„Hello-o!“ Fast gesungen, diese Begrüßung! Und das von einem Musiker, der sich gern auch mal ganz schlecht gelaunt gibt – und sein Publikum anschnauzt, wenn jemand hustet. Aber der Pianist Keith Jarrett – einer der ganz wenigen Superstars des Jazz seit den siebziger Jahren – hat offenbar auch andere Stunden. Am 9. Juli gab Jarrett zusammen mit Bassist Gary Peacock und Schlagzeuger Jack DeJohnette das einzige Deutschland-Konzert in diesem Jahr – es fiel exakt auf den 70. Geburtstag von Jarretts Labelchef Manfred Eicher vom in München ansässigen Label ECM. Roland Spiegel, Redakteur von BR-Klassik, hatte vor dem Konzert Gelegenheit zu einem der ganz seltenen Interviews mit dem als schwierig geltenden Tastenstar – per Telefon, verbunden mit Jarretts Haus in Oxford, New Jersey, „in the woods“, wie Jarrett sagt.
neue musikzeitung: Mister Jarrett, soeben ist eine CD Ihres Trios mit Aufnahmen von 2009 aus dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern erschienen, „Somewhere“ heißt sie. Welche Erinnerungen haben Sie an den Auftritt?
Keith Jarrett: Ich erinnere mich, dass wir den Saal nicht mochten. Keiner von uns konnte etwas Gutes über den Sound auf der Bühne sagen, doch dann hörte ich die Aufnahmen – und ja: Auch wenn wir den Saal hassten, die Musik ist noch da.
nmz: Wissen Sie während eines Konzerts schon, ob aus den Aufnahmen eine gute CD werden könnte?
Jarrett: Nicht wirklich. Ich erinnere mich an Gefühle, die ich hatte – und die mich schließen lassen, dass ein Teil des Konzerts etwas Besonderes gehabt haben könnte. Es gab da zum Beispiel ein Konzert in Neapel, von dem ich sicher bin, dass es eines Tages auf CD erscheinen wird. Das wäre ein gutes Beispiel, aber Sie können es ja noch nicht kennen. Doch das bereits veröffentlichte Rio-Konzert von 2011 war interessant. Ich hatte ein Gefühl der Unbeschwertheit, als ich auf die Bühne ging. Ich war durch nichts gestresst. Und dann fand also das Konzert statt. Ich war dann aber völlig überrascht, als ich das erste Mal die Aufnahme davon hörte, das war bereits am Tag darauf.
nmz: In Ihrem Trio mit Bassist Gary Peacock und Drummer Jack DeJohnette spielen Sie sehr viele Jazz-Evergreens. Steht eigentlich die Auswahl der Stücke Abend für Abend fest?
Jarrett: Es ist fast unmöglich, Ihnen darauf nur eine Antwort zu geben. Wir wissen nie, was wir spielen werden. Das also ist Nummer eins. Nummer zwei ist: Wir haben vielleicht Stücke geprobt. Im Soundcheck spielen wir aber dann etwas Neues oder Stücke, die wir eine ganze Zeitlang vergessen hatten; aber sie kommen dann im Konzert nicht vor. Und dann wiederum spielen wir vielleicht im Konzert etwas, das wir schon lange nicht mehr gespielt haben und bei dem ich mir nicht sicher bin, ob irgendjemand von uns sich noch an die Akkorde erinnert, einschließlich mir selbst. Jack hat’s da gut, Jack ist der Schlagzeuger.
nmz: Welche Rolle spielt der Augenblick in Ihren Trio-Konzerten?
Jarrett: Jedes Konzert stützt sich auf behutsam vororganisiertes Material – so behutsam, dass wir es spontan ändern können. Jeder von uns hört dem anderen so aufmerksam zu, dass wir sofort merken, wenn etwas in der Luft liegt. Einer der Gründe, warum Jack und Gary die Jungs in der Band sind, ist, dass sie so gut hören – und die spezielle Würze, die sich in jeder Version eines Songs ergibt, sofort wahrnehmen. Nehmen Sie das Stück „Somewhere“ von der neuen CD. Nie vorher haben wir dieses Stück mit einem Vamp am Ende gespielt (einer ständig wiederholten rhythmischen Figur, über der dann improvisiert wird, Anm. d. Red.). Nie entstand unversehens am Ende einer Ballade ein neues, eigenes Stück. Doch hier war es so. Und das nur, weil ich mit dem letzten Akkord irgendetwas angestellt hatte, das die Musik in ein anderes Universum mitnahm. Und Jack und Gary folgten einfach.
nmz: Über die Solokonzerte sagen Sie immer wieder, dass Sie möglichst vorher gar nichts festlegen. Ist das ein Ideal, das Ihnen für das Trio auch vorschwebt?
Jarrett: Sie denken zu viel. Wie sollte das gehen beim Trio – wenn die anderen beiden nicht wissen, was ich tue? Es ist ein gemeinschaftliches Geschehen, keine Solo-Situation, bei der ich die Stimmung im Raum kontrolliere. Was übrigens auch nicht über eine sehr lange Strecke geht. Diese Betrachtung ist zu intellektuell. Ich habe das Gefühl: Amerikaner denken zu wenig über Kunst nach, Europäer zu viel.
nmz: Für Manfred Eicher und sein in München ansässiges Plattenlabel nehmen Sie seit Anfang der siebziger Jahre auf – und seit vielen Jahren exklusiv. Hat Manfred Eicher den Charakter Ihrer Musik eigentlich stark beeinflusst?
