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Claus-Steffen Mahnkopf.  Foto: Gabriel Brand
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„Der Schlüsselwerke kann es nicht genug geben“

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Claus-Steffen Mahnkopf im Gespräch über das neue Buch „Schlüsselwerke der Musik“
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Wer heutzutage eine musikalische Auswahl trifft, gar einen Kanon aufstellt, begibt sich in umstrittenes, ja vermintes Gelände, hat vorsichtig zwischen den Sprengsätzen von Diskursmacht und Deutungshoheit, Vergangenheitsbeschwörung und Innovationsabwehr zu manövrieren. Zumal wenn es sich dabei ausschließlich um die westliche Kunstmusik handelt, ist mit Anwürfen von Eurozentrismus und der Vernachlässigung populärer Genres zu rechnen. Und dennoch: Soeben im Wolke Verlag erschienen ist ein mit „Schlüsselwerke der Musik“ betitelter Band zur Kunstmusik des Abendlandes, eine Auswahl von 268 Werken aus über 1.000 Jahren, von der ersten Mehrstimmigkeit bis Unsuk Chin, 171 Komponisten und 10 Komponistinnen auf 300 Seiten, inklusive Zeitstrahl und Glossar. Ausgewählt und beschrieben wurden die Werke von Bernd Asmus, Claus-Steffen Mahnkopf und Johannes Menke. Mit Claus-Steffen Mahnkopf sprach für die nmz Bojan Budisavljevic.

neue musikzeitung: Herr Mahnkopf, Sie sind nicht nur Komponist, sondern auch Musikwissenschaftler und Philosoph. Holen wir also ein wenig aus. Im 17. Jahrhundert verspürte die Musik ein Bedürfnis nach einem maßgeblichen Vergangenheitsbezug, weil ihr die antiken Vorbilder abgingen, und den anderen Künsten eben nicht. Malerei, Dichtung, Philosophie der Griechen sind einigermaßen überliefert, von der Musik jedoch nichts. Im 19. Jahrhundert dann benötigte die aufstrebende Musikwissenschaft eine kanonische Ahnengalerie, um sich als eine gleichermaßen historisch-philologische neben den anderen Geisteswissenschaften zu etablieren. Es ging also auch immer um Rückversicherung, Status und Herkunft waren von nicht geringer Bedeutung. Wie würden Sie in ähnlich groben Zügen die Lage der Musik heute beschreiben, in die Ihr Schlüsselwerke-Buch hineinspielt?

Claus-Steffen Mahnkopf: Die Situation heute im 21. Jahrhundert ist deutlich anders: die Alte Musik, die Musik vor Bach, wird immer mehr erschlossen, wird aufgeführt, wird geschätzt, ist in unsere Ohren eingedrungen; die Neue Musik der letzten 100 Jahren exis­tiert, ist für das Verständnis, was Musik insgesamt sein kann, unverzichtbar, aber nicht im Konzertleben verankert.

Nichts Zentrales verpassen

Zugleich hören wir international. Nicht nur die deutsch-österreichischen Meister, sondern ebenso Solage, Tallis, Lully, Janácek und Xenakis. Es gilt, Komponistinnen zu entdecken und solche, die wichtig, aber unbekannt sind, beispielsweise Joseph Martin Kraus, Kaikhosru Shapurji Sorabji, Rued Langgaard oder Ruth Craw­ford Seeger. Unser Ansatz war nicht primär ein musikwissenschaftlicher – wir schreiben als begeisterte Musikliebhaber – oder ein musikgeschichtlicher, sondern gleichsam ein ästhetischer: Was müsste „man“ in seinem Leben gehört haben, um einigermaßen die Kunstmusik dieser vielen Jahrhunderte kennen zu können, ohne etwas Zentrales verpasst zu haben. Und weil sich das Musikleben insgesamt auf dem gesamten Planeten ausbreitet, schrieben wir das Buch beispielsweise auch für China und solche Regionen, in denen es kaum Konzerte gibt, die diese 1.000 Jahre abzudecken vermöchten.

nmz: Kommen wir zur konkreten Bedarfslage und den heutigen Zielgruppen, dem Publikum, den Studierenden und möglichen Anderen. Wozu für diese ein „Konzertführer“, wenn man googeln kann?

