Mit der Uraufführung von Marko Nikodijevics Oper „Vivier. Ein Nachtprotokoll“ wird am 7. Mai die 14. Ausgabe der Münchener Biennale für neues Musiktheater eröffnet. Zum letzten Mal ist Peter Ruzicka als künstlerischer Leiter für das Festival verantwortlich. Juan Martin Koch sprach mit dem Komponisten, Dirigenten und Kulturmanager.
neue musikzeitung: Herr Ruzicka. Heuer wird der 300. Geburtstag Christoph Willibald Glucks gefeiert. Ist es purer Zufall, dass Hèctor Parra bei der Biennale mit seinem Werk „Das geopferte Leben“ auf den Orpheus-Stoff zurückgreift?
Peter Ruzicka: Es gab keine Vorgaben, schon gar nicht solche, die auf Zentenarfeiern abzielen. Wir haben bei dieser letzten von mir verantworteten Biennale die Vorstellung gehabt, dass – so lautet ja auch das Motto – alles „außer Kontrolle“ ist. Wir haben sogar die herkömmliche Linie verlassen, nach der es immer junge Komponisten sein sollen, die erstmals mit dem Musiktheater in Berührung kommen. So erklärt es sich, dass zusätzlich zu den drei Uraufführungs-Debuts auch Dieter Schnebel ein Alterswerk – so bezeichnet er es selbst – beisteuert und dass es auch eine Reprise besonderer Art geben wird: Detlef Glanert, der schon bei der allerersten Biennale 1988 dabei war, kehrt mit einem sehr besonderen neuen Projekt, einer Koproduktion mit dem Residenztheater, zurück.
nmz: Diese Reprise deutet auch einen Rückblick auf Ihre Intendanz an. Wie blicken Sie darauf zurück?
Ruzicka: Aufgabe der Biennale ist es nach meinem Verständnis, beständig über ästhetische Grenzüberschreitungen nachzudenken. Dieser Leitgedanke durchzieht die Jahre, die ich künstlerisch zu verantworten hatte. Hans Werner Henze kam von der Literaturoper her, was biografisch völlig verständlich ist, hatte er doch das Privileg, mit führenden Literaten des 20. Jahrhunderts zusammenarbeiten zu dürfen. Und so hat er in seinen Biennale-Jahren auch durchweg darauf geachtet, dass zunächst einmal ein auch literarisch autonomes Libretto zur Verfügung stand. Dann beauftragte er die jungen Komponisten und ermunterte sie, sich mit diesen Stoffen musikalisch auseinanderzusetzen. Mit meinem Einstieg 1996 habe ich einen Paradigmenwechsel versucht und stärker auf die Autonomie des musikalischen Konzepts gesetzt. Und nun wäre es nach meinem Dafürhalten ganz folgerichtig, wenn die nachfolgende Intendanz wieder ganz neue Wege geht. Solche Paradigmenwechsel erscheinen gerade beim Musiktheater notwendig und fruchtbar.
nmz: Um dennoch kurz bei Gluck zu bleiben: Ist „Opernreform“ ein passendes Stichwort für die Biennale-Idee?
Ruzicka: Wir haben einzelne Biennalen schon vom Leitgedanken her so angelegt, dass der Weg der ästhetischen Erkundung wichtiger war als das Ziel. 2002 zum Beispiel ging es um „virtuelle Realität“ auf der Bühne. Wir wollten etwa herausfinden, ob es eine Internetoper oder ein interaktives Musiktheater geben kann. Das Ergebnis war: Es kann sie eigentlich nicht geben. Und so waren die Produktionen, die damals entstanden, auch keine Werke für die Ewigkeit, sondern mehr eine Zustandsbeschreibung des Jahres 2002. Das war legitim und wichtig, glaube ich. Wir wissen ja, dass gerade die wichtigsten Musiktheaterwerke des 20. Jahrhunderts durchweg grenzüberschreitend angelegt waren. Denken Sie nur an Zimmermanns „Soldaten“ oder die Oper von Lachenmann, die für mich die persönlich bedeutsame Referenz ist, da ich sie bis zur Uraufführung in Hamburg als Intendant betreuen durfte. Diese Partituren sind ja gegen alle Parameter des herkömmlichen Opernapparates angeschrieben. Und so erschien der Ansatz, nach etwas „Durchbrechendem“ für das Format der Kammeroper Ausschau zu halten, legitim und notwendig, und dazu stehe ich nach wie vor.
