Mit einem „Tag für Pierre Boulez“ würdigte das Lucerne Festival den französischen Komponisten und Dirigenten als den Initiator der Lucerne Festival Academy, einer einzigartigen Meisterschule für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Neben seinen Schlüsselwerken wie „Rituel“, „Notations“ oder dem „Livre pour quatuor“ brachten die Akademisten und ihre Mentoren vom Ensemble Intercontemporain auch acht Uraufführungen zum Erklingen. Damit wurde dieser Tag nicht zur nostalgischen Rückschau auf 15 Jahre innovative Akademiearbeit, sondern war auch in der Hommage der zentralen Idee der Akademie, der Praxis der Gegenwartskunst, verpflichtet. Andreas Kolb sprach mit Wolfgang Rihm über die Festival Academy und deren Zukunft.
neue musikzeitung: Vom Sommer 2016 an übernehmen Sie die künstlerische Gesamtleitung der Lucerne Festival Academy. Als principal conductor steht Ihnen Matthias Pintscher zur Seite. Ein neues Amt in einem sicher ausgefüllten Terminkalender. Was hat Sie dazu bewogen, es anzunehmen?
Wolfgang Rihm: Meine alte Verbundenheit mit Luzern, dem Festival, der Stadt, den künstlerisch Verantwortlichen. Vor allem meine Verehrung für Pierre Boulez.
15-jährige Tradition
nmz: Was wollen Sie den jungen Akademisten mitgeben? Was erhoffen Sie sich von ihnen?
Rihm: Mitgeben: die Erfahrung, dass die Kunst ihrer eigenen Zeit nicht a-historisch und dass die Kunst der Vergangenheit nicht historisch ist, denn Musik ist immer Gegenwart. Erhoffen: dass in ihr künstlerisches Leben ein vitaler Keim gegen alle Formen der Routine gepflanzt ist.
nmz: Welche Rolle spielt für Sie die Herkunft der Lucerne Festival Academy? Sie ist von der Ästhetik Pierre Boulez’ geprägt. Sehen Sie dieses Vermächtnis eher als Herausforderung, als Verantwortung oder gar als Bürde?
Rihm: Als Verantwortung. Boulez hat besonders in der naheliegenden Vergangenheit das, was Sie „seine Ästhetik“ nennen, nie verabsolutiert. Er ist mir seit je ein Vorbild an Offenheit bei gleichzeitigem Eigensinn. Auch pädagogischer Eros ist dialektisch.
nmz: Boulez sagt, in der Academy lernen die jungen Instrumentalisten die Komponisten von heute gemischt mit Komponisten von „gerade mal gestern“ kennen. Können Sie das unterschreiben? Was soll künftig gelehrt werden?
Rihm: Schon morgen ist das Heute „gerade mal gestern“ gewesen. Eine Akademie-Idee wie die Luzerner lebt weniger von einer Lehre, als von der Erfahrung. Diese setzt Praxis voraus. Wenn ich das richtig verstanden habe, sollen in Luzern keine Theoriemodelle vermittelt werden – weder interpretatorisch noch kompositorisch sind wir hier an Ideologiebildungen interessiert. Dazu wäre ich auch der falsche Mann.
Neben- und Hauptsache
nmz: Nochmals Boulez: Wie wird die Kooperation mit dem Ensemble Intercontemporain weitergehen. Oder planen Sie eine Öffnung für andere Ästhetiken?
Rihm: Durch Matthias Pintscher, der das EIC leitet, ist Kontinuität garantiert. Zusätzlich arbeiten wir an einer Art „hauseigener“ Dozenten-Fakultät, um musikalisch und personell sinnvolle Konstellationen bei unseren ausgewählten Programmen zu schaffen.
nmz: Der Stellenwert der Academy innerhalb des Festivals ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Es werden immer mehr Aufgaben übernommen. Manchmal kommt mir die Academy wie eine große audience development-Maschine vor. Wohin soll die Entwicklung der Festival Academy gehen?
Rihm: Sicher, die Akademie hat mit dem eigenen Orchester durchaus die Möglichkeit, Projekte zu realisieren, die ein bisschen neben ihrem Kerngeschäft liegen. Ich sehe darin aber exakt dies: Nebenprojekte, Nebenprodukte. Dass diese ein großes Medien-Echo erhalten, muss nicht gegen sie sprechen. Vielleicht sollte es uns aber in Zukunft dazu veranlassen, die Hauptsachen noch prominenter zu akzentuieren.
nmz: Sind junge Musiker, die offen für das Neue sind, nicht noch immer eine viel zu seltene Spezies? Woher kommt das Interesse für Luzern, woher die Musiker?
Rihm: Junge Musiker sind eigentlich grundsätzlich offen für ihre Gegenwart. Sie können allerdings durch entsprechende Pädagogik verschlossen gemacht werden. Wie auch immer – diejenigen, die nach Luzern kommen sind jedenfalls keine muffig ihrer Pensionierung entgegenspielenden Routiniers. Zumindest sind sie nicht von einem solchen Lebensentwurf beherrscht. Woher kommen sie – ich habe mir Zahlen geben lassen: circa 40 Prozent aus den USA und Kanada, 10 Prozent aus Frankreich, aus Spanien, Italien und Portugal zusammen 12 Prozent, aus Asien 15 Prozent, aus Deutschland 5 Prozent, aus Polen 5 Prozent, danach vereinzelte Teilnehmer aus Australien, Holland, UK, Georgien, Russland, Litauen, Lettland, Slowenien, Ungarn, Israel, Belgien, Venezuela, Argentinien und der Schweiz. Diese Zahlen gelten für den Jahrgang 2015. Grosso modo aber scheinen sich diese Zahlen auch in den anderen Jahrgängen zu spiegeln.
