Dass Neue Musik und Kirche noch etwas Anderes ist und hervorbringen muss als Neue Kirchenmusik – diese Überzeugung hat an der Petrikirche in Mülheim an der Ruhr einen festen Platz. Angefangen hat alles mit der Unzufriedenheit von Kirchenmusiker Gijs Burger am kulturellen Status quo. So entstand „Utopie jetzt!“, ein Festival im Kirchenraum.
Dreh- und Angelpunkt im künstlerischen Leitungsteam ist Dirigent Manfred Schreier, den es beim Abschlusskonzert der letzten Festival-Ausgabe (nmz online 6.11.08) beinahe selbst aus den Angeln gehoben hätte. – Eine Beinahe-Katastrophe und andere Grenzgänge im Rückblick.
neue musikzeitung: An Grenzen gehen, Grenzen überschreiten. Was sich so leicht sagt, was oft leicht daher gesagt wird, haben Sie jetzt erlebt. Hautnah. Ein Zusammenbruch mitten im Konzert. Aus dem Spiel mit existentieller Grenzerfahrung („Winterreise“ in der Zender-Fassung) wäre – um ein Haar – bitterer Ernst geworden. Wenn da nicht ein Schutzengel gewesen wäre …
Manfred Schreier: Es müssen Legionen von Schutzengeln anwesend gewesen sein, manche in Zivil, manche in notärztlicher Kleidung. Ihr schnelles Handeln hat das Schlimmste abgewendet.
nmz: Wer von außen draufgeschaut hat, mochte sich denken: Die Ästhetisierung von Existenzgrenzen ist eine Seite – die Wirklichkeit existentieller Grenzerfahrung eine andere. Lässt sich diese „Erfahrung“ überhaupt beschreiben?
Schreier: Mit der Grenzerfahrung des Lebens darf man nicht kokettieren, auch nicht ästhetisierend – das ist meine Meinung. Das Schicksalhafte eines Herzversagens gehört im Grunde nicht in die Öffentlichkeit. Nicht, um es zu verbergen, vielmehr um jene Mitmenschen zu schützen, die voll Sorge und Ratlosigkeit mit dem Erlebnis konfrontiert sind, Ensemblemitglieder wie Publikum. Das Leben ist ein so kostbares Gut, dass damit nicht als Spiel mit und an der Grenze zu hantieren wäre.
nmz: Gibt es da eigentlich etwas, was Sie anderen Künstler-Kollegen ans Herz legen möchten? Welche Botschaft leitet man daraus ab?
Schreier: Negativ! Triviale Antworten möchte ich vermeiden wie: Hören Sie auf die Signale Ihres Körpers! Nehmen Sie sich Zeit! Übertreiben Sie nicht! und so weiter. Eine „vita activa“ muss als Gegengewicht zum umtriebigen „Voran“ stets Momente des Innehaltens bereitstellen, auch ohne die Not gesundheitlicher Signale. Zudem sind die Botschaften des Lebens wahrscheinlich vielfach verschlüsselt oder gar in der Weise unterwegs zu uns, wie es Franz Kafka in der „Kaiserlichen Botschaft“ beschreibt, dass sie zwar auf dem Weg ist, aber immer neue Hürden überwinden muss, um beim Adressaten anzulangen. Die Gewissheit, dass sie je eintrifft, steht in Kafkas Text jedoch im Zweifel.
nmz: Gleichwohl: In Mülheim an der Ruhr (um zur Festival-Architektur zu kommen) scheint die „Utopie jetzt!“-Botschaft aber angekommen zu sein. Frage: Lässt sich an Orten, die auf Niemandes Rechnung stehen, eigentlich unbelasteter, freier programmieren, experimentieren, konzertieren?
