit Behinderung. Im Rahmen einer Diplom-Arbeit wurden über 300 Lehrer von uns gefragt, welche Bedeutung die Arbeit mit Behinderten für ihren Unterricht mit nicht-behinderten Schülern hat. Fast ausnahmslos lautete die Antwort: Dadurch, dass wir behinderte Kinder unterrichten, werden wir für die Nicht-Behinderten bessere Lehrer – weil wir eine größere Vielfalt und Flexibilität an Methoden entwickeln.
nmz: Hier am Lehrstuhl werden Menschen aus- oder fortgebildet, um mit behinderten Menschen zu arbeiten. Welche Befähigung ist nötig, um das zu können?
Merkt: Auf der einen Seite braucht man den Blick auf den Menschen, mit dem man arbeitet, einen ruhigen, unaufgeregten Blick. Dann braucht man ein bestimmtes Wissen darüber, wie Menschen mit Behinderung sich verhalten können. Da gibt es immer wieder große Überraschungen. Sie sind zum Beispiel nicht immer so kontrolliert wie andere. Teilweise sind sie absolut eigensinnig und wollen bestimmte Sachen nicht spielen. Solche Verhaltensweisen darf man nicht auf sich als Lehrperson beziehen. Es ist wichtig, dass man in der Lage ist, flexibel zu reagieren, und die Sache vielleicht einfach mal auf den Kopf stellt. Diese Flexibilität ist aber eine Voraussetzung, die jeder Pädagoge braucht. Das ist nichts Behinderten-Spezifisches. Man benötigt einfach eine Grundhaltung, wie man – respektvoll – mit anderen Menschen umgeht, und natürlich ein großes Methoden-Repertoire.
nmz: Welche Projekte verbergen sich ganz konkret hinter „InTakt“?
Merkt: Zu dem Oberbegriff gehören sieben Aktivitäten, die wir hier am Lehrstuhl entwickelt haben. „InTakt“ hieß unsere erste Lehrerfortbildung hier am Institut. Daraus wurde eine bundesweite Lehrerausbildung im Block. Die Weiterbildung richtet sich an Menschen, die schon Spezialisten in der Rehabilitations-Pädagogik oder in der Sonderpädagogik sind, die im Lauf der Zeit festgestellt haben, dass sie mit Musik noch mehr erreichen können und die sich in diesem Bereich fortbilden wollen. 2003 – im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung – hat sich „InTakt“ geöffnet: In den Ländern Europas gibt es viele interessante Projekte. Wir haben also eine Reihe dieser Projekte nach Dortmund eingeladen, ihnen auf der einen Seite Workshops angeboten und uns auf der anderen Seite im Rahmen von Konzerten die einzelnen Projekte angeschaut. Das war der Einstieg zu „Europa InTakt“. In den Workshops arbeiteten Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam an musikalischen Themen – noch dazu Menschen aus verschiedenen Ländern, die sich nicht unbedingt sprachlich verständigen konnten. Man konnte sehr schön sehen, wie Menschen sich entwickeln, wenn Sprache einmal nicht das zentrale Kommunikationsmittel ist. Bei manchen Workshops konnte man bei der Sicht auf das Endergebnis nicht mehr unbedingt erkennen, wer nun eine Behinderung hatte und wer nicht.
nmz: Welche Rolle spielt bei solchen Ergebnissen die musikalisch-künstlerische Qualität?
Merkt: Diese Frage wird bei Europa InTakt 2010 das Schwerpunktthema einer begleitenden internationalen Tagung. Aus meiner Sicht ist es ganz wichtig, dass die Kulturarbeit mit Menschen mit Behinderung endlich einmal auf den Behindertenbonus verzichtet. Es werden so viele Aktivitäten beklatscht, weil man annimmt, dass die Menschen es nicht besser können. Oder weil man sagt: „Schau mal, wie die sich freuen.“ Das soll auch so bleiben: Sie sollen sich freuen, sie sollen Applaus bekommen. Aber man muss in diesem Zusammenhang auch den Qualitätsaspekt einbringen. In vielen Ländern Europas haben Künstler ihr Interesse entdeckt, mit Menschen mit Behinderung Projekte zu initiieren. Die bringen ihren eigenen künstlerischen Anspruch in die Arbeit ein. Da sollten wir ansetzen. Wir müssen eine ganz klare Ausbildungssituation schaffen: Menschen mit Behinderung sollen Instrumente lernen, in Gruppen spielen, verschiedene Musikstile kennenlernen.
nmz: Es geht Ihnen darum, Menschen mit Behinderung in das Leben der anderen hineinzuholen. Wie gehen Sie die Aufgabe an, Berührungsängste bei den Nicht-Behinderten abzubauen?
