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Wolf-Dieter Seiffert, scheidender Geschäftsführer des G. Henle Verlags. Foto: Eleana Hegerich

Wolf-Dieter Seiffert, scheidender Geschäftsführer des G. Henle Verlags. Foto: Eleana Hegerich

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Die Zukunft liegt in der digitalen Note

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75 Jahre G. Henle Verlag – der scheidende Geschäftsführer Wolf-Dieter Seiffert im Gespräch
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Vor 75 Jahren wurde der G. Henle Verlag gegründet, dessen Urtext-Ausgaben im traditionellen Blauton längst zur Marke geworden sind. Mit dem geschäftsführenden Verlagsleiter Wolf-Dieter Seiffert, der seinen Posten Ende des Jahres abgibt, sprach Juan Martin Koch.

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neue musikzeitung: Anfang November haben Sie mit einem Benefizkonzert im Münchener Prinzregententhea­ter Geburtstag gefeiert, wie ist es gelaufen?

Wolf-Dieter Seiffert: Es war ein voller Erfolg, ausverkauft! Der Verlag hat sich von seiner absolut besten Seite gezeigt. All die großen Solisten und das Münchener Kammerorchester unter Christoph Poppen haben toll gespielt, die Solisten ohne Gage übrigens, sämtliche Einnahmen werden gespendet. Damit schließen wir unsere Festivitäten zum 75. Geburtstag im Wesentlichen ab.

nmz: In diesem Zusammenhang wurde auch ein Buch zur Geschichte des Verlags vorgestellt, in dem dessen Gründer Günter Henle großen Raum einnimmt. Was machte ihn aus Ihrer Sicht zu einer so besonderen Verlegerpersönlichkeit?

Seiffert: Günter Henle war wirklich eine außerordentliche Persönlichkeit. Er war ursprünglich im diplomatischen Dienst gewesen und hat sehr intensiv Klavier gespielt. Aus dem Urtext-Gedanken, aus dieser Leidenschaft für korrekte Noten heraus, hat er 1948 den Verlag gegründet – nebenbei, möchte man fast sagen, denn er war ja geschäftsführender Teilhaber von Klöckner & Co in Duisburg. Er hat bis zu seinem Tod im Jahr 1979 sehr viel Zeit und privates Geld in seinen Verlag investiert. Günter Henle hat 1973 eine Stiftung ins Leben gerufen, in die der Verlag eingebracht wurde. Dass dieser ein klares Profil hat, dass wir nur historische Textausgaben, keine Pädagogik und keine zeitgenössische Musik machen – bis auf Jewgeni Kissins Werke, aber das ist eine eigene Geschichte –, das verdanken wir Günter Henle.

nmz: Was bedeutet es, dass der Verlag der Günter Henle Stiftung gehört?

Seiffert: Die Stiftung ist weder gemeinnützig noch eine Familienstiftung. Sie dient im Wesentlichen dem Verlag, genauer der „Sicherstellung der Herausgabe von Urtexten auf wissenschaftlicher Grundlage von Werken der Musik“, wie es die Satzung festlegt. Das Vermögen kommt einzig dem Verlag zugute. Das ist eine geniale Idee, der übrigens inzwischen andere Musikverlage gefolgt sind. Letztlich ist die Stiftung ein Sicherungsinstrument für Zeiten, in denen es einem Unternehmen wirtschaftlich schlechter geht. Dazu ist es glücklicherweise bislang nie gekommen, selbst während der Pandemie haben wir sehr schöne Umsätze und Gewinne geschrieben. In anderen Worten: Stiftung und Verlag wachsen und gedeihen.

nmz: Stichwort Pandemie: Die Menschen haben in dieser Zeit also bei Ihnen viele Noten gekauft, um Hausmusik zu machen?

Seiffert: Genauso ist es. Es wurde zum einen privat viel mehr Musik gemacht und zum anderen haben die Profis, die etwa 50 Prozent unserer Umsätze ausmachen, ihr Repertoire ganz offensichtlich massiv erweitert. Kehrseite dieses großen Erfolges ist das laufende Geschäftsjahr 2023. Das Umsatzpendel schlägt klar zurück, denn die Regale der Kunden sind gefüllt.

nmz: Welche Rolle hat die App „Henle Library“ bei diesem Erfolg gespielt? Ist sie nur ein Nebengeschäft oder ein echter Faktor?

