Im September ist die neue Ausgabe des Köchelverzeichnisses (KV 2024), bearbeitet von Neal Zaslaw bei Breitkopf & Härtel erschienen. Im Auftrag der Internationalen Stiftung Mozarteum vorgelegt hat es deren wissenschaftlicher Leiter Dr. Ulrich Leisinger. Mit ihm hat Juan Martin Koch über das neue „Thematische Verzeichnis der Werke von Wolfgang Amadé Mozart“ gesprochen.
Der ganze Mozart, gedruckt und im Netz
neue musikzeitung: Im Podcast des Breitkopf Verlages haben Sie erzählt, dass Sie schon als Jugendlicher das Köchelverzeichnis gelesen haben und dann sogar auch Nummern auswendig konnten. Wie kam es dazu?
Ulrich Leisinger: Es gibt eben Jugendliche, die ihre Spleens haben… Mich hat Mozart schon immer fasziniert und mich haben Kataloge fasziniert. Es war dann naheliegend, dass ich gerne wissen wollte, was Mozart alles gemacht hat. Ich habe dann auch mit 14 Jahren beim Bärenreiter-Verlag nachgefragt, ob ich mit meinem Taschengeld die Neue Mozart-Ausgabe erwerben könnte. Das haben die dankend abgelehnt!
nmz: Wie hat man sich den Arbeitsprozess am KV 2024 vorzustellen?
Leisinger: Es gibt natürlich eine Vorgeschichte: Bald nach 1991, als die Neue Mozart-Ausgabe im Notenteil im Wesentlichen vorlag, war klar, dass das alte Köchel-Verzeichnis seine Schuldigkeit getan hatte, weil so viele Neuerkenntnisse hinzugekommen waren. Neal Zaslaw, der nun auch als Bearbeiter des KV 2024 fungiert, hat zunächst an der Cornell University ein Rohmanuskript erstellt, das dann 2012 in unsere Hände in Salzburg kam. An der Internationalen Stiftung Mozarteum ist die Akademie für Mozart-Forschung angesiedelt, mit ihr sind die führenden Mozart-Forscher der Welt ideell verbunden. Ich kannte Neal Zaslaw gut durch eine Gastprofessur an der Cornell University; auch dadurch kam die Aufgabe letztlich an mich, das Manuskript für die Publikation einzurichten. Zusammen mit Miriam Pfadt und Ioana Geanta haben wir aus dem Wissenspool der Stiftung, über unsere Bibliothek, die Briefausgabe und viele andere Quellen die notwendigen Informationen zusammengetragen und auch von vielen anderen Stellen Unterstützung erfahren.
nmz: Wie kam es zu der weitreichenden Entscheidung, von der Idee eines chronologischen Werkverzeichnisses abzurücken?
Leisinger: Dies wurde gemeinsam mit Neal Zaslaw entschieden. Es war klar, dass wir den Weg der Ausgabe von 1964 mit den zusätzlich eingeschobenen, um Buchstaben ergänzten Nummern nicht fortsetzen konnten. Es sollte für die Benutzer so bequem wie möglich gemacht werden. Man muss nun eben Nummer und Datierung separat lernen, aber das ist in den meisten anderen Werkverzeichnissen auch nicht anders.
nmz: War die Idee eines chronologischen Verzeichnisses ein Geburtsfehler des ersten Köchel-Verzeichnisses?
Leisinger: Sie war ein Stück weit zeitgebunden, von Evolutionsideen geprägt: Köchel wollte die Entwicklung des Künstlers aus Kinderjahren bis zum reifen Meister nachvollziehbar machen. Aber nun haben wir bei Mozart eben das Problem, dass es sehr viele Werke ohne Datierung gibt, und Köchel hat definitiv unterschätzt, wie schwierig es ist, Werke chronologisch einzuordnen, ohne das notwendige Handwerkszeug zu haben. Damals galt das Prinzip der Stilkritik, das nur innerhalb einer einzelnen Werkgruppe halbwegs funktioniert. Man kann zum Beispiel schon sagen, welches die früheren, welches die späteren Klavierkonzerte sind, aber bei der Verzahnung von verschiedenen Gattungen fehlt es an Bezugspunkten. Köchels Idee war gut gemeint, aber er hat die technischen Schwierigkeiten massiv unterschätzt.
nmz: Es sind nun viele Neueinträge gemacht worden, nach der ominösen KV 626 des Requiems. Wie muss man es verstehen, dass da nun dennoch Werke dabei sind, bei denen es heißt: „zweifelhafter Echtheit“?
Leisinger: Das ist ein von Köchel geerbter Terminus, der ein wenig zu dramatisch klingt. Er bedeutet eigentlich nur, dass es Kompositionen sind, bei denen man bei der Echtheit noch einmal vorsichtig sein muss, weil es keine Originalhandschrift oder einen anderen eindeutigen Beleg gibt. Es erschien uns vernünftiger, diese Stücke in den Hauptteil aufzunehmen, weil wir davon überzeugt sind, dass sie von Mozart stammen – auch wenn wir es mit unserem gegenwärtigen Wissen nicht beweisen können. So bleiben sie offen für die Diskussion. Die Erfahrung hat nämlich gezeigt, dass alles, was man in einem Anhang parkt, eigentlich verschwunden ist.
nmz: Parallel zum Erscheinen des KV 2024 ist nun eine Onlineausgabe verfügbar. Ist das ein work in progress? Im Moment sind ja noch nicht alle Informationen aus der gedruckten Ausgabe enthalten.
