neue musikzeitung: Herr Dr. Ermert, nachdem Sie aus dem Amt des Direktors der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel in den wohlverdienten Ruhestand gegangen sind, haben Sie sich sehr bald danach in das Ehrenamt des Vorsitzenden des Arbeitskreises Musik in der Jugend (AMJ) wählen lassen. Wie kam’s, was hat sie dazu bewogen?
Karl Ermert: Erstens: Ich wurde gefragt – von dem damaligen Generalsekretär des AMJ, Wolfram Kössler, und von der Ehrenvorsitzenden des AMJ, Dr. Lore Auerbach. Wir kannten uns aus ihrer Zeit als Vorsitzende des Beirats der Bundesakademie Wolfenbüttel, und ich schätze sie sehr. Zweitens: Ich liebe Chormusik, singe inzwischen auch selbst wieder in unserer Gemeindekantorei, und war neugierig darauf, diesen ja außerordentlich großen Bereich des Kulturlebens intensiver kennenzulernen. Drittens: Ich kannte den AMJ schon. Er hat ja seinen Sitz in Wolfenbüttel. Ich fand seine Arbeit wichtig und wertvoll und war der Meinung, dass es Sinn macht, das, was ich an Erfahrungen in meiner Berufsbiografie gesammelt hatte, hier noch ein wenig einzubringen. Schließlich: Wenn man jahrelang und mit Überzeugung die Ansicht vertreten hat, dass angesichts des demografischen Wandels gerade die Älteren in ihrer nachberuflichen Phase freiwillig gemeinnützig Verantwortung übernehmen sollten, muss man den Worten ja auch Taten folgen lassen.
nmz: Der AMJ gilt als der im Kurs- und Fortbildungsbereich aktivste unter den deutschen Chorverbänden. Haben sich während Ihrer Amtszeit in diesem Bereich Veränderungen ergeben oder haben Sie neue Schwerpunkte gesetzt?
Ermert: Veränderungen haben sich nicht im Grundsätzlichen ergeben. Der AMJ sieht seine zentrale Aufgabe weiterhin darin, Menschen Gelegenheit zur eigenen musikalischen Betätigung und Bildung sowie zwischenmenschlicher Begegnung und Erfahrung zu geben. Das gilt insbesondere für junge Menschen. Ebenso wollen wir durch Fortbildungsangebote diejenigen, die ehrenamtlich oder beruflich (chor-)musikpädagogisch arbeiten, in ihrer Weiterentwicklung zur professionellen Qualität unterstützen. All das haben wir auch in dem Leitbild festgehalten, das Vorstand und Mitarbeiter/-innen erarbeitet und vor einigen Monaten beschlossen haben. Das ist das Profil des AMJ, das erwarten auch seine Mitglieder.
Inhaltlich muss man das Rad auch nicht immer neu erfinden. Innovation ist kein Selbstzweck. Familienmusikwochen sehen zum Beispiel heute nicht mehr so aus wie vor zwanzig Jahren; immer mal wieder müssen sich die Veranstalter auch neue Dinge einfallen lassen, damit es nicht langweilig wird. Aber der Grundansatz – Eltern, Kinder, Großeltern musizieren, leben und lernen gemeinsam und mit anderen – war immer eine gute Sache und wird es immer sein – auch gesellschaftspolitisch gesehen. Chorleitungsaus- und -fortbildung werden immer nötig bleiben, auch wenn sich inhaltlich und methodisch immer neue Entwicklungen ergeben. Der AMJ ist dabei, ein Netzwerk an erfahrenen Chorleitern, Stimmbildnern etcetera aufzubauen, das vor Ort im Sinne eines Coachings von Chören und Chorleitern Unterstützung anbietet. Das ist die musikkulturinterne Aufgabenlogik. Im Übrigen darf natürlich auch die Musikkultur die Augen vor den Herausforderungen der gesellschaftlichen Entwicklungen nicht verschließen, von Demografie bis Digitalisierung. Da sind dann tatsächlich Innovationen nötig. Teils antworten sie auf Herausforderungen, die die Musikkultur um des eigenen Überlebens willen meistern muss, teils auf Herausforderungen, wo Gesellschaft und Politik sich Hilfe erhoffen von den spezifischen Stärken der Musikkultur.
Der AMJ reagiert darauf etwa mit Ansätzen inklusiver Arbeit auch in den großen Chorfestivals, vor allem aber mit einem selbst entwickelten umfangreichen Projekt, das sich mit dem Thema „Chor in der Migrationsgesellschaft“ beschäftigt.
