„Pop-Diskurse an der Donauquelle“ war im September 2020 das nmz-Interview mit Björn Gottstein, dem künstlerischen Leiter der Donaueschinger Musiktage, übertitelt. Zum angekündigten Pop-Diskurs kam es nicht, 72 Stunden vor Festivalbeginn wurde alles aufgrund der pandemischen Lage und wegen des Beherbergungsverbotes abgesagt. Jetzt steht die nächste Ausgabe des Festivals unter dem Titel „1921–2021“ vor der Tür und Andreas Kolb traf sich erneut mit Björn Gottstein zu einem Gespräch. Doch bevor man auf 2021 zu sprechen kam, gab es ein kleines Resümee zu 2020.
neue musikzeitung: Herr Gottstein, welche Programmteile waren Makulatur? Was konnte gerettet werden?
Björn Gottstein: Wir konnten doch eine ganze Reihe von Sachen umsetzen. Das SWR-Symphonieorchester hatte schon zu Ende geprobt und wir hatten damit Aufnahmen, die gesendet werden konnten. Das Konzert mit der Musikfabrik konnten wir dann dankenswerterweise in der Kölner Philharmonie stattfinden lassen. Vielleicht zwei Drittel des Programms sind am Ende doch in irgendeiner Form umgesetzt worden, das meiste natürlich ohne Publikum. Wir konnten Projekte filmisch realisieren, konnten viel im Radio senden, sodass die künstlerischen Positionen auch ohne Konzerte den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben. Die Sachen, die liegen geblieben sind, die kommen eben dieses Jahr, nächstes Jahr und übernächstes Jahr. Für 2021 sieht es im Moment sehr gut aus. Da wir aber noch nicht wissen, wie die Kartenkontingente aussehen werden, fahren wir hier dreigleisig: erstens Karten für eine begrenzte Zuschauerzahl, zweitens Schachbrett und drittens den vollen Saal. Wir müssen jetzt entscheiden, mit welchem Modell wir am 1. September in den Verkauf gehen.
nmz: Vor hundert Jahren konnte man bei den ersten Donaueschinger Musiktagen Werke von Alois Hába, Ernst Krenek, Philipp Jarnach oder Alban Berg hören. Beim 100. Jahrgang wurde nicht an eine Retrospektive gedacht. Warum?
Gottstein: Repertoirewerke gibt es nur zwei: das Hindemith Streichquartett Nr. 3, op. 16, 1. Satz „Lebhaft und sehr energisch“. Wir hatten letztes Jahr schon Hindemiths „Kammermusik Nr. 1“ aus dem Jahre 1922, mit dem dieser sein Image als Bürgerschreck begründete. Genau vor 70 Jahren wurde „Polyphonie X“ von Pierre Boulez in Donaueschingen uraufgeführt. Das seriell komponierte Stück sorgte 1951 für einen Skandal und Boulez zog sein Werk zurück. Jetzt macht es das Lucerne Festival Contemporary Orches
tra in einer historischen Wiederaufführung erneut hörbar.
Im Konzertprogramm nur zwei retrospektive Punkte
Andere Möglichkeiten, der Historie gerecht zu werden, bietet die Ausstellung, kuratiert von Markus Müller, die ganz stark die Festivalgeschichte Revue passieren lässt, sich aber gleichzeitig mit kritischen Fragestellungen an die Programmmacher richtet: Etwa, warum hat das so lange gedauert bis eine Frau aufgeführt worden ist? Was haben die Donaueschinger Musiktage geleistet, wo haben sie vielleicht auch etwas versäumt? Den historischen Kontext arbeitet auch die Festschrift heraus, die ich mit Michael Rebhahn zusammen herausgebe. Und zwei Klanginstallationen beschäftigten sich mit dem Archiv der Musiktage. Im Konzertprogramm haben wir uns allerdings auf diese beiden retrospektiven Punkte beschränkt. Für mich ist am Ende entscheidend, dass die Donaueschinger Musiktage ein Uraufführungsfestival sind, das in die Zukunft schaut.
