Ende 2021 veröffentlichte Naxos die CD „Ukrainian Piano Quintets“. Hauptwerk des Albums ist das „Ukrainische Quintett“, das Borys Ljatoschynskyj während des 2. Weltkriegs komponierte und mit seiner musikalischen Aussage heute von einer buchstäblich brennenden Aktualität ist. Die nmz sprach mit zweien der Musiker, dem Ehepaar Iryna Starodub (Klavier) und Yurii Pogoretskyi (Cello), über das Album sowie über die aktuelle Lage in der Ukraine und die Musik des Landes.
neue musikzeitung: Frau Starodub und Herr Pogoretskyi, Sie sind gerade auf der Flucht, richtig?
Yurii Pogoretskyi: Ja, das stimmt, wir sind vor fünf Tagen aus Kiew geflüchtet. Das Problem ist, dass die Städte derart bombardiert werden, dass man es andauernd mitbekommt und die Situation wirklich sehr hart ist. Jede Stunde ist Sirenenalarm und es gibt Sperrstunden, manchmal sogar tageweise. Man kann seine Häuser nicht mehr verlassen. Die Bedingungen sind unmenschlich.
nmz: Wo sind Sie jetzt gerade?
Iryna Starodub: Wir sind mit unserer Familie noch in der Ukraine in einer kleinen Stadt. Hier ist bisher kein Bombenbeschuss, lediglich Sirenen heulen. Aber die Leute richten sich schon darauf ein, denn niemand weiß, wann der Krieg auch auf diesen Teil der Ukraine übergreifen wird. Hier versuchen sehr viele Menschen in alle Richtungen zu helfen und auch das Militär zu unterstützen. Sie kochen Essen, bringen es an die Front, bauen Abwehranlagen auf, kümmern sich um Bekleidung und sie helfen den Angehörigen und Familienmitgliedern in den bisher besonders betroffenen Städten. Denn es gibt so viele Flüchtlinge. Ein Teil der Leute verlässt die Ukraine, ein anderer Teil bleibt dort und benötigt Hilfe.
nmz: Können Sie als Musiker gerade irgendetwas für Ihr Land tun?
Pogoretskyi: Wir können Geld sammeln und dies dem Militär zukommen lassen, aber in unserer Funktion als Musiker können wir momentan auch nur sehr indirekt helfen. Solange sich der Krieg in unserem Land befindet, kann niemand hier ein Benefizkonzert organisieren. Das wäre natürlich auch viel zu gefährlich. Unsere Kultur in der Ukraine wird nun so lange still stehen, bis es wieder Frieden gibt.
nmz: Müssen Sie an die Front?
Pogoretskyi: Was den Militärdienst betrifft, ist es so, dass die Musiker, die als Soldaten trainiert sind, auch zum Militär gehen und das Land verteidigen müssen. Aber ich und einige meiner Kollegen gehören der vierten Novellierung an, was bedeutet, dass wir erst als Letzte mobilisiert werden – wenn es zum Äußersten käme.
nmz: Befürchten Sie das Schlimmste? Haben Sie den Angriff kommen sehen?
Pogoretskyi: Ich habe das überhaupt nicht erwartet, denn für mich war dies heute im 21. Jahrhundert keinerlei Denkmöglichkeit mehr, dass es mitten in Europa Krieg gibt. Dieser Krieg ist komplett sinnlos. Für diese unglaubliche Aggression gibt es keine Worte.
Starodub: Alle Menschen, die halbwegs normal sind, wollen Frieden. Niemand hat erwartet, dass unser großer Nachbar die Ukraine in einer derartigen Form vor sich hertreibt und attackiert. Am heutigen Tag liegt der Kriegsbeginn genau einen Monat zurück und wir beten jeden Tag für alle Menschen, die unser Land verteidigen.
Pogoretskyi: Es war für mich am Anfang überhaupt gar keine Möglichkeit, die ich mir vorstellen konnte: ein Krieg. Doch schnell wurde mir klar, dass dies nicht nur ein Angriff auf die Ukraine ist, sondern eine Gefahr für die Welt und insbesondere für Europa darstellt. Der Angriff auf weitere Teile von Europa ist jederzeit möglich und kann schon morgen geschehen. Wir danken Ihnen in Deutschland deshalb so sehr für Ihre Unterstützung.
nmz: Welche Perspektive sehen Sie für die ukrainische Kultur?
