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Musik als Ausdruck der Künstlerpersönlichkeit, als Schöpfung des individuellen Geistes – das ist das Credo der nun 100jährigen in Berlin lebenden Komponistin Grete von Zieritz. 1899 wurde sie in Wien geboren. Sie erhielt ihre Ausbildung zur Pianistin und Komponistin in Graz und Berlin.nmz: Frau Professor von Zieritz, Sie konnten dieses ganze, nun ausklingende Jahrhundert als kritische Musikerin und Komponistin beobachten. Haben Sie sich die Entwicklung der Musik als junger Mensch so vorgestellt?
Grete von Zieritz: Es begann in den zwanziger Jahren, daß die sogenannte Neue Musik gefördert wurde, und das war so: unter den Kollegen herrschte eine kolossale Aufbruchstimmung und ein Streben danach, Neue Musik zu schreiben; aber keiner wußte so richtig, was er sich darunter vorzustellen hatte. Neue Musik, das hieß zunächst, daß man zum Beispiel Intervalle anders verwendete, so daß sie wirklich nicht mehr als Terz oder Quart oder Quint zu bezeichnen waren und man für sie keine Bezeichnung fand; alles ergab sich dann aus dem Zusammenhang – wo man Dissonanzen einsetzt, wie man sie einsetzt, in welchem Tempo und in welcher Kameradschaft. Leider ist der Begriff Neue Musik ja dermaßen entwertet und verzerrt worden.
nmz: Wie hätte man den traditionellen Stil überwinden können, ohne alles aus den Angeln zu heben? Ist das die Ursache für unsere Verunsicherung?
Zieritz: Das hängt von der Einstellung zur eigenen schöpferischen Persönlichkeit ab. Kann ein schöpferischer Mensch von sich aus eine Neue Musik auf die Beine stellen? Oder muß er sich an die Möglichkeiten halten, um eine Sache zu realisieren, die andere schon versuchen? Ich denke, man muß eine persönliche Musik schreiben – das muß von jedem Komponisten verlangt werden als Voraussetzung – er muß etwas auszusagen haben.
nmz: Ist das nicht sehr schwierig, wenn es keine Formprinzipien mehr gibt und auch kein Klangideal, keine harmonische Struktur – kann man überhaupt frei von allen Richtlinien komponieren?
Zieritz: Ja, aber wie soll man die heutige Situation beurteilen? Ist sie denn irgendwie bemerkenswert verändert worden seit Anfang des Jahrhunderts? Ich sage nein! Ist sie ja gar nicht! Denn letzten Endes sind die Komponisten ja auch abhängig davon, daß die Leute hingehen, um diese Musik, diese Neue Musik zu hören und zu beurteilen. Ist sie neu? Hat sie mir etwas Neues zu sagen? Oder hat sie mir dasselbe zu sagen, was mir andere Komponisten auch sagen? Das ist doch das Problem! Der Begriff „Neu“ ist irreführend!
nmz: Aber es gibt ja auch sehr viele Experimente, um neue Klangideale zu finden..., zum Beispiel sich von altem Instrumentarium zu lösen, um neue Klänge zu entwickeln.
Zieritz: Experimente, wie zum Beispiel einen einzigen Ton in mehreren Minuten zu produzieren oder durch Stille Spannung zu erzeugen, haben mit Musik eigentlich nichts zu tun, und vor allem – das Publikum verhält sich ja absolut ablehnend bei diesen Versuchen. Das Publikum will wirklich etwas erleben, aber durch diese Experimente erlebt es musikalisch gar nichts. Wie man sich in früheren Zeiten beispielsweise Hugo Wolf angehört hat – da war er noch in keiner Weise ein bekannter oder berühmter Mann – aber man war unwillkürlich mitgenommen. Mir ist es ja selber so gegangen, als ich als sehr junger Mensch zuerst Musik von Hugo Wolf gehört habe. Ich war von der Musik an sich fasziniert. Aber schauen Sie, wenn die jungen Leute heutzutage in ein sogenanntes modernes Konzert gehen, was erleben sie? Was erleben sie in dem Moment, wo ihnen ein Stück vorgespielt wird, das Neue Musik beinhaltet? Worin besteht diese Neue Musik? Sie gehen weg aus diesem Konzert und dann wieder in das nächste Konzert, aber nur, um festzustellen, daß diese Musik ihnen nichts gegeben hat.