Schreier: Eigentlich sollte gerade an den eingespielten, gesellschaftlich bestätigten Schauplätzen freier zu arbeiten sein als an Orten, die niemand auf der Rechnung hat. Es wird nur meist nicht getan was nötig wäre, weil der Mut fehlt, unbequeme risikoreiche Wege zu gehen, weil der Blick zu eng auf das Gängige konzentriert ist oder weil Eitelkeiten das Neue verhindern.
nmz: Andererseits scheint die Sache System zu haben: Musik ist schließlich Geschäft, die Auslese darin hart, Geist und Geld liegen nah beieinander …
Schreier: Einschaltquoten, Erfolgsziffern sind die Hedgefonds-Gewinne in der Kultur, deren Spekulanten mit den Überschüssen aus der harten Währung der Meisterwerke Gewinne machen. Die Broker und Makler der Kunstszene sonnen sich im Glanz ihrer Kulturderivate und erklären sich ihrerseits als die kulturpolitischen Heilsbringer. Hochkultur und Unterhaltungsbranche sind dabei auf gleicher Höhe oder besser: waten im gleichen überheblichen Sumpf. Leider gibt es für diese Welt der Eitelkeiten keinen Schwarzen Freitag oder Herbst, wie an der Börse …
nmz: … wären da nicht die Selbstreinigungskräfte der Kunstwelt …
Schreier: Die Finanzwelt müsste uns darum beneiden! Hier sind keine Milliardenunterstützungen nötig. Weltweit, nicht nur im Paradiesgarten Mitteleuropas, sprudeln die schöpferischen Quellen aus den Arbeiten und Ideen junger Komponisten; es wachsen Ensemble-Strukturen mit jungen Interpreten, die ihr Können der Tradition wie der Avantgarde gleichermaßen bedingungslos widmen.
nmz: Dabei – ich verstehe doch richtig – fußt, sitzt, ruht dieses Reservoir traditioneller „Hochkultur“ auf dem Humus einer recht breiten Laien-Musik?
Schreier: Keine Frage. Die ehrwürdige Tradition des Chorgesangs hat mit ihrer multiplikatorischen Funktion zur soliden Basis unseres heutigen, vielfältigen, lebendigen Musiklebens beigetragen. Zwar sind die ästhetischen Konzepte unterschiedlicher denn je, aber die wechselseitige, meist sogar ideologiefreie Wahrnehmung der Anderen und des Anderen scheint im historischen Vergleich weniger sektiererisch, weniger ausgrenzend, wie das von früheren Epochen überliefert ist. Das gilt für die Autoren musikalischer Werke wie für das Publikum und die Interpreten gleichermaßen. Es wäre zu kurz argumeniert, diese Erscheinung als postmodernes „everything goes“ abzutun.
nmz: Klingt wie ein Plädoyer für mehr Grenzöffnung zu den körperbetonten Musiksphären …
Schreier: Die unbedingte, körperhafte Hingabe der Rock- und Popmusik-Darstellung wird selten in solch existentieller Direktheit im klassischen Musikbetrieb erreicht, so dass junge Komponisten beklagen, dass ihre Musik nicht jene Unbedingtheit des Ausdrucks erfährt, wie die vermeintlich primitiveren Erzeugnisse der Unterhaltungsindustrie. Im Übrigen kann man die Welt junger Leute nicht einfach abtun als Rand- und Abfallprodukt fiktiver Hochkultur, es gilt vielmehr Gesetzlichkeiten und Antriebe zu erkennen, die dem klassischen Musikbereich fremd sind.
nmz: Ergo muss sie sich öffnen. Frage nur: Wie – ohne ihr Eigenes zu verlieren?
Schreier: Zugegeben. Meine geheime Sehnsucht geht auf die Versöhnung beider Hörwelten. Ein pädagogischer Weg möge in subversiver Solidarität von der rockenden U-Musik zur revoltierenden Neuen Musik über die unverzichtbaren Stationen der klassischen Meisterwerke führen. Vielleicht ist das der gangbarste Weg, mit jungen Leuten in ein Musikbewusstsein zu gelangen. Nicht zur Klassik verführen, aber in ein waches Bewusstsein von der Unverzichtbarkeit der Kunst einzutreten. Die Aufgaben solcher Musikvermittlung, klassisch der Musikpädagogik, kann überall geleistet werden. Fantasie ist gefragt!