Also: Bewährtes wird bewahrt und Neues kommt hinzu, ganz normal. Grenzen setzen uns die Arbeitskapazitäten unserer Geschäftsstelle und der (vielen) ehrenamtlich Engagierten im Bundesvorstand und den Landesverbändevorständen. Deshalb geht auch nicht immer noch mehr, Manches muss auch aufgegeben werden. Das ist das Schwerste. Die Grenzen werden auch enger. Die öffentliche Grundförderung, ohne die natürlich nichts geht, hält mit dem Anstieg der Kosten nicht Schritt.
nmz: Neben den Kursen spielt die internationale Begegnung eine große Rolle in der Arbeit des AMJ. Vor kurzem fand die 10. Internationale Jugendkammerchorbegegnung auf Usedom statt – sind solche Festivals ohne Wettbewerb Auslaufmodelle oder gehört ihnen die Zukunft?
Ermert: Keinesfalls sind sie Auslaufmodelle. Die Nachfrage ist da, nicht nur für das Festival auf Usedom, sondern auch für den EUROTREFF in Wolfenbüttel. Beide Festivals finden abwechselnd alle zwei Jahre statt. Beide sind unterschiedlich groß und dauern unterschiedlich lang, Usedom für circa acht Chöre und 250 Teilnehmer neun Tage, der EUROTREFF in Wolfenbüttel (im nächsten Jahr bereits der 17.) für meist 16 bis 18 Chöre und 850 Teilnehmer 5 Tage. Beide sind aber, neben Konzerten, durch das intensive musikalische Zusammenlernen und -leben gekennzeichnet, angeleitet durch internationale, erstklassige Atelierleiter. Das funktioniert nach wie vor großartig. Das hat anlässlich unseres Usedom-Jubiläums auch die Parlamentarische Staatssekretärin im BMFSFJ Caren Marks in ihrem Grußwort politisch gewürdigt. Wettbewerbe haben auch ihren Sinn. Beim AMJ stehen aber nach wie vor menschliche Begegnung und musikalische Bildung eindeutig im Vordergrund. Wir sehen auch keinen Anlass, das zu ändern.
nmz: Die bunte Landschaft der Chöre in Deutschland spiegelt sich wider in der weltweit wohl einzigartigen Diversität der Chorverbände. Wie sehen Sie hier die Position des AMJ und welche Entwicklungen wünschen Sie sich für die Chorverbandsszene in Deutschland?
Ermert: Das ist ein delikates Thema. „Variatio delectat“, das wussten schon die alten Römer, und „Konkurrenz belebt das Geschäft“, glaubt jeder Marktwirtschaftler. Gegen Diversität ist ja im Prinzip nichts zu sagen. Neben den großen Verbandstankern wie Deutscher Chorverband (DCV) und Kirchenchorverbänden machen auch Spezialverbände mit einem deutlichen Profil und jeweils eigenen Kompetenzen Sinn, wie eben auch der AMJ als nicht nur Chorverband, sondern auch und vor allem quasi „Kursverband“, der – im Selbstbild – eine ausgesprochen breitenkulturelle Orientierung mit qualitativ professionellem Anspruch verbindet.
Die Delikatesse liegt im Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation der Verbände untereinander. Der DCV setzt nach meiner Wahrnehmung aus der (Noch-)Position schierer Größe und wirtschaftlicher Stärke mehr auf Konkurrenz, die in der Bundesvereinigung deutscher Chorverbände (bdc)verbliebenen Verbände mehr auf Kooperation. Auch das muss noch gelernt werden. Da ist noch Luft nach oben. Aber in dem Maße, wie die bdc es lernt, tatsächlich als Dachverband zu agieren, wird sich das entwickeln. Hier liegt nach meiner Überzeugung auch die Zukunft. Ich würde mich freuen, wenn das verbandspolitische Schisma, das durch den Austritt des DCV aus dem Dachverband entstanden ist, mittelfristig wieder überwunden werden könnte. Auch in diesem Sinne sehe ich die Kooperation im Kursbereich, die AMJ und DCV begonnen haben, als positives Signal.
nmz: Sie sprachen die Herausforderungen für die Musikszene an. Gesellschaftliche und politische Entwicklungen haben die Chorszene seit Entstehung der bürgerlichen wie der Arbeiterchöre geprägt. Gibt es solche Einflüsse auch heute noch und sehen sie sich in Ihrer Arbeit von der Politik ausreichend unterstützt? Welche Rolle spielt das erwähnte Projekt?