Repertoirefähigkeit
nmz: Ein Gradmesser für den Erfolg der Biennale war dennoch immer auch die Frage nach der Repertoirefähigkeit der dort uraufgeführten Werke…
Ruzicka: Ein Musikwissenschaftler hat mir vor einigen Jahren einmal vorgerechnet, dass nur drei Prozent aller uraufgeführten Opern noch einmal für eine weitere Aufführung an eine andere Bühne zurückkehren. 97 Prozent sind auf die Uraufführung beschränkt und verschwinden dann wieder im großen Archiv der Musikgeschichte. Im Fall der Biennale gab es für etwa die Hälfte aller Auftragswerke ein Fortleben, indem sie von anderen Bühnen übernommen wurden. Wir dürfen das nicht ganz ohne Stolz registrieren. Und Werke wie „Bremer Freiheit“ von Adriana Hölszky, „Greek“ von Mark Anthony Turnage, „Teorema“ von Giorgio Battistelli, „Marco Polo“ von Tan Dun, „Vision of Lear“ von Toshio Hosokawa, „Pnima“ von Chaya Czernowin, „Shadowtime“ von Brian Ferneyhough, „…22.13…“ von Marc André, „hellhörig“ von Carola Bauckholt, „Arbeit, Nahrung, Wohnung“ von Enno Poppe oder „Wasser“ von Arnulf Herrmann sind mittlerweile in die jüngere Musiktheatergeschichte eingegangen. Zuweilen geschieht dies auch mit einem gewissen Zeitabstand. Wenn ein neues Stück beispielsweise so singulär gelingt wie „Pnima“, dann mag sich für lange Zeit kaum eine andere Bühne an eine Zweitaufführung zu trauen. Jetzt wird das Stück fast in jedem Jahr neu produziert.
Wir schreiben mit dem, was gelingt, im besten Falle ein kleines Kapitel Musikgeschichte in eine unbestimmte ästhetische Zukunft hinein, aber wir verstehen Vieles recht erst in der Rückschau. Wir werden demnächst eine große Dokumentation herausbringen, die die wichtigsten Entwicklungstendenzen der letzten zwei Jahrzehnte noch einmal aufzeigt: vom Instrumentaltheater über das interaktive Experiment bis hin zu Werken mehr narrativen Charakters. Musiktheater wird, in welcher Gestalt auch immer, stets Geschichten vom Menschen erzählen. Bei alledem kann ein künstlerischer Leiter der Biennale nur das abbilden, was sich in der Welt abzeichnet oder ereignet. Er kann an junge Kollegen, von denen er den Eindruck gewonnen hat, dass ihr musikalisches Material eine besondere Affinität zur Szene aufweist, gezielt Aufträge vergeben, aber er darf nicht unter bestimmten ästhetischen Vorgaben komponieren lassen. Er muss deshalb weltweit unterwegs sein und sehen, wo sich künstlerisch Vorausweisendes ankündigt.
nmz: Das Weiterleben der Stücke nach der Uraufführung hat ja auch mit den Kooperationen zu tun, die Sie verstärkt mit kleineren und mittleren Theatern geschlossen haben.
Ruzicka: Wir haben, seit ich die Biennale übernommen habe, keine Erhöhung des Budgets gehabt, sondern eher ein Einfrieren der Ansätze. Vielleicht sind wir im Vergleich zu anderen Institutionen dabei etwas unterproportional gekürzt worden. Was aber real für künstlerische Produktionen zur Verfügung steht, ist weniger geworden. Ich habe darauf reagiert, indem ich vermehrt Koproduktionen angestrebt habe, allerdings stets mit dem Primat der Uraufführung in München. Am Anfang war dies eher schwierig. Mittlerweile ist es so, dass ich das doppelte Volumen an neuen Produktionen realisieren könnte, weil sehr viele Institutionen gerne mit uns zusammenarbeiten.
nmz: Ansonsten sind sie ja mit Ihren Produktionen nicht an bestimmte Institutionen gebunden. Was bedeutet das für die künstlerische Arbeit?