Leisinger: Wir arbeiten daran, das zügig nachzubessern. Vor allem die Kommentare sind wichtig. Das gedruckte Buch hat seinen bestimmten Markt, aber der ist begrenzt, auch durch den hohen Verkaufspreis für eine wissenschaftliche Publikation mit beinahe 1400 Seiten. Die Mehrzahl der Interessierten würde nie ein Köchel-Verzeichnis in die Hand bekommen, es sei denn, sie gehen vielleicht in ihre gut ausgestattete Stadtbücherei. An diese Menschen wendet sich das digitale Köchel-Verzeichnis, das zahlreiche Vorteile hat: Man kommt von den Werkeinträgen direkt zum Notenbild oder kann unter Umständen dann auch Briefe, Libretti oder andere verlinkte Dokumente einsehen. Im Augenblick hat aber das gedruckte Buch tatsächlich noch mehr und genauere Informationen als die Onlinefassung.
nmz: Die Onlineausgabe ermöglicht aber auch einen eher spielerischen Zugriff…
Leisinger: Dieser Zugang soll auch möglichst intuitiv funktionieren, sodass man etwa anhand der Farben die Werkgruppen grob unterscheiden oder durch die die Größe der Abbildung der KV-Nummern einschätzen kann, ob es sich dem Umfang nach um ein „großes“ oder „kleines“ Werk Mozarts handelt. Das ist ein Ziel unserer Arbeit an der Stiftung Mozarteum: die Interessen von Spezialisten genauso abzubilden wie die der Mozart-Liebhaber.
nmz: Haben Sie bei Ihrer Tätigkeit für das Werkverzeichnis etwas Neues über Mozart gelernt?
Leisinger: Natürlich! Am meisten überrascht hat es mich, wie viel Mozart angefangen, aber aus welchen Gründen auch immer nicht zu Ende bekommen hat. Man wusste, dass es mehr als 100 Fragmente von Mozart gibt. In Wirklichkeit sind es fast 200. Das gibt es bei keinem großen Komponisten, nicht einmal bei Schubert, von dem man immer denkt, dass er in dieser Beziehung ganz vorne liegen würde. Zum anderen gibt es eine Vielzahl an kleineren Aufzeichnungen, die in den früheren Auflagen zu großen Teilen gar nicht erfasst waren, etwa Skizzen zu über 80 Kanons für Studien- und Unterrichtszwecke. So haben wir über 300 Einzelaufzeichnungen zu Dingen, bei denen Mozart nie auf die Idee gekommen wäre, dass sie in irgendeiner Form zur Aufführung kommen könnten. All das haben wir im KV 2024 in dem komplett neuen Anhang H auf fast 100 Seiten zusammengestellt. Pointiert gesagt: Erst jetzt hat jede Aufzeichnung von Mozarts Hand eine Nummer, mit der man sie eindeutig identifizieren kann.
nmz: Schon seit der ersten Ausgabe des KV ist von Wolfgang Amadé Mozart die Rede, zunächst noch ohne Akzent auf dem zweiten Vornamen, später mit. Warum hält sich der „Amadeus“ so hartnäckig?
Leisinger: Realistischerweise ist die Chance verpasst, weil der Film „Amadeus“ von 1984 wirklich wirkmächtig war. Hätte der „Amadé“ geheißen, sähe die Welt heute anders aus, was Mozarts Namen betrifft… Die Bezeichnung „Amadeus“ ist übrigens eine „Erfindung“ des Verlags Breitkopf & Härtel, um mit der lateinischen, sozusagen unanfechtbaren Form Seriosität zu signalisieren – gutes Marketing, aber schon um 1800! Leider unhistorisch, weil Mozart sich selbst nie so genannt hat. Auf der anderen Seite darf man sich über jeden freuen, der sich in irgendeiner Form für Mozart interessiert. Man muss da nicht immer belehren. Die Sensibilisierung ist an anderer Stelle, bei den weiblichen Familienmitgliedern, viel wichtiger. „Nannerl“ ist einfach eine Koseform innerhalb der Familie, die nicht mehr salonfähig sein sollte. Mozarts Schwester heißt Maria Anna Mozart – solche Dinge sollte man voranbringen.
nmz: Der Verlag hat angekündigt, dass dies nun die letzte gedruckte Ausgabe sein wird. Bedauern Sie das? Oder ist das aus Ihrer Sicht nur konsequent?
Leisinger: Wir sind trotz allem noch ganz am Anfang der digitalen Periode. Alle, die onlinegestützte Portale aufbauen, sehen, dass die Browser sich ständig verändern, dass man immer hinterherhängt mit dem Nachprogrammieren. Das wird sich in eine Richtung entwickeln, in der Maintenance immer aufwendiger und immer teurer wird. Ein auf ordentlichem Papier gedrucktes Buch dagegen kann man auf lange Zeit verwenden. Ich denke, dass in den nächsten 30 bis 50 Jahren beide Formate nebeneinander bestehen werden, mit sicher immer größeren digitalen Anteilen. Bei Informationen, die sich schnell verändern, etwa was die Besitzer von Autographen angeht, ist es sicher intelligenter, sie gar nicht in gedruckter Form abzulegen. Wenn so etwas in einem Onlinekatalog hinterlegt ist, nützt es mehr, als wenn in 30 Jahren veraltete Daten in einem gedruckten Buch stehen.
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