Pogoretskyi: Früher oder später muss auch hier im Bereich der Kultur wieder etwas passieren. Weltweit gibt es gerade so viele Benefizkonzerte zugunsten der Ukraine. Wir haben viele Einladungen bekommen, Konzerte zu spielen: aus Italien, Frankreich und auch Deutschland. Die Welt ist zurzeit sehr interessiert an ukrainischen Musikern und ukrainischer Musik. Aber das größte Hindernis ist momentan eben der Militärdienst, da sich Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren wehrbereit halten müssen und das Land nicht verlassen dürfen. Nun gibt es Gespräche darüber, ob sich eine Lösung für Extragenehmigungen finden lässt. Denn die Welt möchte mit uns in ein musikalisches Gespräch treten und auch tatsächlich Ukrainer aus der Ukraine spielen hören.
nmz: Wie hat sich die ukrainische Musikszene im Hinblick auf Russland in den letzten Jahren entwickelt?
Starodub: Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass der Angriff auf die Ukraine bereits 2014 mit dem Vormarsch auf den Donbass begonnen und nicht nur alleine der Angriff am 24. Februar auch die kulturelle Entwicklung ins Rollen gebracht hat. Die Dinge haben sich seit acht Jahren schon in diese Richtung entwickelt, in der wir sie jetzt vorfinden. Es ist kein Geheimnis, dass wir seither sehr schlechte politische Beziehungen zu Russland haben. Trotzdem haben immer noch einige russische und ukrainische Künstler versucht, gute Beziehungen aufrecht zu erhalten. Und natürlich lieben auch ukrainische Künstler die Musik von Tschaikowski, Prokofiev oder Schostakowitsch.
Pogoretskyi: Natürlich darf man keinesfalls vergessen, dass Tschaikowski ukrainische Wurzeln hat, was in den russischen Medien eben totgeschwiegen wird. Und auch Prokofiev ist ein ukrainischer Komponist. Wenn wir aber nun die Wurzeln der russischen und der ukrainischen klassischen Musik betrachten, muss ich sagen, dass diese völlig verschieden sind. Es handelt sich schlicht um unterschiedliche Ethnien. Die Kompositionen, die wir für unsere CD ausgewählt haben, sind sehr eigen und spezifisch. Ein roter Faden hat die Werkauswahl bestimmt.
Starodub: Als Russland 2014 den Donbass besetzt hat, war die russische Propaganda so mächtig, dass die Bevölkerung und auch die Musiker des Landes den Eindruck gewannen, es sei nichts passiert. Doch in der Realität ist seither schon die Hälfte der Beziehungen zwischen ukrainischen und russischen Musikern angeschlagen oder gar zerbrochen. Und doch gibt es auch heute noch einige wenige Musiker in Russland, die die Ukraine unterstützen.
nmz: Die CD „Ukrainian Piano Quintets“ ist ja schon Ende 2021, Monate vor dem Überfall auf Ihr Land, entstanden. Wie kam es zu dem Album?
Pogoretskyi: Die Initialidee kam von Bohdana Piwnenko, der ersten Violinistin der Nationalen Musikakademie der Ukraine Peter Tschaikowski. Piwnenko ist in der Ukraine eine sehr berühmte Geigerin. Sie machte den Vorschlag, das von Borys Ljatoschynskyj zwischen 1942 und 1945 komponierte, von ihm selbst so genannte „Ukrainische Quintett“ aufzunehmen. Und so entwickelte sich mit der Zeit die Idee, das 1961 entstandene Klavierquintett von Walentyn Sylwestrow dazu zu nehmen, zumal Sylwestrow ein Schüler von Ljatoschynskyj war. Das Werk ist musikgeschichtlich interessant, da es von offizieller Seite aus lange Zeit nicht gespielt werden durfte. Sylwestrow war einer der führenden Kiewer Avantgardisten, der in den 1960er Jahren eine größere Aufmerksamkeit erlangte, von den sowjetischen Machthabern aber stark kritisiert wurde. Und als drittes kam dann noch die zeitgenössische ukrainische Komponistin Wiktorija Poljowa und ihr 2000 entstandenes und 2020 revidiertes Stück „Simurgh-Quintett“ dazu.
nmz: Alle fünf Musiker des Albums stammen aus der Ukraine. Sind Sie miteinander befreundet und ein Ensemble?
