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Die sechs Personen, im Durchschnitt im Rentenalter, stehen zum Gruppenbild im Grünen aufgereiht.

Die Herausgebermannschaft der BzG (v.l.n.r.): Franz Karl Praßl, Heinrich Rump­horst, Christian Dostal, Johannes Berchmans Göschl, Inga Behrendt und Stephan Zippe. Foto: privat

 

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Eine lebendig sprudelnde Gesangskunst

Untertitel
Von der Bedeutung und der Interpretation der Neumen: Vier Jahrzehnte „Beiträge zur Gregorianik“
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Die 75. Ausgabe der „Beiträge zur Gregorianik“ ist soeben beim ConBrio Verlag erschienen. Für die neue musikzeitung traf sich Petra Pfaffenheuser mit Johannes Berchmans Göschl und Heinrich Rumphorst, beide Mitglieder des Herausgebergremiums, zum Interview.

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neue musikzeitung: Was hat Sie vor fast 40 Jahren bewogen, die Beiträge zur Gregorianik ins Leben zu rufen?

Heinrich Rumphorst: Wir sahen die Notwendigkeit, die Dinge, die über die Möglichkeiten, gregorianische Melodien so original wie möglich aufzuführen, erforscht waren, bekannt zu machen, sozusagen „unters Volk zu bringen“. Es ging darum, die Kenntnisse der Semiologie, das heißt der Lehre von der Bedeutung und der Interpretation der Neumen – derjenigen Zeichen, die in den ältesten Choralhandschriften des Mittelalters Melodieverläufe, rhythmische Ausführung und Artikulation anzeigen – zu verbreiten und dazu anzuregen, weiter zu forschen. Zum damaligen Zeitpunkt wurde viel Choral gesungen, aber man begnügte sich meistenteils damit, ohne genaue Vorbereitung oder Probenarbeit, „mal eben“ Choräle zu singen. Man dachte: „Es ist ja eh einstimmig, das ist ja ziemlich einfach.“ Die Gesetzmäßigkeiten, die in den Kompositionen lagen, mussten erst entdeckt werden. Das war die Leistung des Benediktiners Dom Eugène Cardine aus ­Solesmes, der in den 1920er-Jahren ins dortige Kloster eintrat und das vor Ort vorhandene Material nutzte, das bereits zur Erarbeitung der Editio Vaticana im Jahr 1908 verwendet worden war. Er sah, dass die Zeichen, in denen man die Melodien bisher notiert hatte, Dirigierzeichen waren, die genaue Angaben darüber enthielten, wie die Melodie auszuführen sei. Seine Erkenntnisse sollten an eine größere Leserschaft weitergegeben werden, damit sie weithin bekannt wurden. Das war der Hauptgrund, die Beiträge zur Gregorianik ins Leben zu rufen.

Johannes Berchmans Göschl: Man muss dazu bedenken, dass der Wissenschaftszweig der Semiologie eine neue Ära in der Interpretation des Gregorianischen Chorals einläutete. Denn vorher wurde ein größtmöglicher Gleichwert aller Noten propagiert, in dem man eine gregorianische Melodie zu singen hatte. Demgegenüber haben Dom Cardine und seine ersten Schüler festgestellt, dass der Gregorianische Choral eine rhythmisch viel differenziertere, lebendig sprudelnde Gesangskunst ist. Es hatte nichts mehr mit dem vorher üblichen rhythmisch eingeebneten Gesang, dem Cantus planus, zu tun. Cardines Schüler haben dieses Verständnis in ihre Heimatländer gebracht und dort verbreitet. So sind diese Erkenntnisse auch nach Deutschland gelangt.

nmz: Die Beiträge zur Gregorianik sind eine offizielle Publikation der AISCGre. Was ist die AISCGre und welche Aufgaben und Ziele hat sie?