Und das ist der große Unterschied zum vergangenen Jahrhundert; die Komponisten des vergangenen Jahrhunderts haben ja alle etwas mitgenommen. Die sind ja nicht nach Hause gegangen, so wie sie hereingegangen sind! Sondern die haben wirklich eine neue Aussage erlebt! Eine neu geordnete und geartete Musik, die sie sich selber erst zurechtlegen mußten. Aber sie waren davon beeindruckt. Ich habe in Österreich damals oft mit Dr. Poteschnik darüber gesprochen, denn er hat ja die Popularität Hugo Wolfs durchgesetzt und ist bis zur Todesstunde an dessen Sterbebett gesessen. Er hat sich durch Vorträge, auch in Berlin, für diese Musik eingesetzt. Alle diese Erlebnisse habe ich als junger Mensch gehabt, und die haben mich dann bestärkt, mir zu sagen: Alles was du schreibst, muß absolut wahrhaftige Musik sein, es muß zu überprüfen sein, ob das gute Neue Musik ist – aber auch wirkliche Musik und kein Experiment!
nmz: Wie, glauben Sie, kann unsere musikalische Entwicklung im nächsten Jahrtausend weitergehen? Werden wir zu einer neuen, allgemein anerkannten Kunstform finden?
Zieritz: Wenn man eine neue Form findet, braucht man auch ein Publikum, das sich für diese neue Kunstform interessiert. Inwieweit aber sind die Zuhörer überhaupt zu interessieren? Das ist die Frage, die ich bis heute nicht beantworten kann! Wodurch wird das Publikum angeregt, in ein Konzert mit Neuer Musik zu gehen? Wollen sie etwas erleben, von dem sie sich versprechen: „Das hast du noch nie vorher gehört?“ – „Du hörst wirklich etwas Neues!“ Ja, sie hören etwas Neues. Aber es ist weder schön noch ist es interessant – es ist bloß „neu“, und das ist zuwenig! Das höre ich sooft als Aussage: „Es ist zu wenig, und es ist nicht wirklich neu!“
nmz: Das ist sicher so – aber das Publikum allein kann den Weg in die Zukunft nicht weisen, sondern das müssen die Komponisten tun!
Zieritz: Ja, aber wie beurteilen wir Musik jetzt nach all diesen jahrelangen Versuchen im Konzertsaal, die ich selbst intensiv seit den zwanziger Jahren miterlebt habe? Da waren diese Experimente derart befremdend!
Der Bedarf an Neuer Musik ist nicht genügend da. Und es liegt auch an der Ausbildung. Wie lange dauert eine wirklich gute Ausbildung! Und wer kann sie – inhaltlich und finanziell – bewältigen, und wo landet er damit? Das ist ja nicht einfach, und das ist der Punkt um den es geht! Wie oft bin ich zu neuen Konzerten gegangen, war überaus enttäuscht und habe mir hinterher gesagt: „Warum gehst du eigentlich da hin?“ Wie geht es denn Ihnen damit?
nmz: Ich denke, man muß sich informieren und interessieren. Und man muß andere Kollegen ernst nehmen mit dem Anspruch, etwas Neues gearbeitet zu haben.
Zieritz: Aber wie ist das Ergebnis? Gerade wenn Sie heute in diese Konzerte gehen – es wird zwar viel geschrieben, was klanglich experimentell ist oder auch dramaturgisch so gemacht ist, daß es spannungsvoll wirkt – aber es ist dann noch kein neues Musikwerk!
Ich finde dort den musikalischen Inhalt nicht, ich vermisse oft die wirklich kompositorische Arbeit, die nur getan werden kann, wenn absolut etwas da ist, was man verändern könnte – aber wenn Sie nichts mehr mit dem Motiv anfangen können, dann erübrigt sich ja jeder Gedanke an eine Verarbeitung!
nmz: Aber das ist genau der Punkt. Ist denn traditionelle kompositorische Verarbeitung noch notwendig und überhaupt möglich? Man sucht ja nach einem neuen Umgang mit der Form und dem Klang!
Zieritz: Das ist aber zuwenig!
nmz: Was raten Sie jungen Komponisten heute?
Zieritz: Ein junger Komponist muß genauso streng erzogen werden, wie wir als junge Leute erzogen wurden. Damit er nur herausbringt, wovon er denkt: Das ist das Beste, was ich geben kann. Denn es muß ja nun mal gemessen werden mit den Werten, die wir haben! Man darf nicht vernachlässigen, Maßstäbe zu setzen! Vieles von dem, was als Neue Musik gehandelt wird, ist weder neu noch ist es Musik!