Ruzicka: Da wir keine eigenen Produktionsmittel haben, engagieren wir alles auf dem freien Markt. So konnten wir auch ungewöhnliche Wege gehen, zum Beispiel durch Einbeziehung der europäischen Spezialensembles für Neue Musik oder etwa auch durch eine Verpflichtung des Bundesjugendorchester, das Sarah Nemtsovs Oper vor zwei Jahren ganz vortrefflich gespielt hat. Das ist ein Privileg, das ich als jemand, der eher vom großen Apparat, vom Staatstheater, vom Festival kommt, gar nicht hoch genug schätzen kann: Wir sind nicht darauf angewiesen, bestimmte Kollektive unbedingt beschäftigen zu müssen, sondern können jeden künstlerisch geforderten Weg, auch den des Experiments, ohne Kompromisse verfolgen.
nmz: Gibt es Stücke aus Ihren Biennale-Jahrgängen, in denen Sie ein besonderes Potenzial angelegt sehen für eine Weiterentwicklung des Musiktheaters, oder solche, wo diese Potenzial noch nicht erkannt ist?
Ruzicka: Wir hatten etwa bei der letzten Biennale sehr viel Glück mit dem Stück „Wasser“ von Arnulf Herrmann. Hier gelang ein Ineinander-Aufgehen eines musikalisch wie szenisch schlüssigen Konzepts, das sich dann in der Bühnenwirklichkeit selbst erklärte. Im Besonderen war das Verhältnis zwischen real erklingender Musik und live-elektronisch modifiziertem, sinnlichen Klang perfekt abgestimmt. Dabei wurden neue harmonische Wege eröffnet, die nachwirken werden. Andererseits gibt es Stücke, deren Potenzial vielleicht noch nicht recht erkannt ist. Ich denke da an „Angelus Novus“, die Oper von Claus-Steffen Mahnkopf aus dem Jahre 2000, die in einer zweiten Lesung noch einmal szenisch ganz neu angegangen werden müsste. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass das Stück angesichts seines komplexen ästhetischen Reichtums noch eine Zukunft haben wird.
nmz: Vor zwei Jahren gab es eine Grundsatzdiskussion zur alten Opernfrage nach der musikalischen Autonomie, nach dem Verhältnis der Musik zum Text, zum Drama. Wie würden Sie diese für die Gegenwart beantworten?
Ruzicka: Die „süddeutsche These“, die Ausgangspunkt dieser Diskussion war, lautete ja zugespitzt, die Neue Musik habe mittlerweile einen Grad von Autonomie erreicht, der es ihr nicht mehr erlaube, eine dienende Funktion im Musiktheater auszuüben, und dies sei nun einmal ein unverzichtbares Wesenselement der Oper. Ich glaube, wenn man das ins 20. Jahrhundert zurückverfolgt und diesen Maßstab anzulegen versucht, lässt sich das nicht bestätigen. Die These funktioniert schon bei Bergs „Wozzeck“, Zimmermanns „Soldaten“ oder Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ nicht. Diese Werke sind von ihrer musikalischen Struktur her absolut durchgeformt und autonom, bis in die letzte Note. Wie wäre es dann zu erklären, dass gerade in ihnen die Referenzwerke des Opernschaffens im 20. Jahrhundert gesehen werden? Ich glaube nach wie vor, dass grenzüberschreitende ästhetische Visionen immer wieder in die Mitte des Theaters zurückführen. Wenn sich Musiktheater dagegen bloß mit „dienenden“ Versatzstücken, Chiffren und Verweisungszusammenhängen bescheidet, fordert das Gegenzeichen heraus. Sich mit dem bestehenden ästhetischen Vokabular zufrieden zu geben, halte ich für ungenügend. Wir müssten auch neu darüber nachdenken, wo zukünftig so etwas wie künstlerischer Fortschritt liegen könnte. Fortschritt bedeutet dabei nicht unbedingt im Adornoschen Sinn Materialfortschritt. Vielleicht sollten wir uns mit künftigen künstlerischen Projekten nicht zuletzt auch dem politischen Diskurs, den brennenden weltweiten Fragestellungen unserer Zeit, auf künstlerischer Ebene nähern.
