Gerhard Markson, ehemaliger Schüler und Assistent von Igor Markevitch, war Generalmusikdirektor in Hagen und 2001 bis 2009 Chefdirigent des National Symphony Orchestra of Ireland. Seit 2009 ist er erster ständiger Gastdirigent am Theater Freiburg. Herbert Haffner sprach mit ihm über den Dirigenten und Komponisten, der am 27. Juli 1912 in Kiew geboren wurde und am 7. März 1983 in Antibes verstarb.
neue musikzeitung: Heute kennt man Igor Markevitch – wenn überhaupt – fast nur noch als Dirigent. Er hat aber auch komponiert. Sie haben Werke von ihm aufgeführt – Kapellmeistermusik?
Gerhard Markson: Das wäre schon biografisch falsch, weil er seine Karriere als Komponist und Pianist begann und erst dann zu dirigieren anfing. Als Komponist war er in den 1930er-Jahren schon weltberühmt. 1929 hatte Serge Diaghilew den erst 17-Jährigen am Vorabend der Uraufführung seines Klavierkonzertes als einen genialen Komponisten am Beginn des internationalen Ruhms bezeichnet.
nmz: Gibt es Komponisten, an die Markevitchs Musik erinnert?
Markson: Markevitch als Komponisten zuzuordnen ist schwierig. Zwar schauen immer mal wieder Hindemith und Strawinsky „um die Ecke“, doch er schafft eine ganz eigene, gläserne, durchscheinende Welt. Die Orchestration ist einzigartig, nicht vergleichbar. Man hört selbst im komplexesten Orchestersatz fast jedes Instrument. Man höre sich nur die dramatischen und turbulenten Passagen in „Rébus“ oder in „Icare“ an. Das ist einmalig.Markevitch berichtete übrigens, er habe bei der Komposition des „Icare“ bestimmte Passagen unter dem Einfluss von Opium erfunden. Nach der Uraufführung sagte Jean Cocteau, das seien Töne aus einer ganz anderen Welt, die wir noch nie gehört hätten.
nmz: Er wurde in seiner Zeit von allen Großen der Musik hoch gelobt – von Scherchen bis Kussewitzky, von Nadia Boulanger bis Bartók.
Markson: Da Sie Bartók erwähnen: Dieser hat offen zugegeben, zu seiner Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug durch Markevitchs „Icare“ für zwei Klaviere und Schlagzeug inspiriert worden zu sein. Und bald nannte man Markevitch den „zweiten Igor“ – der erste Igor (Strawinsky) „was not amused“ …
Unerbittlich zu sich selbst
nmz: Warum hat er nach dem Zweiten Weltkrieg zu komponieren aufgehört und wurde Dirigent mit einer großen Karriere?
Markson: Er erklärte mir, die Zerstörungsorgien des Zweiten Weltkrieges hätten jegliche Kreativität in ihm zum Erliegen gebracht. Das habe ich ihm schon damals nicht ganz geglaubt. Als ich dann später die 1938 erschienene Sinfonia concertante „Le Nouvel Age“ aufführte, eines seiner letzten großen Werke, verließ ich nach dem Konzert das Podium und war mir im Klaren, dass er im Grunde alles gesagt hatte. Er konnte sehr unerbittlich sein, gerade auch sich selbst gegenüber – und da hat er vermutlich einfach die Konsequenz gezogen …
nmz: Er war auch ein Dirigierlehrer, der sich nicht der verbreiteten Meinung anschließen wollte, das Dirigieren lasse sich im Grunde nicht vermitteln, sondern er war überzeugt, dies sei eine Wissenschaft …
Markson: Er war ein Mann mit einer sehr klaren, geradezu wissenschaftlichen Schlagtechnik. Die lief ab wie eine Choreographie, und das bei seinem eruptiven Temperament! Markevitch hat sich von Toscanini her definiert. Er sagte, Toscanini sei der erste gewesen, der eine moderne Schlagtechnik gehabt habe, und die hat er dann versucht zu perfektionieren. Markevitch erzählte mir, er sei anfangs ein recht wilder Dirigent gewesen. In Tel Aviv habe er als junger Mann ein umjubeltes Konzert dirigiert. Anschließend sei ein kleiner Mann in sein Zimmer gekommen, der aussah wie Ben Gurion, habe ihm gratuliert, dann aber moniert, er mache als Dirigent in seinem Bewegungsablauf so ziemlich alles falsch, was man falsch machen könne. Er – so erzählte er mir – sei wütend gewesen über diesen frechen Kerl und habe sich erkundigt, wer das gewesen sei. Man sagte ihm, er habe mit dem berühmten Mo-shé Feldenkrais geredet. Er wäre nicht Markevitch gewesen, hätte er nicht die große Chance erkannt. Er bat also Feldenkrais, ihm seine Methode zu vermitteln. Wir Markevitch-Schüler in den 70er-Jahren hatten das große Glück, bei den Dirigierkursen in Monte Carlo mit Feldenkrais persönlich zu arbeiten. Das hat unsere technische Entwicklung nachhaltig geprägt. In diesem Zusammenhang gibt es zwei unvergessliche Maximen von Markevitch: „Nicht ihr sollt schwitzen, sondern das Orchester“ und: „Wenn das Orchester mit euch am Pult genau so gut spielt wie ohne Euch, seid Ihr überflüssig.“
System mit Erfolgsgarantie
nmz: Ist das nicht alles sehr technisch gedacht? Muss ein Dirigent nicht auch Kommunikations- und Begeisterungsfähigkeit mitbringen – ich denke da etwa an Leonard Bernstein?