Rumphorst: Als Dom Eugène Cardine im Jahr 1975 seine Lehrtätigkeit beendete, setzte eine große Sorge ein, dass die Ergebnisse der Semiologie wieder verloren gehen könnten. Daher wurde in diesem Jahr die Internationale Gesellschaft für Studien des Gregorianischen Chorals (Associazione Internazionale Studi di Canto Gregoriano = AISCGre) gegründet, um in der semiologischen Orientierung des Gregorianischen Chorals in Theorie und Praxis weiterzuarbeiten unter Berücksichtigung von Cardines Erkenntnissen den Wort-Ton-Charakter betreffend. Kongresse, Konzerte und andere Veranstaltungen sollten dazu beitragen. Die Gesellschaft war international zusammengesetzt, die Verständigungssprache war Italienisch. Nach und nach bildeten sich Ländersektionen, um die Landessprachen besser berücksichtigen zu können. Die deutschsprachige Sektion entstand im Jahr 1991. Die bereits seit 1985 erscheinenden Beiträge zur Gregorianik wurden zu einer offiziellen Publikation der deutschsprachigen Sektion. Mitglieder sind Kirchenmusiker*innen, Scholaleiter*innen und -sänger*innen sowie andere am Gregorianischen Choral Interessierte. Momentan besteht die Sektion aus 214 Mitgliedern in 21 Ländern.

nmz: Seit wann gibt es den Arbeitskreis Melodierestitution und wie sieht seine Arbeit aus?

Rumphorst: Ausschlaggebend für die Gründung des Arbeitskreises im Jahr 1977 war das Erscheinen des Graduel Neumé, in dem Dom Cardine Neumen über die Ausgabe des Graduale Romanum von 1908 eingetragen hatte, sowie das gerade im Erscheinen begriffene Graduale Triplex. Es führte zu der Erkenntnis, dass in vielen Fällen nicht nur die rhythmische Gestaltung, sondern auch die Melodie nicht stimmte. Durch jahrhundertelange Veränderungen und auch Übertragungsfehler waren unterschiedlichste Versionen entstanden, die der Arbeitskreis wieder durch die Ursprungsform ersetzen, d. h. restituieren wollte. Daher der Name des Arbeitskreises, zu dem anfangs auch noch Dom Eugène Car­dine gehörte. Die Forschungsergebnisse des Arbeitskreises Melodierestitution fanden in der Zeitschrift „Beiträge zur Gregorianik“ ein Publikationsforum, um sie in der Breite bekannt zu machen.

Göschl: Als Basis dienten die Erkenntnisse der Mönche von Solesmes, die über viele Jahrzehnte hinweg europaweit in Archiven, Bibliotheken und Klöstern unterwegs gewesen waren, um die Ursprungsfassungen in den alten Handschriften aufzuspüren und zusammenzutragen. Sie veröffentlichten die wichtigsten in der umfassenden Sammlung „Paléographie Musicale“. Sie waren nicht nur, was die rhythmische Gestaltung betrifft, sondern auch im Hinblick auf die verwendeten Melodien für die Auswertung sehr wertvoll. Der Arbeitskreis konnte auf diese Sammlung als Basis zurückgreifen. Heutzutage ist das nicht mehr notwendig, da die meisten Handschriften mittlerweile digitalisiert zur Verfügung stehen.

nmz: Wie kam die Zusammenarbeit mit dem Gustav Bosse Verlag bzw. später dann ConBrio zustande?

Göschl: Der Kontakt zum Bosse-Verlag wurde initiiert durch dessen Lektor Franz A. Stein, der beabsichtigte, das Kapitel Gregorianik in der Publikation „Musik im Gottesdienst“ ganz neu zu bearbeiten. Diese Aufgabe wurde Luigi Agustoni, Heinrich Rump­horst, Godehard Joppich und mir übertragen. Daraus erwuchs eine enge Zusammenarbeit und die Basis für die Kooperation bei den Beiträgen zur Gregorianik. Bis zu Band 13/14 erschienen sie im Bosse-Verlag und der Nachfolgeverlag ConBrio hat die Publikation dann übernommen.

nmz: Wie entstand die Idee, die restituierten Gesänge in den beiden Bänden des Graduale Novum gesammelt zu veröffentlichen?