Gesellschaftliche Spiegelungen
nmz: Beim diesjährigen Programm spielt der 1983 ermordete Komponist Claude Vivier eine besondere Rolle. Wie kam es dazu, dass Marko Nikodijevic ihn zum Thema seiner Auftragsoper gemacht hat?
Ruzicka: Wir haben vor vier Jahren erstmals darüber gesprochen, als Marko Nikodijevic mir großem Enthusiasmus von seiner Beschäftigung mit Viviers Musik erzählt hat. Da entstand spontan die Frage, ob er sich vorstellen könne, sein „alter ego“ zum Gegenstand eines Musiktheaters zu machen. Was das textliche Substrat anbelangt, so hatten wir viel Glück mit Gunther Geltinger, mit dem in gemeinsamer Arbeit ein „work in progress“ entstand. Und daraus ist eine vielfach verschichtete, komplexe Form entstanden, nicht bloß eine tönende Biographie mit dem selbst vorausgeahnten Ritualmord.
nmz: Wird Nikodijevic konkret auf Viviers Musik reagieren?
Ruzicka: Nicht im direkten Sinne! Aber es wird Als-ob-Zitate geben, soweit ich die Partitur bisher gelesen habe, an denen nur ein bestimmtes Klangbild imaginiert wird, das man wiedererkennen mag, wenn man die Partituren Viviers kennt.
nmz: Bei Sammy Moussas „Vastation“ scheint es eine klare, erzählende Handlung zu geben?
Ruzicka: Ja, das Stück hat eine handfeste szenische Dimension. Es wird eine Geschichte erzählt, die in den politischen Raum eingreift. Eine Fragestellung ist ja immer geblieben: Was kann Musik in der gesellschaftlichen Spiegelung leisten? Kann sie Probleme in sich aufnehmen? Vielleicht keine Tagesprobleme, aber doch die Frage politischer Konsequenzen, von Handlungen, die sich wiederholen: Politiker, die am Amt kleben, die ihr Amt missbrauchen, auch in Demokratien. Protokoll und Intrige, Sucht und Status, Fassade und Zynismus, Funktion und Charakter, Neigung und Notwendigkeit – das alles prallt in diesem Stück aufeinander und brodelt wie in einem Kessel, dessen Deckel „Macht“ heißt.
nmz: Detlef Glanert geht mit „Die Befristeten“ im Gegensatz zu seinen bisherigen Opern einen ganz anderen, unkonventionellen Weg. Wie wird die Zusammenarbeit mit dem Residenztheater und der Gruppe „Nico and the Navigators“ ablaufen?
Ruzicka: Das Ganze geht zurück auf eine schon lange geplante Zusammenarbeit mit Martin Kusej, dem jetzigen Intendanten des Bayerischen Staatsschauspiels. Die Besonderheit ist, dass es zwar mit Elias Canettis Drama „Die Befristeten“ eine feste Textvorlage gibt, es aber keineswegs darum ging, dazu bloß eine Theatermusik zu schreiben. Stattdessen wird sich das Stück als „work in progress“ während der Proben erst entwickeln. Glanert hat einige Szenen mit kurzen musikalischen Gestalten vorbereitet und entwickelt jetzt mit den Schauspielern gemeinsam eine musikalische Form. Das geschieht bewusst erst in den letzten Wochen vor der Premiere. Man wird noch bei der Uraufführung verfolgen können, wie sich die musikalisch-szenische Formung entwickelt. Es wird ein Zwitter sein zwischen Musik- und Sprechtheater, bei dem die Instrumentalisten mit auf der Bühne agieren werden.
nmz: Was erwarten Sie sich von Dieter Schnebels Kammertheater „Utopien“?