Jarrett: Er hat einfach zugelassen, was ich musikalisch mache – und dafür gesorgt, dass die Musik unverfälscht präsentiert werden kann. Für mich stellte er sich einfach als der perfekte Produzent heraus. Er hörte schon immer genau zu, konnte sagen, wenn Dinge gut waren. Wir waren schon auch mal unterschiedlicher Meinung – aber das ist nur gut, das ist so, wenn zwei verschiedene Menschen aufeinander treffen. Wenn ich mir eine Sache in den Kopf gesetzt habe, legt er mir keine Steine in den Weg, und er treibt keine Spielchen. So gesehen ist er der beste Freund, den ich habe.
nmz: Ihr einziges Deutschland-Konzert Ihrer Tournee 2013 führt Sie in die Münchner Philharmonie. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren spielen Sie wieder in der Stadt, in dem Ihr Label seinen Sitz hat. Was haben Sie noch im Gedächtnis von Ihrem auf der CD „The Out-of-Towners“ veröffentlichten Münchner Konzert von 2001 im Nationaltheater?
Jarrett: Ich verbinde keine Gefühle mit Orten, jedenfalls nicht im Sinn Ihrer Frage. Ich glaube nicht an Geburtstage. Ich glaube nicht an dreißigste Jubiläen. Irgendwann hat jemand die Tage eines Jahres festgelegt und die zwölf Monate erfunden. Das geht mich alles nichts an. Die Frage, was ich bei München empfinde: Ich empfinde nichts. Kein Ort der Welt weckt bei mir Empfindungen. In München habe ich sogar eine kurze Zeit gelebt, am Anfang, als Manfred Eicher und ich miteinander zu Städten in Europa fuhren, wo ich Konzerte gab. Aber ein Gefühl zu München – nein. Ich wurde in Allentown, Pennsylvania, geboren. Was fühle ich, wenn ich an Allentown denke? Nichts, null. Und der Ort in New Jersey, an dem ich lebe? Auch nichts.
nmz: Leben Sie in Ihrer Musik wie in einem eigenen Universum?
Jarrett: Ja, vielleicht. Der größte Teil von mir ist die Musik. Ich mache Musik, seit ich drei war. Ich lebe abgeschieden in einem kleinen Wald, eben weil ich Orte nicht mit nostalgischen Gefühlen verbinde, und das wiederum macht es mir möglich, in jedem Ort sofort aufzugehen, ohne die Bindung an einen anderen. Wenn wir dann an einem Ort spielen, stellt sich heraus: Es ist überall anders, die Leute sind überall anders. Wenn ich etwas über die Leute sagen könnte … Wann war nochmal der Auftritt in München, den Sie erwähnten?
nmz: Im Juli 2001.
Jarrett: Wenn Sie nach meinen Erfahrungen bei diesem Konzert fragen würden, hätte ich eine noch schlimmere Antwort als bei Luzern.
nmz: Und die wäre?
Jarrett: Es war so förmlich. Dieses Förmliche musste ich irgendwie auflösen. Jedes Mal, wenn ich in Deutschland auftrete, habe ich den Eindruck, ich müsste einen dunklen Anzug tragen und gerader gehen. An einem anderen Ort vor einiger Zeit in Deutschland, ich weiß nicht mehr, welchem, hatte ich das Gefühl, wir müssten jetzt besonders flippig spielen, weil die Atmosphäre so steif und so streng war. Ich will jetzt aber nicht dem deutschen Publikum den Schwarzen Peter zuschieben, ich kann auch etwas über Japan oder Amerika sagen. Das Problem mit Japan ist: Wenn es da still ist, dann gleich so, dass es sich wie tot anfühlt. In Amerika ist das Publikum mit der Zeit besser geworden, es hat gemerkt, dass es zu seiner Job-Beschreibung gehört, aufmerksam zu sein. Aber um darauf zurück zu kommen: Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen, dass ich wahrscheinlich ganz in der Musik lebe und versuche, sie auf unterschiedliche Art an unterschiedlichen Orten aufblühen zu lassen.
nmz: Spielt dabei das Publikum eine positive oder eine negative Rolle?
Jarrett: Das Publikum kann alles komplett ändern – wenn es mich mit der Fähigkeit überrascht, sich zu fokussieren. Was in dem erwähnten Konzert in Neapel passierte. Die Italiener sind nicht dafür bekannt, ein extrem ruhiges Publikum zu sein – und Neapel ist definitiv eine geräuschvolle Stadt, in vielen der wichtigen Straßen. Aber dieses Publikum hat meine Fähigkeit, leise zu spielen, vollkommen herausgelockt. Das war das leiseste Publikum, für das ich je gespielt habe. Und ich war mitten an einem Ort, von dem ich dachte, das könnte wirklich ein Problem werden.