Rumphorst: Im Laufe der Zeit wurde das Interesse an den Ergebnissen der Semiologie immer größer und auch der Wunsch, die entsprechenden Gesänge aufführen zu können. Dazu bedurfte es einer Ausgabe, in der die Notation und die Neumierung zusammengeführt wurden. In den Beiträgen zur Gregorianik war es ja wissenschaftlich aufgearbeitet mit kritischem Apparat, Angabe der Handschriften, den Abweichungen und den ausschlaggebenden Stellen für eine Wiederherstellung der ursprünglichen Fassung. Daraus konnte man aber nicht singen. Das Graduale Novum machte das Singen bzw. Aufführen möglich. Der Name entstand erst, als alle Gesänge zusammengestellt waren und Johannes Berchmans Göschl die Neumen dazu notiert hatte. Es waren nicht von vornherein zwei Bände geplant, es sollten vielmehr erst einmal die Gesänge für die Sonn- und Festtage (De Dominicis et Festis) herausgegeben werden. Der Band erschien 2011 und konnte im Rahmen einer Privataudienz Papst Benedikt XVI. überreicht werden. Das positive Echo auf den ers­ten Band – mittlerweile erscheint es in der vierten Auflage – hat uns dann dazu bewogen, die Gesänge für Werktage und Heiligenfeste (De Feriis et Sanctis) in einem zweiten Band zu publizieren. Er erschien im Jahr 2018 und wurde in Rom an Papst Franziskus überreicht.

nmz: Was sind die aktuellen Forschungsschwerpunkte des Arbeitskreises Melodierestitution?

Rumphorst: Momentan sind wir dabei, die Offertorien (liturgische Gesänge zur Gabenbereitung, Anm. d. Redaktion) und die entsprechenden Offertorialverse zu restituieren. Das wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Sie werden jeweils in den Beiträgen zur Gregorianik veröffentlicht.

Göschl: Es gibt im Repertoire der Messe ungefähr 110 Offertorien. Mittlerweile ist etwa ein Drittel bearbeitet und veröffentlicht. Sie sehen also, es ist ein Forschungsgegenstand, der sehr umfangreich ist und noch einige Zeit beanspruchen wird. Wir haben überlegt, ob wir parallel dazu wieder eine Herausgabe der Gesänge in Buchform angehen sollen. Wir haben uns jedoch für einen anderen Weg entschieden. Die in einem Band der Beiträge zur Gregorianik restitutierten Gesänge und Verse werden im Folgeband dann in einer neumierten, zum Singen eingerichteten Form veröffentlicht.

nmz: Wie sind Sie zum Gregorianischen Choral gekommen und was hat Sie bewogen, sich ihm beruflich so umfassend zu widmen?

Rumphorst: Von Beruf war ich Gymnasiallehrer für die Fächer Latein und Altgriechisch. Meine intensive Beschäftigung mit dem Gregorianischen Choral würde ich aber auch als Beruf(ung) bezeichnen, da sie einen großen Teil meines Lebens einnahm und immer noch einnimmt. Ich bin sehr früh mit der Gregorianik in Berührung gekommen, da wir viele entsprechende Schallplatten zu Hause hatten. Ich bin auch bereits als Schüler in eine Gregorianik-Schola eingetreten. Als Erwachsener sang ich weiter in Scholen und habe auch bald Schola­leitungen übernommen. Die überpfarrliche Berliner Choralschola habe ich über viele Jahrzehnte leiten können (1965 bis 2008).