Ruzicka: Ich wusste seit langem, dass er noch einmal ein Musiktheater in Angriff nehmen wollte über für ihn ganz zentrale Fragestellungen, über letzte Dinge, Hoffnung, Utopie… Das verlangt ein bestimmtes szenisches Ambiente, das den Raum öffnen wird für genau auskomponierte, ritualhafte Gänge. Es werden keine Geschichten erzählt, sondern eher Gedanken „erfahrbar“ gemacht. Auch hier eine Zwitterform, eine Grenzüberschreitung in vielfacher Hinsicht, aber aus einer Altersweitsicht, bei der die Frage des musikalischen Materials eine sekundäre Rolle spielt. Schnebel zieht gleichsam die Summe seiner Ästhetik.
nmz: Mit ihrem weiteren Programm hat die Biennale immer die Münchner Szene mit eingebunden. Welche Erweiterungen ergeben sich heuer daraus?
Ruzicka: Diese Öffnung habe ich sehr gerne initiiert, weil es gerade hier in München viel künstlerisches Potenzial gibt, das mit in das Schaufenster Biennale gehört. Ein großer Wunsch war es, dass wir die Oper „Sommertag“ von Nikolaus Brass realisieren, von der schon seit langer Zeit die Rede war – ein Kammertheater, wie er es bezeichnet, das einen ganz eigenen Weg geht. Hinzu kommt eine Produktion der Musikhochschule, die Oper „Kopernikus“ von Claude Vivier, die wir als Münchner Erstaufführung bringen, eine sinnvolle Ergänzung zur Oper Nikodijevics. Hinzuweisen ist auch auf das Projekt „Innen“ von Manuela Kerer, eine musikalisch-szenische Installation in drei Phasen im Foyer des Carl-Orff-Saals, sowie die spannende Uraufführung von „de:conducted“ von Dieter Dolezel in der Black Box.
nmz: Darüber hinaus gab es in den vergangenen Jahren Kooperationen mit der Volkshochschule, Schulprojekte und weitere Angebote. Wie gestaltet sich dieser Kontakt zum Publikum?
Ruzicka: Was sehr gut funktioniert hat, waren die Angebote der Volkshochschule, eine ganze Produktion zu begleiten, also schon Monate vorher mit den Mitwirkenden ins Gespräch zu kommen. Das wird es auch diesmal wieder geben. Außerdem haben wir vor, die Serie „Nachgefragt“ weiterzuführen: Ein „Außenseiter“, also etwa ein Literat oder ein Philosophieprofessor, befragt nach einer Aufführung den Komponisten und bindet das Publikum ein. Da kann es dann auch einmal um ganz elementare Dinge gehen, die man sich vielleicht sonst nicht zu fragen traut. So etwas hat sich bei der letzten Biennale bewährt. Wie ich überhaupt unserem Publikum ein Kompliment machen möchte: Wenn wir an einem Ort wie der Muffathalle Produktionen zeigen, verfolgt dies ein Publikum, das eben nicht schon alles weiß, oder zu wissen glaubt, sondern sichtlich mit Neugier auf neue Hör- und Seherfahrungen zu uns kommt. Die Biennale ist gewiss zur einen Hälfte eine Musikmesse wie Darmstadt oder Donaueschingen für den professionellen Besucher. Zur anderen Hälfte ist sie aber ein Festival, das gerade auch Quereinsteiger, ein breiteres Publikum anlockt. Und das ist besonders wichtig, denke ich.
nmz: Wie fällt Ihre kulturpolitische Bilanz der letzten Jahre aus? Es waren ja Jahre, in denen es die Kultur zunehmend schwer hatte.