Merkt: Wenn man die Menschen mit Behinderung als Künstler zeigt, ihnen die Gelegenheit gibt, sich anders darzustellen, dann können sie auch anders wahrgenommen werden. Es fällt dann viel leichter, keine Angst zu haben. Ein Projekt ist in dieser Hinsicht wirklich interessant: In der Musikschule Hagen gibt es eine Behinderten-Band, die „Together-Band“, die mit den Hagener Sinfonikern zusammen Beatles-Lieder gespielt hat. Kein Mitglied der Hagener Sinfoniker hatte bis dahin Kontakt mit Menschen mit Behinderung. Integration geht auch andersrum. Man integriert neue Wahrnehmungen in die eigene Person, wenn man Menschen mit Behinderung begegnet.
nmz: Was leistet „InTakt“ noch?
Merkt: Wir haben eine Schriftenreihe, in der demnächst viele Praxisprojekte beschrieben werden. Dann gibt es den Förderpreis „InTakt“. Allein die Bewerbungen für diesen Preis geben einen schönen Überblick darüber, was in Deutschland los ist. Und es ist viel los. Wir haben in jedem Jahr tolle Preisträger.
nmz: Entwickelt sich da etwas, wird es mehr, wird es vielfältiger?
Merkt: Die Bandbreite wird größer, obwohl ich denke, dass noch lange nicht alle Musikstile oder Möglichkeiten der Übertragung von künstlerischen Systemen auf die Behindertenarbeit ausgeschöpft sind. Es gibt zum Beispiel sehr wenig Klassikprojekte. Man kann auch vieles aus der Neuen Musik übertragen, auch da stehen wir noch am Anfang. Als gute Signale werte ich, dass „Europa InTakt“ Teil des Kulturhauptstadtjahres RUHR.2010 ist, dass man bei Menschen, mit denen man über diese Projekte spricht, eigentlich immer offene Türen einrennt.
nmz: Stellen Sie in Zeiten der Krise fest, dass Förderungen zurückgehen oder ausbleiben?
Merkt: Nein.
nmz: Liegt das eher daran, dass Ihre über Jahre kontinuierliche und erfolgreiche Arbeit jetzt Früchte trägt, oder hat es auch damit zu tun, dass der Bereich gerade ein Thema ist, mit dem man in der Politik oder bei Geldgebern und Förderern ganz gut ankommt?
Merkt: Ich glaube, es ist beides. Die Förderer würden uns kein Geld geben, wenn sie nicht sehen könnten, dass in Dortmund schon so viel passiert ist. Sie geben ihr Geld vermutlich vertrauensvoll in unsere Hände, weil sie wissen, dass hier voraussichtlich etwas Vernünftiges damit gemacht wird. Aber es ist auch aktuell ein Thema – gerade durch die UN-Konvention und durch die ständige Arbeit der Eltern, die sich für die Integration ihrer Kinder einsetzen. Von der Rechtslage her ist alles Recht auf Seiten der Menschen mit Behinderung. Das Sozialgesetzbuch IX hat zwei Paragraphen, die das Recht auf Teilhabe formulieren. Dazu gehört auch die kulturelle Teilhabe.
nmz: „Europa InTakt“ wird es auch in diesem Jahr wieder geben. Was ist konkret geplant?
Merkt: Das Modell ist das gleiche wie 2007. Wir haben viele Workshops mit musikalischer Aktivität. Aber es gibt auch zwei Workshops zum Thema Stille. Dabei geht es um das lauschende Hören, das Hinhören, das Gegenteil von Lautstärke und Action. Der Untertitel heißt deshalb: „Musik und Stille. Klang und Bewegung“. Diese Workshops sollen für Menschen mit und ohne Behinderung spannend sein. Eigentlich brauchen wir keine eigene Behinderten-Musikpädagogik. Wir brauchen nur eine gute Musikpädagogik. Wir brauchen auch keine Sonderpädagogik, sondern eine besonders gute Pädagogik. Das ist mein Motto.