Mahnkopf: Googeln wird überschätzt. Diese Algorithmen haben weder einen musikalischen Geschmack noch Sachverstand. Wenn überhaupt, könnte man nach der Lektüre unserer Seiten Youtube oder Wikipedia konsultieren. Unser Buch ist auch kein Konzertführer, denn viele Stücke existieren nicht primär im Konzert – wo ist es möglich, Barbara Strozzi oder Stockhausens „Gruppen“ live zu hören? –, sondern im universal erreichbaren Audio-Archiv. Alle, die unser Buch lesen, können sofort in diesem Archiv hören, was beschrieben ist. Weil dieses aber übergroß ist, bedarf es der Orientierung und natürlich der ausführlichen Besprechung. Insofern bemühten wir uns um Vollständigkeit des Horizonts, vor allem mit der gleichwertigen Behandlung der Alten und der Neuen Musik.

nmz: Sie waren drei Autoren, die selbst über alle angeführten Werke geschrieben haben. Wie sind Sie dabei vorgegangen hinsichtlich Auswahl, Zugang und Kriterien? Vorstellbar auch, dass Sie untereinander auch heftige Kanondebatten geführt haben ... Sie bieten auch positive Überraschungen, so etwa neben den großen Bs, Bach, Brahms, Beethoven auch Berwald.

Mahnkopf: Und Burgmüller neben Buxtehude, Berlioz, Bizet, Alban Berg und Berio. Über drei Jahre haben wir vier, zusammen mit unserem Verleger Peter Mischung, diskutiert, um eine ausgewogene Balance zwischen den Jahrhunderten, den Ländern, den Gattungen, zwischen Bekanntem und zu Entdeckendem, dem scheinbar leicht Verständlichen und dem Erklärungsbedürftigen zu erlangen. Wir standen im Austausch mit zahlreichen Kollegen. Und wir haben unsere Module „normalen“ Lesern gezeigt. Ursprünglich war das Buch für Studenten gedacht, dann erkannten wir, dass es sich an alle Musikliebhaber wendet. Wir gingen vergleichbare Bücher auch aus dem Ausland systematisch durch, um Lücken zu füllen und Gegenakzente zu setzen.

Blick zurück auf eine gigantische Bibliothek

Johannes Menke ist Spezialist für Alte Musik an der Schola Cantorum in Basel, Bernd Asmus lehrt Musiktheorie an der Musikhochschule Stuttgart, ich bin in Leipzig tätig, alle haben wir Komposition studiert. Wir unterrichten diese Schlüsselwerke seit Jahrzehnten und wissen durch diesen Praxisbezug, worauf es ankommt: eine klare, direkte Sprache ohne akademisches Beiwerk. Ich bezweifle, dass ein solches Buch, das ein Nachschlagewerk ist und gleichzeitig zum wiederholten Lesen verführt, von einem Einzelnen geleistet werden könnte.

nmz: Obwohl man auch Interpretationen Werkcharakter zubilligen kann, und Sie haben ja auch Glenn Goulds zwei Einspielungen der Goldbergvariationen mit aufgenommen, so war dennoch für Sie bei der Auswahl die Kategorie des „Werks“ leitend, des verschriftlichten, formal organisierten und abgeschlossenen Opus. Werfen Sie zum Ende des Äons der analogen Schrift der Menschen nochmals einen Blick zurück, oder trieb Sie noch etwas anderes an?

Mahnkopf: Unser Buch erfasst, was existiert; über die Zukunft zu spekulieren, dessen enthielten wir uns. Deswegen setzen wir auch eine Grenze: Die jüngste Komponistin ist Jahrgang 1961. Ob wir an einem Ende stehen, können wir nicht wirklich wissen. Ich sehe vor allem viel Kontinuität, gerade weil diese Musik von 1.000 Jahren inzwischen so präsent geworden ist. Sie bildet eine gigantische Bibliothek, die immer mehr zum Bestand unserer Kultur wird. Insofern leben wir Musikliebhaber in einer glücklichen Zeit: Wir können entdecken, entdecken und nochmals entdecken.

