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Die beiden (er im Anzug mit Sonnenbrille, sie in schwarz mit offenen Haaren) laufen über eine Wiese. Unmittelbar hinter ihnen ist ein weißes Laken aufgespannt. Am Ende der Wiese stehen zwei mehrstöckige Betonwohnhäuser.

„Die Musik, die wir spielen, entstand aus dem Leid, aus der Trauer und dem Wunsch, der Sehnsucht nach der Freude.“ – Lukas Bärfuss und Gwendolyn Masin über die Musik ihres experimentellen Bühnenprojekts „The Journey“. Foto: Florian Spring

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„Ein Wagnis, kein Risiko!“ – Gwendolyn Masin und Lukas Bärfuss im Gespräch über „The Journey“, offene Wunden und die Hoffnung in der Kunst

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Funktionierende neue Konzertformate werden in der Klassik-Branche zunehmend bedeutender. Veranstalterinnen und Veranstalter nehmen neben den traditionellen Konzerten mit perfektionierten Interpretationen des kanonisierten Repertoires immer öfter die Suche nach innovativen Projekten für ihren Konzertbetrieb auf. Im November feiert das Bühnenprojekt „The Journey“ in der Schweiz Premiere.

Das Bühnenprojekt soll Lebens- und Musikgeschichten aus dem Raum zwischen Budapest, Minsk, Odessa, Istanbul und Sarajevo erzählen und zum Klingen bringen. Dafür trägt Lukas Bärfuss Texte vor und die Violinistin Gwendolyn Masin, begleitet vom Origin Ensemble, dem Zymbalisten Miklós Lukács, spielt selten aufgeführte Musik unter anderem von Zara Levina, Mykola Lyssenko und Grigoras Dinicu.

Ist „The Journey“ also eine musikalische Lesung, deren Neuerungen – einfach gesagt – darin liegen das klassische Konzertrepertoire zu erweitern? Die Text- und Musikrecherche ist zu dem Projekt abgeschlossen, bald beginnen die Proben. Um vorab herauszufinden was das Besondere ist, das sich Gwendolyn Masin und Lukas Bärfuss von ihrem Bühnenprojekt versprechen, hat Mathis Ubben dem untypischen künstlerischen Leitungsduo aus Violinistin und Schriftsteller ein paar Fragen gestellt. Das Gespräch wurde vor dem 7. Oktober – dem Angriff der Hamas auf Israel – geführt.

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neue musikzeitung: Ganz einfach gefragt: Was erwartet das Publikum bei „The Journey“?

Lukas Bärfuss: Die schönsten Texte und die schönste Musik, zu der wir in der Lage sind. Auch und gerade in der Kombination. Text und Musik – das reibt sich, bleibt sich fremd. Wir werden auf den Proben die Form entwickeln, die Verbindung zwischen Text und Musik finden.

nmz: Also eine Art durchinszenierte musikalische Lesung?

Bärfuss: Keine Inszenierung, nein. Es wird einen Ablauf geben – so verrückt sind wir nicht! – aber wir werden jammen, improvisieren: Wir werden interagieren, ich werde nicht lesen, ich werde erzählen, singen. Wir machen ein Konzert, das an jedem Abend neu entsteht.

nmz: Das klingt – provokativ ausgedrückt – nicht nach dem typischen Einsatzbereich für klassisch ausgebildete Musikerinnen und Musiker, irre ich mich?

Gwendolyn Masin: Doch schon, wir kommen bewusst aus unserer Komfortzone und brechen aus der geschriebenen Form aus. Wir spielen nicht alles auswendig, aber das Orchester wird auf Lukas eingehen: mit Soundscapes und Improvisationen. Wir werden ein Gesamtkunstwerk im Blick haben. Um dann, wenn es organisch ist, auf den Moment eingehen zu können.

nmz: Bei den Stücken handelt es sich doch aber um ausnotierte Kompositionen?

Masin: Jein. Es gibt einen klassisch-romantischen Teil mit Komponistinnen und Komponisten, die mit dem geografischen Raum verbunden sind, wie Zara Levina, Mykola Lyssenko und Grigoras Dinicu. Den Schweizer Komponisten Antoine Auberson habe ich mit einer Komposition beauftragt. Akos Hoffmann hat einige der Stücke für Streicher arrangiert. Meine Idee ist aber, nicht nur klassische Musik zu spielen, sondern eine Brücke zur Volksmusik zu bauen. Während der Recherchen habe ich Archive durchsucht. Es gelang mir, Kontakt zu Sarolta Kodály zu finden, der Frau von Zoltan Kodály. Sie kennt sich in der Volksmusik Ungarns bestens aus. Unser Programm enthält also Stücke, in denen wir regionale Volkslieder aufgreifen und dazu unsere improvisieren.

„Wir kommen bewusst aus unserer Komfortzone“

Von Schubladen halte ich nichts. Auch die Klassik kennt die Improvisation, wenigstens bis ins vergangene Jahrhundert, und alle wissen, dass es zu Barockzeiten gang und gäbe war.