Ermert: Ich sprach vorhin schon von der musikinternen Aufgabenlogik und von den gesellschaftlichen Herausforderungen. Die musikinterne Logik liegt uns nahe, gesellschaftspolitische Wahrnehmungen nicht so sehr. Wenn Gesellschaft und Politik Hilfe erhoffen und erbitten (und das über Förderprogramme schon mal ziemlich brachial, siehe „Kultur macht stark“), dann kön-nen die meisten Musiker, Musikpädagogen, aber auch Verbandsleute ziemlich wenig damit anfangen. „OK,“ sagen sie, „Barenboims israelisch-palästinensisches Orchesterfriedensprojekt ist ja ganz in Ordnung. Und wenn die Berliner Philharmoniker sich mit sozialen Educationprojekten schmücken, sollen sie das gerne machen. Kommt als Imagekampagne ja auch gut rüber. Aber was hat das mit unserer Musik und der Arbeit dafür zu tun? Gut, wenn man sich mit gesellschaftlichen und politischen Umständen beschäftigen muss, damit man an Geld kommt, um seine Musik machen zu können, tut man es schließlich. Was soll man auch machen? Aber besser wäre es, man müsste es nicht.“ Die Schlaueren unter ihnen machen sogar aus ihrer gesellschaftspolitischen Ignoranz mit dem Argument, hier werde die Musik als Kunst „verzweckt“ und das sei nicht legitim, eine scheinbare Tugend.
Ich sehe das nicht so. Kunst, auch Musik, hat viele Funktionen. Nicht nur Unterhaltung und Erbauung, auch Kommunikation, Aufklärung, Stärkung des sozialen Zusammenhaltes, für Produzenten und Vermittler auch die Ökonomie. Zwecklos ist Kunst nie. Es kommt auf die Dignität des Zweckes an und allerdings auch darauf, ihn frei wählen zu können. Auch musikalische Kunstfreiheit besteht nicht in der Abwesenheit von Zwecken, sondern in der Wahlfreiheit zwischen ihnen. Ja, gesellschaftliche Herausforderungen gibt es in der globalisierten, digitalisierten, kapitalistischen Gesellschaft genug, für die individuelle Persönlichkeitsbildung bis zur Stärkung von Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten. In wie vielen Chören diese – quasi Erziehungsaufgaben – über den musikalischen Kern der praktischen Chorarbeit hinaus tatsächlich systematisch bedacht und aufgenommen werden, würde ich gerne einmal wissen.
Wie schon erwähnt, hat der AMJ ein Untersuchungs- und Diskursprojekt „Chormusikkultur und Migrationsgesellschaft“ entwickelt, mit dem er die Auswirkungen des migrationsdemografischen Wandels auf die Chorszene untersuchen will. Hier soll sozialwissenschaftlich methodisch abgesichert erhoben werden, ob und wo insbesondere Kinder- und Jugendchöre, die ja ständig auf Nachwuchssuche sind, mit dem Fakt rasant steigender Anteile von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Gesamtpopulation umgehen. Es gibt ja nicht nur ständig weniger Kinder, sondern sie haben auch andere soziale und kulturelle Auf-wachshintergründe, als das noch vor zwanzig Jahren war. In unserem Projekt, das im Oktober beginnt, fragen wir, ob und wie Kinder mit Migrationshintergrund den Weg zu den organisierten Kinder- und Jugendchören finden, was Voraussetzungen und Bedingungen der Integration sind, welche Veränderungen, etwa in der gesungenen Literatur, die Folge sind. Können – zugespitzt formuliert – Kinder- und Jugendchöre Lernorte inter- oder transkultureller Kommunikation werden?
In einer Expertentagung, voraussichtlich im Oktober nächsten Jahres, sollen die Ergebnisse der Untersuchungen der musikkulturellen und kulturpolitischen Fachöffentlichkeit vorgestellt werden. Sowohl an der Untersuchung als auch an dem anschließenden Diskurs sollen neben Wissenschaft und Chorleitungspraxis auch die Chor- und Schulmusikverbände beteiligt werden, und auch die Migranten(kultur)verbände gehören natürlich in diese Szenerie. Am Ende wird nach praktischen Konsequenzen für die Chorarbeit, auch für Fortbildungsbedarf und auch für Förderprogramme, zu fragen sein. Hier werden nicht zuletzt auch die Verbände gefragt sein. Das Vorhaben wird freundlicherweise von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien gefördert. Für diese Unterstützung bin ich sehr dankbar.
nmz: 2015 wird im AMJ turnusgemäß wieder ein neuer Vorstand gewählt. Werden Sie antreten und was werden Ihre Ziele sein?
Ermert: Wenn man ein solches Amt in meinem Alter beginnt, ist die Perspektive endlich. Da sollte man – um mit der Bundeskanzlerin zu sprechen – eher „auf Sicht fahren“. Aber ich werde noch mal antreten. Verbandspolitik ist nicht mein Traumjob. Aber ich bin mit der Aufgabe, den AMJ zu konsolidieren und auf einen zukunftsfesten Kurs zu bringen, noch nicht fertig. Und die Arbeit mit diesem engagierten und sachkundigen Vorstand macht auch Freude.
Interview: Robert Göstl