Ich habe den Komponisten auf den Weg mitgegeben, sie sollten etwas Unfertiges, etwas Fragmentarisches machen – etwas was eher Aufbruch signalisiert als Abschluss, etwas was nicht unbedingt immer zu Ende gedacht sein muss, sondern Eröffnung darstellt. Vielleicht ist es am Ende doch spürbar, dass wir die 100 Jahre als Zäsur auffassen, aber auch als Chance für einen Beginn oder Neuanfang.
nmz: Die Donaueschinger Musiktage wurden begründet in einer Epoche, in der sich erstmals das Radio manifestiert hat. Heute leben wir wieder in einem medialen Umbruch: Wäre es da nicht interessant gewesen, das Radio und seine Klangkörper stärker zu thematisieren?
Gottstein: Es ist richtig, im Rahmen des Festivals wird das nicht eigens thematisiert. Das Radio-Sinfonieorchester hat jedoch in der Ausstellung einen eigenen Schwerpunkt. Es werden dort auch einzelne wichtige radio–fixierte Werke, etwa der Lindbergflug von Bertolt Brecht, thematisiert. Die mediale Historie Donaueschingens wird im Film von Bettina Ehrhardt über hundert Jahre Donaueschingen maßgeblich behandelt.
nmz: Welche Komponisten sind angefragt worden?
Gottstein: Es gibt 2021 ein ganz besonderes Programm im Programm, Donaueschingen Global, bei dem die kuratorische Entscheidung nicht allein bei mir lag. Donaueschingen Global war tatsächlich ein Forschungsvorhaben, bei dem vier Researcher ein Jahr lang Zeit hatten und ein Reisebudget, um Länder zu bereisen, über deren aktuelle Musik wir wenig wissen. Dabei ist sehr Aufregendes herausgekommen: Wir haben 23 internationale Künstler eingeladen, unter anderem das Ensemble CG aus Kolumbien, das Ensemble Maleza aus Bolivien, Omnibus aus Usbekistan oder das Duo Two or the Dragon aus Beirut. Es sind noch wenig bekannte Komponisten aus Bahrain, aus Thailand oder aus Peru dabei. Es gab den Wunsch etwas zu machen, das nachhaltig strukturell wirkt in der Neuen Musik. Mit „Donau Rauschen“ von Daniel Ott und Enrico Stolzenburg haben wir dann aber auch ein Werk im Programm, das die gesamte Stadt miteinbezieht. Die anderen Programme haben sich tatsächlich so erschlossen wie man das in anderen Jahren auch gemacht hat. Lange gab es den Wunsch, dass Rebecca Saunders wieder eine Uraufführung hat. Sie ist jetzt mit zwei Stücken insgesamt vertreten. Interessanterweise hat sich eher beiläufig ein Schwerpunkt mit türkischen Komponist*innen ergeben, bislang hat die Türkei gar keine Rolle gespielt in Donaueschingen. So passt es jetzt perfekt, dass wir in Istanbul am Wochenende vor dem Festival gemeinsam mit dem Goethe Institut und dem Museum Arter einen Prolog veranstalten. Am Bosporus spielt das Omnibus Ensemble sein Donaueschinger Programm vorab. Hinzu kommt ein zweites Konzert mit Werken türkischer Komponisten, u. a. von Zeynep Gedizlioglu Wir veranstalten in Istanbul eine Podiumsdiskussion zum Thema Neue Musik in der Türkei und hundert Jahre Donaueschingen und beleuchten auch die Rolle von Paul Hindemith, der nicht nur für Donaueschingen, sondern auch für die Türkei sehr wichtig war, da er in den 30er-Jahren die akademische Musikausbildung in der Türkei initiiert hat.
Drei Orchester, vier Konzerte
nmz: Sie haben vier Konzerte mit drei Orchestern programmiert, darunter das Orchestre Philharmonique du Luxembourg. Ist das ein Gastgeschenk Ihrer Nachfolgerin, Lydia Rilling, der ehemaligen Chefdramaturgin des Orchesters?