Starodub: Tatsächlich kennen wir uns schon sehr lange Zeit. Wir sind vor mehr als zwanzig Jahren als Trio gestartet und haben seither immer in verschiedenen Besetzungen zusammengespielt. So haben wir zum Beispiel auch die „Anthologie der ukrainischen Musik“ (mittlerweile vergriffen, Anm. d. Red.) aufgenommen, denn wir wollten am liebsten ukrainische Musik spielen, auch wenn wir nicht immer die Gelegenheit bekommen, dies auch zu tun.
nmz: Was verbindet die drei Klavierquintette des Albums?
Pogoretskyi: Alle drei Werke besitzen traditionelle, für die Ukraine sehr landestypische Harmonien und national-charakteristische Spezifika. Im dritten Satz von Ljatoschynskyjs Quintett kann man etwa die Tanzmotive aus dem westlichen Teil der Ukraine erkennen und im ersten Satz einen Duma-Song, der an Kosaken-Lieder erinnert und sehr traditionell für die Ukraine ist.
Starodub: Viele ukrainische Wurzeln und historische Stimmen sind in die klassische Musik unseres Landes mit eingeschmolzen. Typisch ukrainische Folkloremotive ziehen sich auch durch alle drei Quintette. Sylwestrow lässt in vielen seiner Werke, auch im Klavierquintett, musikalische Zitate von Ljatoschynskyj anklingen, die sich just aus solch traditionellen ukrainischen Wurzeln speisen. Und was Wiktorija Poljowa betrifft: auch wenn ihr Werk mehr in der zeitgenössischen Musik zuhause ist, bleibt der spirituelle Kontext, aus dem sich ihr Schaffen speist, doch stets vernehmbar.
Pogoretskyi: Diese Werke haben mehr Emotionen, mehr Ausdruck, mehr Kontraste und sie drücken die ungeheuer starke Widerstandskraft der ukrainischen Mentalität aus, die für uns Ukrainer gerade jetzt so wichtig und bedeutend ist. Das gilt vor allem für die Musik von Ljatoschynskyj, die absolut erhebend ist. Sie drückt hoch expressiv und dabei vielschichtig den Siegeswunsch im Kampf gegen den Feind aus – und damals war das faschistische Deutschland der Feind. Der erste Satz des Werks artikuliert die Sehnsucht nach Frieden und er wirkt heute geradezu, als sei er eben aus der aktuellen Situation heraus komponiert worden. Der vierte Satz endet mit einem siegreichen Finale und auch das ist sehr ukrainisch (lacht).
nmz: Sie fühlen sich sicherlich als Botschafter der ukrainischen Musik, oder?
Starodub: Ja, das ist wahr. Denn für uns ist es sehr wichtig, dass die Menschen in der Welt unserer ukrainischen Musik zuhören können. Nicht nur aus dem simplen Fakt heraus, weil es ukrainische Musik ist, sondern weil wir davon überzeugt sind, dass es sich hierbei um sehr gute und interessante Musik auf einem sehr hohen Niveau handelt.
nmz: Wie sieht es mit der zeitgenössischen ukrainischen Musik aus?
Starodub: Vor dem Krieg gab es definitiv eine lebendige zeitgenössische Musikszene in der Ukraine mit vielen begabten jungen Komponistinnen und Komponisten. Wir spielten von ihren Werken so viele, wie wir konnten, in ganz unterschiedlichen Formationen, auch mit Orchestern. Wir haben in dieser Hinsicht wirklich unser Möglichstes getan. Wir versuchten auch, so viel Notenmaterial wie möglich von ihnen zu veröffentlichen, damit die Werke überall aufgeführt werden können.