Heute sind wir so spezialisiert, dass wir kaum noch Zeit für die Improvisation haben. Also habe ich den ungarischen Zymbalon-Spieler Miklós Lukás eingeladen, einer von den wenigen, die Klassik, Jazz und Folkmusik spielen und lehren. Er zeigt, wie nahe sich der Klang der Klassik und der Klang der sogenannten Volksmusik sind. Es ist eine Symbiose.

nmz: War das der Grundgedanke, der zu „The Journey“ geführt hat?

Masin: Das kann man so nicht sagen. Während des Lockdowns 2020 sind Lukas und ich auf die Idee gekommen, ein Bühnenprojekt über verlorene und verschollene Musik zu entwickeln.

Es hat uns fasziniert, dass es so viel Musik gibt, die von Menschen füreinander gespielt und voneinander gelernt wird, und die nie aufgeschrieben wurde. Gleichzeitig findet man Spuren dieser Musik überall in der Klassik: Bei Beethoven sind viele Werke von Volksmusik inspiriert, bei Haydn, Brahms, Dvorak und vielen mehr.

Bärfuss: Wir haben unsere eigenen Geschichten erzählt. Die Geschichten unserer Kunst, unserer Musik, unserer Herkunft. Wir haben Parallelen entdeckt. Das Unterwegssein. Für uns sind „Heimat“ und „Zuhause“ ambivalente Begriffe.

„Traveling Companions“

Masin: Ich bin in Amsterdam geboren, meine Mutter ist Ungarin, mein Vater halb Tscheche und halb Holländer. Meine Mutter floh 1956 aus Ungarn, schaffte es über Umwege ans Conservatoire in Brüssel. In meinen ersten 10 Lebensjahren lebten wir Amsterdam, danach in Budapest, in Kapstadt, wieder in Holland. Und mit 10 Jahren bin ich in Irland, in Dublin gelandet.

Bärfuss: Ich war ein lokaler Nomade, bin danach vertikal gewandert, während Gwendolyn eine geographisch horizontale Bewegung hinter sich hat. Das Gefühl, nie zuhause zu sein, und das Unterwegssein das Zuhause ist, das verbindet Gwendolyn und mich.

nmz: Ich kann mir vorstellen, dass „Heimat“ und „Herkunft“ dann besondere Bedeutung für Sie haben.

Masin: Meine Eltern sind jüdischer Herkunft und verloren im Zweiten Weltkrieg ihre Familien.

Ich bin das Kind von marginalisierten und stigmatisierten Menschen, und Lukas trägt eine ähnliche Stigmatisierung – Armut in seinem Fall.

Bärfuss: Zu den Geschichten, die wir uns erzählt haben, kamen die Musik und der Kulturraum. Die gedachte Region zwischen Budapest, Minsk, Odessa, Istanbul und Sarajevo, hat mich als Mensch und Schriftsteller tief geprägt. Mein Denken wäre nicht vorstellbar ohne Isaak Babel, ohne Bruno Schulz, ohne Marta Rudzka, es sind so viele, ich könnte eine halbe Stunde lang nicht aufhören. Ihre Bücher habe ich gelesen. Und gleichzeitig weiß ich sehr wenig. Ich lerne jeden Tag Dinge, von denen ich noch nie gehört habe. Zum Beispiel die Schlacht von Poltawa, wer kennt sie?

nmz: Ich zum Beispiel habe ehrlich gesagt noch nicht davon gehört.

Bärfuss: Die war 1709 und ist eine der entscheidenden Schlachten der europäischen Geschichte. Denn dort hat Peter der Große über den schwedischen König Gustav XII. gesiegt, zwischen Kyiv und Kharkiv, mitten in der Ukraine. Ein Wendepunkt. Der schwedische Imperialismus wurde abgelöst durch den russischen. Mit Folgen bis in unsere Zeit. Warum wissen wir alles über Tschaikowsky und nichts über Lyssenko? Gewiss nicht der musikalischen Qualität wegen. In Deutschland wurde die Musikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg von den ehemaligen Wehrmachtssoldaten und den alten Nazis geschrieben. Hans Heinrich Eggebrecht, ohne Zweifel ein großer Namen in der Musikologie, einer der populärsten und wirkungsmächtigsten, war auf der Krim mit einem Bataillon, das für schwerste Kriegsverbrechen verantwortlich ist. Dann versteht man, warum die Ukraine auch in der Musik ein weißer Fleck geblieben ist.

Für mich wäre es eine wunderbare Sache, wenn es uns gelänge, die Landkarte unserer Vorstellung zu erweitern.

nmz: Ist es das, was Sie wünschen, dass das Publikum aus „The Journey“ mitnimmt?

Masin: Ich sage es mal auf Englisch, damit ich es richtig gesagt habe: I would hope, that the audience is transformed.

Bärfuss:  – verwandelt, ja. –

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Gwendolyn Masin und Lukas Bärfuss in Schwarz-Weiß übereinandergelegt.