Ruzicka: Ich habe viel Glück gehabt, denn die Institute, die ich leiten durfte, hatten jeweils einen starken Rückhalt bei den Rechtsträgern und waren, auch was einzuwerbende Drittmittel anbelangt, finanziell recht gut ausgestattet. Ich konnte eigentlich immer das realisieren, was mir vorschwebte. Ganz große Restriktionen und Krisen sind mir erspart geblieben. Im Falle der Münchener Biennale gab es zwar bedingt durch die Sparzwänge kommunaler Haushaltssanierung auch gelegentliche Einschränkungen. Gleichwohl hat die Stadt München – das kann nicht hoch genug geachtet werden – die Existenz des Festivals nie in Zweifel gezogen, während bundesweit mehr als ein Viertel der Berufsorchester durch Schließung oder Fusion aus dem Kulturleben verschwand. Bei allen Beschlussfassungen des Stadtrats gab es jeweils Einstimmigkeit! Es wurde immer hervorgehoben, wie wichtig es ist, dass jenseits der hier sehr dominierenden Repräsentationskultur etwas existiert, was den Humus für kommende Jahre und Jahrzehnte bereitet, was neue Wege abseits der gängigen Oberflächenkultur geht.
Wachheit und Offenheit
nmz: Welche Pläne haben Sie für die Zeit nach der Biennale? Man hört, eine neue Oper sei in Planung…
Ruzicka: Hat sich das schon herumgesprochen? Ja, ich werde noch eine dritte Oper schreiben, von der noch nicht sehr viel Konkretes gesagt werden kann. Es gibt drei eher spirituelle Stoffe, die zwar Ähnlichkeiten haben, aber erst noch zusammengeschmolzen werden müssen, sicher keine Literaturoper. Dabei schwebt mir bewusst eine musikalische Vielsprachigkeit vor. Ich bin ja immer bei den Premierenfeiern gefragt worden: Was kann denn nach Celan kommen? Und dann nach Hölderlin? Peter Gülke meinte, jetzt sei eigentlich Adorno dran – zweiter Akt: „Adorno, der Womanizer“! Nein, es wird etwas ganz anderes werden, warten Sie bis November 2017.
nmz: Werden die Erfahrungen, die Sie durch die intensive Auseinandersetzung mit Musiktheaterwerken bei der Biennale als Intendant gesammelt haben, in Ihre kompositorische Arbeit einfließen?
Ruzicka: Es wird schon eine eigene Musiksprache bleiben, auch wenn manche faszinierende Werke meiner Kolleginnen und Kollegen durchaus Anstoß gegeben haben, über das zu verwendende musikalische Material neu nachzudenken. Ich habe vorhin Arnulf Herrmann erwähnt. Da gibt es etwas, was mich doch sehr beschäftigt: ein ganz eigenständiges harmonisches Ordnungssystem unter Einbeziehung von Live-Elektronik. Es könnte sein, dass ich an einem vergleichbaren persönlichen Ansatz arbeiten werde, zumal der Stoff, um den die neue Oper kreisen wird, danach verlangen wird: nach einem bestimmten irrealen Klangtopos.
nmz: In zwei Jahren werden Sie die Biennale dann als Zuhörer erleben. Was erwarten Sie sich?
Ruzicka: Ich finde es schön, dass meine Kollegen Tsangaris und Ott über neue Wege nachdenken, sich aus dem herkömmlichen Konzert- und Theaterbetrieb hinauszubewegen. Es ist ja ein noch nicht befriedigend gelöstes Thema: Wie geht man im öffentlichen Raum mit Musiktheater um? Die bisherigen Versuche waren eigentlich eher entmutigend, aber warum sollte es nicht Aufgabe der Biennale sein, hier einmal einen Schwerpunkt zu setzen? Jedenfalls werde ich mit großer Neugier nach München kommen und die Premieren verfolgen, natürlich etwas zurückgelehnter, als dies jetzt der Fall ist. Ich war mir mit Hans Werner Henze darin einig, dass die Biennale die Wachheit und Offenheit gegenüber aktuellen Tendenzen mit dem großen Atem der Kontinuität so gut wie möglich zusammenbringen sollte. Ich zweifle nicht dass diese spannungsvolle Arbeit auch in der nächsten Generationsspanne, von neuen Voraussetzungen ausgehend, weitergeführt werden wird.