Göschl: Nach meiner Zeit als Minis­trant in meiner oberbayerischen Dorfpfarrei, wo meine Mutter Leiterin des Kirchenchores war und auch Gregorianischer Choral praktiziert wurde, kam ich als Gymnasiast ins Erzbischöfliche Studienseminar nach Traunstein, dessen Direktor ein studierter Kirchenmusiker war. Er hat uns Schülern die Liebe zum Gregorianischen Choral vermittelt. Entscheidend war jedoch die Begegnung mit dem Begründer der Semiologie Dom Eugène Cardine während meines Theologiestudiums in Rom. Vor allem uns deutsche Studenten hat er fasziniert mit seinem Temperament gepaart mit Feinsinnigkeit, mit denen er uns Gregorianische Gesänge beigebracht hat. Eine unauslöschliche Erinnerung, die mich geprägt hat. Im anschließenden Kirchenmusikstudium in Rom konnte ich mich auf Gregorianik spezialisieren und auch später als Dozent bzw. ab 1983 als ordentlicher Professor auf diesem Gebiet tätig sein. Aus dieser Tätigkeit ist auch die Schola Gregoriana Monacensis entstanden, mit der ich als Leiter bis heute Konzerte gestalten und CDs aufnehmen kann.

nmz: Sie geben regelmäßig Gregorianik-Kurse im In- und Ausland. Wie sieht der Teilnehmendenkreis aus? Sind es vor allen Dingen männliche Interessierte oder wächst auch die Zahl der Sängerinnen? Und wie sieht die Altersstruktur aus?

Göschl: Die Zahl der weiblichen und männlichen Kursteilnehmenden hält sich in etwa die Waage. Das ist keine neue Entwicklung, die Interessierten sind schon lange Zeit geschlechtlich gemischt. Auch viele evangelische Kursteilnehmende sind dabei, der Anteil liegt bei ungefähr einem Drittel. Es nehmen auch sehr viele junge Menschen teil, das Interesse ist also ungebrochen. Wenn man junge Menschen behutsam an den Gregorianischen Choral heranführt, vor allen Dingen an seine Spiritualität, sind sie ohne Weiteres dafür zu erwärmen, wenn nicht sogar dafür zu begeistern.

Das Vorurteil, dass Gregorianischer Choral für Männer geschaffen wurde, hält sich hartnäckig. Er wurde jedoch schon immer von Männern und Frauen gesungen, oft auch zusammen in einer Schola. Es gab schon im Mittelalter Doppelklöster, in denen weibliche und männliche Ordensangehörige zu den Gottesdiensten zusammenkamen, um zusammen zu beten und zu musizieren.

Rumphorst: Ich kann das aus meiner Arbeit als Leiter der Berliner Choralschola bestätigen. Als ich begann, war es eine reine Männerschola, dann kamen immer mehr Sängerinnen hinzu. Heutzutage ist es (wieder) selbstverständlich, in gemischten Ensembles Gregorianischen Choral zu singen.

nmz: Ist Ihrer Ansicht nach die Arbeit des Arbeitskreises Melodierestitution im kirchenmusikalischen Alltag angekommen?

Rumphorst: Es hängt sehr davon ab, wie es vermittelt wird. Wenn es mit Qualität, Wissen und Erfahrung vermittelt wird, dann kommt es auch an und wird angenommen. Dadurch, dass heute eine gezielte Ausbildung der Kirchenmusiker*innen an den Hochschulen stattfindet, ist die Basis dafür gegeben, dass die Ergebnisse der Semiologie im Alltag ankommen.

Göschl: Vieles hängt ab von einem guten und vertrauensvollen Verhältnis zwischen den Kirchenmusiker*innen und der geistlichen Leitung der Gemeinde beziehungsweise Pfarrei vor Ort. Wenn der Pfarrer gegen eine Verwendung des Gregorianischen Chorals in der Liturgie ist, hat der*die Kirchenmusiker*in keine Chance. Wenn eine gewisse Offenheit vonseiten des Pfarrers da ist, sollte man die Gemeinde nicht überfordern, sondern behutsam immer wieder Gregorianische Gesänge einstreuen und so das Verständnis dafür erwecken. Denn für die meisten Gemeinden ist in der nachkonziliären Zeit mit dem Bedeutungsgewinn der Muttersprache in der Liturgie das Lateinische und auch der Gregorianische Choral eine fremde Welt geworden.

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