Dialogisch entscheiden
nmz: Zum Thema „Berührungsreliquie“ und „Namedropping“ im Lebenslauf: Viele junge Musiker kamen nach Luzern, um unter dem Dirigenten Boulez zu arbeiten. Das Dirigieren übernimmt nun Matthias Pintscher. Ein paar Worte zum Team Rihm/Pintscher?
Rihm: „Berührungsreliquie“ – den Begriff kannte ich, bezogen auf künstlerische Arbeit, noch gar nicht. Er trifft sicher rand-phänomenal für viele Bereiche zu. Matthias Pintscher schätze ich als künstlerische Gesamterscheinung außerordentlich. Als Komponist und Dirigent hat er eine fulminante Entwicklung durchlaufen. Er ist sozusagen im Vollbesitz seiner Möglichkeiten. Die jungen Musikerinnen und Musiker sind begeistert von seiner Probenarbeit.
Er und ich – wir kennen uns seit Jahren, unser Kontakt ist geprägt von menschlicher Offenheit und künstlerischem Einvernehmen. Mit ihm und dem hervorragenden Luzerner Organisations-Team der Akademie unter Dominik Deuber, fühle ich mich dieser neuen Aufgabe gewachsen. Sie haben vielleicht schon bemerkt: Ich spreche immer von „wir“ und „uns“ – der Grund ist, dass ich meiner Natur gemäß keine hierarchischen Entscheidungswege bevorzuge, sondern ganz und gar der dialogischen Entscheidungsfindung vertraue. Vielleicht noch ein Hinweis: Neben Matthias Pintscher werden immer auch noch ein oder zwei andere Dirigenten mit dem Akademie-Orchester arbeiten. 2016 sind dies Susanna Mälkki und Allan Gilbert.
nmz: Welche Werke welcher Komponisten planen Sie für 2016 und 2017? Bleibt die bewährte Struktur der Academy (Komponierkurse, Dirigierkurse und Interpretation)? Oder gibt es Neuheiten?
Rihm: 2016 ist natürlich längst geplant: Pintscher wird die komplette Fassung von Strawinsky’s „Feuervogel“ leiten, Mälkki bringt unter anderem ein neues Werk von Olga Neuwirth (mit dem Solisten Martin Grubinger) und im Abschlusskonzert leitet Alan Gilbert Bergs Violinkonzert (mit Anne-Sophie Mutter) sowie Schönbergs „Pelleas und Melisande“. Für 2017 stehen wir noch mitten in den Planungen. Eine Akademie-Neuheit wird das Kompositions-Seminar werden (ab 2016). Und auch ein paar Alumni werden mit Konzerten vertreten sein. Die Alumni sollen überhaupt nach und nach noch nachhaltiger in Projekte des Festivals einbezogen werden.
Das Musiktheater
nmz: Sie sind ein ausgewiesener Musiktheater-Komponist. Wird das Musiktheater Einzug in die Academy halten?
Rihm: Wenn die Salle Modulable wirklich einmal realisiert werden sollte, ergeben sich dadurch sicher Möglichkeiten für die Akademie, die jetzt noch nicht diskutiert werden können. Selbstverständlich aber machen wir uns Gedanken, wie sich bedeutende Werke des Musiktheaters eventuell „halbszenisch“ realisieren lassen. Wir denken da an Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ – aber das ist Zukunftsmusik ... noch ...
nmz: Die jungen Musiker sollen im Bereich des Neuen erfahren, was Exzellenz heißt. Gleichzeitig wird mit Projekten wie „Eine Sinfonie für Luzern“ eine Niederschwelligkeit angestrebt, die dem Publikum die „Angst vor dem Neuen“ nehmen soll? Ist dieser Spagat zu schaffen?
Rihm: Pierre Boulez hat Tod Machover sicher auch deshalb eingeladen, weil dieser vor Jahrzehnten bereits sehr erfolgreich am IRCAM in Paris gearbeitet hat. Das „Sinfonie für Luzern“-Projekt hat eine enorme Wirkung in Stadt und Region entwickelt. Ich selber sehe offen populistisch orientierte Projekte eher mit gelassenem Abstand. Ich spüre: Wir brauchen neue interessierte Hörerschichten, ich spüre aber auch stark das Problematische von Lockstoff-Prozeduren. Vielleicht bin ich altmodisch, aber für mich ist das Überzeugendste, also auch das Werbendste für musikalische Kunst ihre optimale Realisierung.
nmz: Eine persönliche Frage zum Schluss: Was ist das Besondere für Sie an der Academy?
Rihm: Das Besondere dieser Akademie erleben Sie eigentlich nur, wenn Sie sich hineinbegeben. Diese erregende Gestimmtheit aller: Bestes geben zu wollen; die nie nachlassende Arbeitsenergie, die Begeisterungsstürme in den Konzerten... Eigentlich ist die Bezeichnung „Akademie“ viel zu akademisch für diese große Freiwilligkeit, mit der da die Zukunft gestaltet und verantwortet wird.