Pragmatische Kategorie

Werk ist für uns eine sehr pragmatische Kategorie gemäß dem Urheberrecht: die individuelle Leistung eines Schöpfers, also eine musikalische Arbeit, die sich identifizieren lässt. Sie muss im übrigen nicht schriftlich sein: Eine Musik für elektronische Medien existiert nicht als Notentext. Und schon ein Blick in die ältere Musik zeigt, dass Schriftlichkeit nicht einfach selbstverständlich, sondern immer Chance und Herausforderung war: In der frühen Mehrstimmigkeit befeuerte sie die Kreativität, schränkte sie gleichzeitig aber auch ein, weil sie eine Fixierung mit sich brachte; in der Renaissance geschieht die Medienrevolution des Musikdrucks, vergleichbar mit der Druckgraphik der Bildenden Kunst; im Frühbarock versuchten die Komponisten oft, bis an die Grenzen des Notierbaren oder darüber hinaus zu gehen. Dass ein Werk sich nicht in seiner Notation erschöpft, ist klar. Andererseits spielte Schriftlichkeit aber immer eine Rolle und wird übrigens, wenn ich das so sagen darf, auch nicht verschwinden.

nmz: Ein anderer Leitbegriff war derjenige der „Qualität“. Können Sie etwas dazu sagen? Auch im Hinblick darauf, was mit dem „Fortschritt“ geschieht, angesichts derart umfangreicher historischer Bestände von unbestreitbarer musikalischer Qualität.

Mahnkopf: Unsere Analyse der bestehenden Ratgeber, Konzertführer und Kanons ergab, dass nicht selten unkritisch die bestehenden Vorlieben des Marktes abgebildet werden. Aber Mozarts „Kleine Nachtmusik“ ist nicht der Schlüssel, um Mozart zu verstehen; Ravels „Bolero“ ist grandios, aber „La Valse“ ist grandioser. Wer kennt das Liedschaffen von Brahms? Wir setzen uns auch für Werke ein, die trotz ihrer „Qualität“ im Abseits stehen, so die Zehnte Symphonie von Mahler oder Fanny Hensels Klaviertrio in d-Moll. Unter den Komponisten der Neuen Musik werden Messiaen, Bernd Alois Zimmermann und Gérard Grisey ausführlicher besprochen als etwa Cage oder Boulez.

Heikler Begriff: Fortschritt

Frei nach Adorno, Fortschritt in der Kunst lässt sich weder verleugnen noch unreflektiert proklamieren. Die Werke, die wir versammeln, stehen, was ihre musikalische Bedeutung anbelangt, nicht in einem Konkurrenzverhältnis. Der Messe von Pierre de la Rue sollte genauso viel Respekt entgegengebracht werden wie den Streichquartetten von Bartók oder den rätselhaften späten Klavierstücken von Franz Liszt. Es verbietet sich, Späteres gegenüber Früherem auszuspielen. Fortschritt sehe ich eher bei den Bedingungen der Aufführungspraxis: Konzertsäle, Probenzeiten, das Niveau der Musikausbildung, die Bezahlung der Musikerinnen und Musiker, die Standards der Studiotechnik, die Verbreitung in den Medien – wozu die öffentlichen Rundfunkanstalten gehören –, die Intelligenz der Musikpublizistik und hoffentlich auch das leidenschaftliche Engagement all derer, die Musik lieben.

nmz: Was unterscheidet denn ein Schlüssel- von einem Meisterwerk?