Masin: „Wir kommen bewusst aus unserer Komfortzone und brechen aus der geschriebenen Form aus.“ Bärfuss: „Wir werden jammen, improvisieren.“ Foto: Florian Spring

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Masin: Genau, verwandelt: Es ist ja so, dass wir in der Klassik – zumindest in meiner Generation und denen vor mir – den Anspruch zu Perfektion haben. Das führt zu unnatürlicher, unmenschlicher und maskierter Musik. Hier wird klassische Musik zu einem billigen Instagram-Account: „Wir sind perfekt, wir sind toll!“ Das baut Druck auf, der bestimmt nicht zu einer hemmungslos freien und menschlichen Kreativität führt.

Musik soll drei oder vier Sachen ermöglichen: Weinen, Lachen, Tanzen und Gedeihen.

Ich möchte dem Publikum eine Erfahrung ermöglichen, gemeinsam eine Verwandlung erleben zu können. Das Unsagbare wird dann fassbar und wir finden in den Abgründen und der Trauer und der Hoffnungslosigkeit durch das Gemeinsame zu einer Menschlichkeit. Zum Leben, zu einer Überzeugung, einer Motivation zu einem Gespräch, das Grenzen überwindet.

nmz: Stichwort „Abgründe“  und „Trauer“: Herr Bärfuss, hatten Sie auf Ihren Recherche-Reisen auch mit Zweifeln zu kämpfen, ob Sie diesen Lebensgeschichten gerecht werden können?

Bärfuss: Die ganze Zeit! Man steht am Rand von Universen. Hinter jeder Tür, die man aufmacht, weitet sich der unbekannte Raum: Wir müssen Putin besiegen und gleichzeitig als Menschheit den Krieg überwinden. Es heißt doch: „People always fight the last war.“ Krieg ist sehr unoriginell. Die Musik, die wir spielen, entstand aus dem Leid, aus der Trauer und dem Wunsch, der Sehnsucht nach der Freude. Man kann Musik machen, tanzen, weinen, lachen singen – trotz allem.

nmz: Frau Masin, hatten Sie ähnliche Eindrücke bei Ihren musikalischen Recherchen?

Masin: Ich denke an Pavel Haas, der 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Ilse Weber, deren Texte aus den KZs zu Musik gesetzt und im Konzentrationslager gespielt wurden. Sie wussten, was passieren würde, und trotzdem ist diese Musik nicht ohne Lebensfreude oder Lebensweisheiten, die sprachlos machen.

Unsagbares wird fassbar

Ich bin mir sicher, dass dies nicht nur in Schoah geschah. Das geschieht in jedem Lager, in jedem Gefängnis, jetzt gerade in der Ukraine, auch Menschen, die noch nie vorher geschrieben oder gesungen haben. Es ist ein „deep human instinct“. Wenn man diese Erfahrungen einem Publikum näherbringen könnte, statt nur die Geschichten, die man jeden Tag in den Nachrichten hört, könnten dadurch andere Wertvorstellungen und Ideen entstehen. Die Tragödien in den Nachrichten ermöglichen häufig keine Empathie. Musik sehr wohl.

Bärfuss: Die Empathie mit den Leidenden und den Opfern des Krieges, der Gewalt, Trauer überhaupt, verlangt und verschafft Mut.

Und den brauchen wir, um in diesen schrecklichen Zeiten nicht zu verhärten und zynisch zu werden. Dafür haben wir die Kunst, die Musik und das kritische Denken.

nmz: Sie beide haben für „The Journey“ kleine und größere Reisen unternommen. Es klingt so, als wäre das Projekt auch eine persönliche innere Reise. Bald beginnen die Konzerte: Sind die Reisen damit abgeschlossen?

Bärfuss: Jetzt geht die Reiserei ja erst richtig los! Wir sind „Traveling Companions“, fahrende Gesellen: immer unterwegs, im Gepäck die Musik und die Literatur, die Dichtung, die Geschichten. Die Reisen nach Minsk, Odessa oder Kyiv  sind schwierig geworden, und es gibt viele Orte in dieser Welt, die uns durch die Gewalt versperrt sind. Aber wir können uns sollten sie trotzdem besuchen. In der Imagination. Für Kopfreisen bin ich der Fachmann. Nach dieser langen Vorbereitungszeit, auch bedingt durch die Pandemie, freuen wir uns jetzt auf die Proben und die Vorstellungen, die anschließende Tournee. Ein Geschenk!

Masin: Ich empfinde es als Privileg, dass sich ein Denker und Philosoph wie Lukas so viel Zeit nimmt, sich in eine Kunstform vertieft, die neu für ihn ist. Ich finde das bezaubernd und ich freue mich sehr.

Bärfuss: Es stimmt. Dieses Format ist meine Werkseinstellung. Ich bibbere und zittere vor dem Risiko. Nein, ein Wagnis, kein Risiko! Und ich freue mich drauf!

Aktuelle Termine von „The Journey“: 1. & 2.11., Basel | 3.11., Thun | 4.11., Bern | 5. & 6.11., Zürich | 7.11., Baden | 8.11., Schaan | 22.11., Budapest | 26–28.4.2024, Oberhofen am Thunersee | 30.4., Zug 

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Ein mit leichtem Reisegepäck gepackter Geigenkoffer

Foto: Florian Spring

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