Gottstein: Der Plan zu diesem Konzert ist weitaus älter als die Tatsache, dass Lydia Rilling meine Nachfolgerin wird. Wir haben drei ganz verschiedene Orchester zu Gast: das SWR Orchester als das „gestandene“ Donaueschingen-Orchester, dann das Luxemburger Ensemble, das durch die Neue Musik-Reihe „Rainy Days“ die Neue Musik im Blick hat und dabei über eine stark französisch ausgerichtete Klangkultur verfügt und als drittes, das vom Geist her jüngere Orchester aus Luzern, das Lucerne Festival Contemporary Orchestra. Das Oratorium „The Red Death“ nach E.A. Poe von Francesco Filidei am Schluss des Fes–tivals mit dem Chorwerk Ruhr, dem SWR Vokalensemble sowie dem SWR Symphonieorchester ist als viertes Orchesterkonzert das Werk mit dem größten Jubiläumscharakter, in welchem auch noch einmal die Geschichte der Neuen Musik reflektiert wird.
nmz: Kommt Teodor Currentzis?
Gottstein: Da laufen Gespräche, die aber nicht mehr von mir geführt werden.
nmz: „Musik im Gefüge globaler politischer Ökonomie, Kolonialismus und Patriarchat“ heißt die Überschrift zu einer Lecture. Sicher kann man diesen Satz nicht fürs Festival verallgemeinern, aber solche Phrasen hinterlassen doch den Geschmack einer gehaltsästhetischen Ausrichtung Donaueschingens? Überwölbt da nicht das Außermusikalische die Musik?
Gottstein: Gehaltsästhetisch würde ich das nicht nennen. Der Satz steht im Zusammenhang mit einer Lecture. Dafür sind die Lectures da, um das, was auf dem Festival geschieht, zu kontextualisieren. Ich sehe das nicht als ästhetische Prägung im Programm, sondern eigentlich eine begleitende diskursive und absolut notwendige Sache.
Restitutionsdebatten und Cultural Appropriation
nmz: Die Musik ist in der privilegierten Rolle, keine Restitutionsdebatte führen zu müssen…
Gottstein: Das stimmt nur bedingt. Man kann, man muss Werke europäischer Komponisten, die Elemente anderer Kulturen aufgreifen, heute nochmals neu befragen. Der Fachterminus ist hier: cultural appropriation – das steht 2021 in Donaueschingen nicht im Mittelpunkt. Das Ensemble Maleza spielt auf indigenen Instrumenten, aber das Ensemble CG zum Beispiel ist eigentlich ein klassisch geprägtes Neue-Musik-Ensemble. Gerade habe ich die Partitur von Andile Khumalo aus Südafrika bekommen. Das ist eine toll gearbeitete Neue-Musik-Partitur, der man die südafrikanische Herkunft des Komponisten nicht sofort ansieht. Diese Themen und Fragen sind alles Teil des Spannungsfeldes, das Donaueschingen global eröffnet. Die darin enthaltenen Widersprüche aufzulösen, ist eine langfristige Aufgabe.
nmz: Man hört die Leidenschaft des Programmmachers in Ihren Worten und fragt sich: Wäre da nicht doch noch Potenzial und Kraft für weitere zehn Jahre Programmierung in Donaueschingen?
Gottstein: 2026 wäre mein letztes Jahr gewesen und das war von vornherein auch der Wunsch aller beteiligten, dass die feste Leitung nicht mehr solange in einer Hand liegt und Erneuerung möglich bleibt. Es sind jetzt sieben Jahre gewesen, die ich das Festivalprogramm mitgeprägt habe, eine hinreichende Zeit. Ich gehe ohne Reue, ohne bitteren Beigeschmack und ohne das Gefühl zu haben, das ist vor der Zeit. Es fühlt sich richtig an.