Seiffert: Die App ist mittlerweile tatsächlich ein wirtschaftlich ernst zu nehmender Faktor und – man schämt sich fast, es zu sagen – Corona hat uns auch hier enorm geholfen. Sie macht inzwischen etwa acht Prozent unseres Gesamtumsatzes aus, die Nutzerzahlen liegen im 75. Jahr des Verlags bei gut 75.000. Die Tendenz ist eindeutig, wenn man Zahlen lesen kann: Es ist nicht schwer zu prognostizieren, dass in wenigen Jahren unser digitales Angebot einen erheblichen Anteil des Umsatzes ausmachen wird. Erfreulicherweise kannibalisieren sich diese Umsätze nicht: Viele junge Musiker sagen uns, dass sie das digitale Angebot sehr schätzen, gerade für unterwegs, dass sie aber trotzdem zusätzlich die schönen gedruckten Ausgaben kaufen.

nmz: Können Sie nachvollziehen, wie genau die App genutzt wird, welche Features zum Beispiel besonders beliebt sind?

Seiffert: Es ist eigentlich erschreckend, aber das sollte jeder wissen, der sich in der digitalen Welt bewegt: Wir können jeden einzelnen Schritt tracken, allerdings, weil vollständig anonymisiert und ohne den Standort des Nutzers zu kennen unabhängig von den tatsächlichen Nutzerpersonen. Wir wissen also genau, was gemacht wird, aber nicht wer es macht. Die Hauptnutzung der App ist das Herunterladen von Stücken und das Annotieren, also die simpelste Sache. Unsere eigentlichen Features, die wir alle aufwändig programmieren, werden sehr unterschiedlich verwendet, mit Abstand am meisten die Möglichkeit, Fingersätze ein- und auszublenden. Aber auch das Springen zwischen Partitur und Stimme in der Kammermusik wird immer häufiger genutzt. Es gibt hier eine Aufwärtsentwicklung, aber die App ist noch zu jung, um wirklich präzise sagen zu können, was die Musiker wollen.

nmz: Gibt es konkrete Ideen zur Weiterentwicklung, die Sie aus dem Kundenfeedback ableiten?

Seiffert: Wir hören immer wieder, dass es lästig ist, mit mehreren Apps arbeiten zu müssen, besonders auf der Bühne, weshalb ja PDF-Noten-Reader, etwa von forScore, stark genutzt werden. Deshalb kann man unsere Noten auch per Knopfdruck einfach dort hineinschieben, was gut ankommt. Aber was forScore kann – PDFs hochladen oder gescannte Noten in einer Bibliothek zu verwalten –, das können wir auch und werden Anfang nächsten Jahres diese Funktion selbst in unserer App anbieten. Ich denke, wir werden die Musiker dann sehr bald bei uns haben.

nmz: Eine Kampfansage?

Seiffert: Wenn Sie so wollen, ja. Unsere App soll die absolut marktführende Musiker-App der Klassikwelt werden. Wer jetzt noch nicht kapiert hat, dass Noten zukünftig immer mehr digital genutzt werden und andererseits seine Noteninhalte auf Fremd-Plattformen für einen Appel und ein Ei abgibt, der hat verloren, das glaube ich ganz bestimmt. Es handelt sich um einen Transformationsprozess, wie man so schön sagt. Das bemerkt man freilich nicht, wenn man nur im gemütlichen Deutschland unterwegs ist. Schauen wir in die USA oder nach China, dort wird bereits heute massiv digital musiziert – und morgen dann auch bei uns.

nmz: Warum gibt es diese lokalen Unterschiede?

Seiffert: Nun, ein entscheidender Grund ist, dass wir es in Europa, aber auch beispielsweise in Japan mit weitgehend gesättigten Märkten zu tun haben – nicht jedoch in China beispielsweise. Es ist wirklich schwer für uns „klassische“ Musikverlage, im europäischen Herkunftsbereich der „Klassik“ noch wesentliche Umsatzsteigerungen zu erzielen. Und: Wir sind im Vergleich zur gigantischen „Pop“-Verlagswelt ohnehin in einer kleinen Nische unterwegs, im großen Musikverlagsbaum sind wir Notenverlage der „Klassiker“ ein kleiner, dürrer Ast. Denn das wirklich in größeren Stückzahlen absetzbare Repertoire ist recht dünn, eine 33. Klaviersonate von Beethoven wird es leider nicht mehr geben… Klar, es ist wunderbar und notwendig, dass wir beispielsweise Kammermusik von Fauré im Urtext herausbringen. Aber die Auflagen, um die es dort geht, bringen nicht den Erlös, der unsere Gehälter bezahlen würde. Entscheidend für uns sind die 50 bis 100 Urtext-Bestseller, die fast alle aus den 1950er und 1960er Jahren stammen und die wir natürlich immer wieder auf Vordermann bringen.

nmz: Heißt das, dass der Wettlauf der Verlage mit Ausgaben von Komponisten, die gerade frei werden, im Grunde irrelevant ist?