Mahnkopf: Der Begriff des Meisterwerks ist umstritten, deswegen haben wir ihn nicht gewählt. Idealerweise wäre ein Meisterwerk eines, in dem Konzeption, Anspruch, Ideengehalt, sinnliche Erscheinung und technische Umsetzung eine „meisterhafte“ Alliance eingehen. Schlüsselwerke schlüsseln auf, öffnen den Horizont für das, was Musik in einem breiten Sinne sein kann. Diese können auch Kleineres sein, Fragmente, Experimente, müssen also gar nicht meisterhaft im Sinne von „perfekt“ sein. In unserem Buch sind die Werke chronologisch angeordnet, es ist in gewisser Weise auch eine Musikgeschichte. Und doch wurde uns immer klarer, dass etwas aus unserer Sicht bislang eher vernachlässigt wurde. Die Werke, auch wenn sie deutlich historisch voneinander getrennt sind, werden verbunden durch musikalische Merkmale, ästhetische Wahlverwandtschaften, ähnliche konzeptuelle Fragestellungen. Sie bilden, um mit Walter Benjamin zu sprechen, eine Problemgeschichte. So können wir heute Jan Dismas Zelenka „modern“, also konzeptuell, oder Gesualdo als kühnen Harmoniker hören. Und in der Tat bezogen sich die Komponisten bei ihrem Ringen um Neues immer auch auf frühere Modelle. Gerade heute, da alles verfügbar scheint, wird das dringlich, auch und nicht zuletzt für die Hörerinnen und Hörer, in deren Ohren sich nicht nur die traditionellen zweihundert Jahre von 1700 bis 1900 eingenistet haben, sondern wie selbstverständlich auch die Klänge der Gegenwart oder der Chorgesang aus der englischen Renaissance. Diese internen und nicht nur äußerlichen Bezüge werden relevant beim Zusammenstellen von Konzerten oder bei der je persönlichen Diskothek, die im Laufe des Lebens zusammengestellt wird.

nmz: „It’s a Man’s World“ heißt einer der berühmtesten Hits von James Brown, und Gleiches lässt sich von der Geschichte unserer westlichen, weißen Kunstmusik sagen. Wie positionieren Sie Ihr Unternehmen angesichts dieser und anderer Ausschlussmechanismen?

Mahnkopf: Nach Luhmann setzte in der italienischen Renaissance eine einmalige Autonomisierung der Kunst als Gesellschaftssubsystem ein, an der weltweit immer mehr Kulturen teilhaben. Daher wird auch Musik immer flexibler in ihrer Selbstdefinition, der Horizont weitet sich. So war unser Ziel, zu öffnen, einzuschließen, zu integrieren, bekannt zu machen, zu informieren, aufzuklären. Dabei hat das Buch ein klar definiertes Thema: die westlich geprägte Kunstmusik seit dem Mittelalter bis heute.

nmz: Sie haben mit Ihren Mitautoren vorgelegt. Hoffen Sie eigentlich auf eine Fortführung der Werke- und Wertedebatte ums musikalische Erbe?

Mahnkopf: Ja, natürlich. Vor allem könnten andere kommen und für das, was wir nicht leisten konnten, ähnliche Bücher schreiben: nicht-westliche Musik, die Genres Jazz, Pop, Leichte Musik, Interpretationen, experimentelle Ansätze, Improvisation. Unser Buch umfasst 300 Seiten, mit diesen kämen vielleicht tausend zusammen. Der Bedarf ist groß und, so denke ich, die Neugierde auch.
Vielleicht darf ich noch etwas zum Erbe sagen: In gewisser Weise hatte Bernd Alois Zimmermann mit seiner Rede von der Kugelgestalt der Zeit nicht unrecht. Gewiss, die allermeiste Kunstmusik ist von früher, aber wir hören sie nicht so. Sonderbarerweise ist uns die Musik von Monteverdi, Händel oder Schubert näher als die Romane jener Zeit. Ja, sie sind unsere Musik der Gegenwart. Wir haben sie geerbt, aber sie sind nicht Erbstücke, die wir zu bestimmten Anlässen aus der Schatulle holen, sondern wie selbstverständlich „Gegenstände des täglichen Lebens“. Wenn es einen positiven Effekt der postmodernen Verabschiedung einer Fortschreibungsgeschichte gibt, dann diesen: All diese Musik, die wir mit diesem Buch in eine Konstellation bringen, bildet eine Gegenwart intensiver Anwesenheit. Daran möchten wir unsere Leser teilhaben lassen.


  • Bernd Asmus, Claus-Steffen Mahnkopf, Johannes Menke: Schlüsselwerke der Musik. Wolke, Hofheim 2019, 304 Seiten, 26,80 €, ISBN 978-3-95593-125-4

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