Markson: Auf Dirigenten wie zum Beispiel Leonard Bernstein haben wir ihn in diesem Zusammenhang natürlich angesprochen. Dann lächelte er immer geduldig und sagte sinngemäß: „Ich behaupte ja nicht, dass mein System das einzig richtige ist, aber wenn ihr meines anwendet, dann klappt es garantiert!“ Nach nunmehr 37 Jahren im Beruf kann ich sagen: Als Dirigent habe ich eine Menge Schwierigkeiten meistern müssen, Probleme technischer Natur waren das aber in den seltensten Fällen. Das verdanke ich Igor Markevitch.
nmz: Markevitch beschäftigte sich mit musikhistorischen Problemen, setzte sich quellenkritisch mit Beethovens Sinfonien auseinander …
Markson: Damit hat er viele Jahre zugebracht, auch mit Hilfe wissenschaftlicher Mitarbeiter. Ich habe seine Edition der Beethoven-Sinfonien zu Hause. Mir ist der dritte Band, der seine praktischen Ratschläge enthält, immer am nützlichsten gewesen. Er beinhaltet einen Überblick über die wichtigsten Retuschen, die große Dirigenten wie Mahler und Weingartner in den Partituren vorgenommen haben. Markevitch selbst analysiert zahlreiche his-torische Aufnahmen berühmter Dirigenten. Vielleicht am wichtigsten: Er gibt unbezahlbare praktische Ratschläge für die Probenarbeit.
Der Privatmann
nmz: Sie haben den Privatmann Markevitch sehr gut kennengelernt …
Markson: Im Jahre 1970 suchte Markevitch über eine Kontaktperson in Frankfurt nach einer Familie, die seinen damals 13-jährigen Sohn über den Sommer aufnehmen würde. Oleg sollte dort deutsch lernen und nach Möglichkeit auch Klavierunterricht erhalten. Die Kontaktperson war zufälligerweise mein Cellolehrer an der Musikhochschule. So lernte ich Oleg Markevitch kennen, der sich heute Oleg Caetani nennt und selbst eine beachtliche Dirigentenkarriere aufweisen kann. Oleg war acht Jahre jünger als ich, und wir verstanden uns prächtig. Unmittelbar nach seiner Heimreise meldete sich sein Vater telefonisch bei mir und lud mich in sein Haus in Südfrankreich ein. Privat war Igor Markevitch ein ausgesprochen warmherziger und charmanter Mensch. Es mag mit seiner Herkunft aus einem alten serbisch/russischen Adelsgeschlecht zu tun haben und mit einer damit verbundenen Attitüde, dass er sich in anderen Lebensbereichen als geradezu sozial inkompetent erweisen konnte.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang, mit wie vielen Orchestern er sich im Lauf seines Lebens zerstritten hat. Ein Agent in New York hat mir einmal erzählt, Markevitch habe als ziemlich junger Mann ein grandioses Konzert in Boston dirigiert. Das Orchester wollte ihn daraufhin unbedingt als Chefdirigenten haben. Daraus wurde bekanntlicherweise nichts – er hatte, wie so oft, seine Forderungen überzogen. Manchmal habe ich mich gefragt, ob er sich nicht unbewusst selbst behindert hat, um nicht „ganz oben“ zu landen. Warum er das aber hätte tun sollen – darauf habe ich keine Antwort. Rätselhaft bleibt jedenfalls, warum ein genialer Dirigent wie er Zeit seines Lebens viele Orchester als Chefdirigent leitete – doch ein wirklich erstklassiges war nie dabei. Er war eine große, geniale Persönlichkeit, nicht nur in der Musik; er war universal gebildet, sprach sieben Sprachen fließend – einzigartig.
Er wusste, dass es zu Ende ging
nmz: Er hatte seit den 70er-Jahren mit großen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen ...
Markson: Als ich ihn 1970 kennenlernte, war er gesundheitlich schon ziemlich labil. Unter anderem hatte er mit schwerwiegenden Gehörproblemen zu kämpfen. Ich erinnere mich an ein Konzert Anfang der 70er-Jahre mit dem Orchester der Accademia di Santa Cecilia in Rom. Da hat er bei der „Egmont“-Ouvertüre das Orches-ter dirigierend überholt und es nicht bemerkt, fast wäre es zum Abbruch gekommen. Eine furchtbare Situation. 1983 kam er von einer langen Reise durch Japan und die damalige Sowjetunion zurück und wir telefonierten am nächsten Tag. Er schien sehr erschöpft, dennoch wurde es das längs-te Telefonat, das wir je miteinander geführt haben. Er versprach, mir einige seiner bei Boosey & Hawkes erschienenen Partituren zu schicken. Wenige Tage später starb er. Und dann erhielt ich zum letzten Mal Post von ihm. Auf die „Icare“-Partitur hatte er geschrieben: „son ami de toujours“. Er wusste wohl, dass es zu Ende ging…