Seiffert: Im Prinzip haben Sie recht. Aber es gibt auch Ausnahmen: Rachmaninow hat sich bei uns rasch und überraschend zu einem neuen Bestseller entwickelt. Im nächsten Jahr wird Prokofiew frei, der Henle Verlag ist präpariert und natürlich gibt es darunter auch Titel, die in größerer Stückzahl abgehen dürften. Es spielt für uns letztlich keine Rolle, ob Bärenreiter oder Peters oder wer auch immer diese Titel macht, weil wir einfach ein treues Stammpublikum haben. Bei anderen Komponisten haben wir vergeblich mit den Originalverlagen zu kooperieren versucht, etwa bei Béla Bartók. Wie die dann damit umgehen werden, wenn nach und nach die großen „Cash Cows“ rechtefrei werden und der Henle Verlag hervorragende Urtexte in Konkurrenz herausbringt, wird sich zeigen…

nmz: Ohne in musikwissenschaftliche Grundsatzdiskussionen einsteigen zu wollen, aber der Begriff „Urtext“ ist ja eigentlich schon ein wenig merkwürdig. Warum halten Sie daran fest?

Seiffert: Der Begriff ist griffig, für das Marketing fantastisch, gerade weil er unscharf ist! Keiner weiß eigentlich so genau, was „Urtext“ ist. Vor allem Musiker nicht. Dieses Präfix „Ur“ löst in den Menschen, die etwas mit der deutschen Sprache anfangen können, etwas sehr Positives aus. Es geht sozusagen um Ursprung, um die Anfänge…

nmz: Geht es um Wahrhaftigkeit?

Seiffert: Ja, „ur“ ist unverfälscht. Es kommt da etwas wirklich Sauberes aus der Quelle heraus, ohne Verunreinigungen sozusagen. Wissenschaftlich gesehen ist der Begriff ambivalent: als Ergebnis philologischer Arbeit unterwirft sich der Text einer erprobten, überprüfbaren Editionsmethodik, als Produkt ist sein Singular („der Urtext“) hingegen insofern problematisch, als es „den“ Urtext, also den einen, in Beton gegossenen Text nicht geben kann, auch wenn das Günter Henle zu Beginn der Verlagstätigkeit wahrscheinlich geglaubt hat. Denn sobald ein Herausgeber, ein Individuum, diesen Text sozusagen aus den Quellen konstruiert, haben wir es notwendigerweise mit individuellen Editionsentscheidungen zu tun, mit Herausgeberentscheidungen, die natürlich voneinander abweichen können. Maßgeblich ist die Expertise: Wir beschäftigen sechs promovierte Musikwissenschaftler. Nennen Sie mir einen Verlag der Welt, der eine solche Zahl am Haus hat.

nmz: Sie geben Ende des Jahres den Chefposten an Norbert Gertsch ab. Bleiben Sie dem Verlag verbunden, werden Sie wieder vermehrt selbst Ausgaben machen? Oder haben Sie ganz andere Pläne?

Seiffert: Ich arbeite hier seit 33 Jahren und gehe nun im besten Einvernehmen. Ich freue mich sehr, dass Herr Gertsch mein Nachfolger wird, der ja auch schon über 25 Jahre dabei ist. Meine große Leidenschaft, die ein bisschen zurückstehen musste in den letzten Jahrzehnten, nämlich das Edieren, die kann ich jetzt wieder stärker ausleben. Es gibt bereits Titel, die auf meinem Tisch liegen, Mozartsche Klavierkonzerte zum Beispiel.

nmz: Haben Sie schon so einen schönen falschen Ton gefunden wie seinerzeit im Menuett der Alla-Turca-Sonate?

Seiffert: Ich habe noch nicht reingeschaut in die Quellen, aber meine Erfahrung ist: Wenn man erst einmal anfängt, gibt es eigentlich immer etwas zu verbessern gegenüber existierenden Ausgaben. Ansonsten werde ich dem Verlag weiter mit Rat zur Verfügung stehen, ohne dass ich dafür einen Beratervertrag hätte oder Ähnliches. Ich werde diesen wunderbaren Verlag immer unterstützen, wo ich nur kann.

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