nmz: Der Simurgh aus Poljowas Quintett ist aber doch eine Figur aus der persischen und nicht aus der ukrainischen Mythologie…
Starodub: Das ist richtig. Es handelt sich dabei um einen Vogel, der die Wiederauferstehung symbolisiert. Das „Simurgh-Quintett“ ist ein Schlüssel zu Poljowas Werk. Wir sind sehr glücklich darüber, dass wir mit der Komponistin befreundet sein dürfen und solch eine intensive Beziehung mit ihr pflegen können. Dies gibt uns die Möglichkeit, von ihr selbst zu erfahren, wie wir ihre Werke musikalisch am besten umsetzen und aufführen. Poljowa ist sehr produktiv und wir sind in einer wunderbaren musikalischen Symbiose mit ihr. Simurgh ist das Pendant zu Phoenix, dem mythologischen Vogel, der zu Asche verglüht, um daraus wieder zu neuem Leben zu erstehen. Das ist unter den jetzigen schlimmen Bedingungen in der Ukraine für uns natürlich ein ganz starkes Bild der Hoffnung.
nmz: Genau danach wolle ich Sie gerade fragen: Wie steht es um die Hoffnung – bei Ihnen und Ihren Landsleuten?
Pogoretskyi: Unsere größte Hoffnung ist natürlich, dass wir den Krieg gewinnen, dass die Ukraine souverän wird und wir unsere Grenzen zurückbekommen. Wir hoffen zudem, dass sich die Vorstellung in den Köpfen der Menschen ändert, die da meinen, die Ukraine unterscheide sich von Russland praktisch nicht. Tatsache ist, dass wir uns sogar signifikant von Russland unterscheiden. Wir haben eine andere Sprache, andere Musik und einen anderen nationalen Code. Wir drücken uns auch anders aus. Und selbst unsere Wurzeln sind ganz verschieden.
Starodub: Unsere Botschaft an die Menschen ist eine ganz simple: Verzerrt bitte die historischen Tatsachen nicht, denn unsere Geschichte ist eine ganz andere! Und natürlich ist unsere größte Hoffnung Frieden. Wir wünschen uns, ein wahrer europäischer Staat zu werden, ein Staat der EU. Und wir hoffen, dass wir bald damit beginnen können, die zukünftige Geschichtsschreibung mit Europa zu teilen und dass wir dann wirklich frei sind. Wir schreiben nun Geschichte und ich bete inständig darum, es mögen nur noch wenige Menschen dafür sterben.
Interview: Burkhard Schäfer
Die Erlöse aus dem Verkauf des Albums „Ukrainian Piano Quintets“ (Naxos 8579098) – sowie aller Alben aus dem Haus Naxos, auf denen ukrainische Musik zu hören ist – werden an die Ukraine gespendet.
Eine persönliche Liste der wichtigsten Werke ukrainischer Komponistinnen und Komponisten (transliteriert nach deutscher Schreibweise), zusammengestellt von Iryna Starodub und Yurii Pogoretskyi:
- Dmitri Bortnjansk (1751–1825): Konzerte - Cherubinischer Lobgesang Nr. 7
- Mykola Lyssenko (1842–1912): Traum, op.12
- Sergei Bortkiewicz (1877–1952): Esquisses de Crimée, Op.8
- Wiktor Kossenko (1896–1938): Poème legend, op. 12 / Violinkonzert in a-Moll / Elf Etüden in Form alter Tänze, op. 19
- Borys Ljatoschynskyj (1894–1968): Sinfonie Nr. 3
- Lewko Rewuzky (1889–1977): Sinfonie Nr. 2
- Andrij Schtoharenko (1902–1992): Fantasie für Violine-Solo
- Vitalij Hubarenko (1924–2000): Kammersinfonie Nr. 1 für Violine & Orchester, op. 14
- Jewhen Stankowytsch (Jg. 1942): Kammersinfonie Nr. 3 für Flöte & Orchester
- Oleg Kiwa (1947–2007): Kammerkantate Nr. 3 für Sopran & Orchester
- Iwan Karabyz (1945–2002): Werke für Violine & Klavier
- Walentyn Sylwestrow (Jg. 1937): Moments of memory II
- Myroslaw Skoryk (1938–2020): Carpathian Concerto für Orchester / Hutsul Triptych
Burleske für Klavier / Melodie - Hanna Havrylets (1958–2022): „Chorale“ für Streicher
- Wiktorija Poljowa (Jg. 1962): Angel Sang