Grete Pedersen ist Dirigentin und Leiterin des professionellen Chores „Det Norsk Solistkor“ sowie Professorin für Chorleitung an der norwegischen Musikakademie in Oslo. Zahlreiche CD-Einspielungen mit Werken skandinavischer Komponisten sind bei den Labeln Simax und BIS erschienen. Nils Schweckendiek leitet den „Helsinki Chamber Choir“ (früher Radiochoir) und ist Professor für Chorleitung an der Sibelius-Akakdemie. Seine jüngste CD-Einspielung mit Werken von Beat Furrer wurde mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet.
neue musikzeitung: Sie haben bereits zahlreiche Uraufführungen und Konzerte mit zeitgenössischer Musik dirigiert. Wenn Sie drei Wünsche an ein Stück äußern dürften, welche wären dies?
Grete Pedersen: Das Bewusstsein von Form und Architektur eines Stückes. Ein gutes Beispiel ist für mich „Nuits“ von Xennakis. Die Wahl des Textes, der Fragmente oder Klänge und die Art, wie sie in die Musik integriert sind, müssen stimmen. Die Instrumentation soll gut sein. Und das Werk darf Verspieltheit aufweisen und unerwartete Wendungen bringen. Oh – das waren vier Dinge …
Nils Schweckendiek: Die Musik sollte für den Hörer interessant, spannend, ansprechend, gerne auch provozierend wirken – nur nichts Gleichgültiges! Die Ausführenden sollen verstehen können, warum sie tun sollen, worum sie gebeten werden.
Wie hast du’s mit der Tonalität?
nmz: Man kann beobachten, dass skandinavische und baltische Komponisten Tonalität nicht vermeiden. Viele mitteleuropäische Komponisten hingegen tun das. Was denken Sie darüber?
Schweckendiek: Für mich ist entscheidend, dass die Sängerinnen und Sänger sich in der musikalischen Sprache orientieren können. Es sei den Komponisten frei gestellt, tonale Elemente zu verwenden oder auch nicht, solange ihre Ideen interessant, aber auch für die Ausführenden verständlich und realisierbar sind.
Pedersen: Ich habe zu dieser Frage keine strenge Meinung. Solange Struktur und innere Form eines Stückes stimmen, ist die Frage nach Tonalität oder Atonalität zweitrangig.
nmz: Gibt es grundsätzliche Unterschiede zwischen skandinavischen und mitteleuropäischen Komponisten von Vokalmusik?
Schweckendiek: Auch in den Traditionen der nordischen Länder gibt es Unterschiede. Die modernistischen Züge sind in Finnland vielleicht deutlicher als in den anderen Ländern, da die Musikkultur hier insgesamt jünger und instrumentenbezogener ist. Grob gesagt könnte man jedoch sagen, dass man im Norden gerne unnötige Kompliziertheit vermeidet.
Pedersen: Was man nicht außer Acht lassen sollte ist die Tatsache, dass jeder Einwohner Skandinaviens mehrere Quadratkilometer Fläche für sich hat. Vielleicht erlaubt dieser Umstand der Musik mehr Raum und Ruhe. Natürlich hängen die Art zu schreiben und die entstehenden Klanglandschaften auch eng mit der Muttersprache zusammen.
nmz: Manch Neue Musik klingt sehr brillant, klangschön, weist aber keine Art „innerer thematischer Beziehung“ auf. Vermissen Sie dieses Merkmal?
Schweckendiek: Strukturen lassen sich auf viele Arten bauen – aus reichen klanglichen Elementen, durch Bezug auf einen Text oder eine Idee, in Anlehnung an schon Bekanntes et cetera. Bei der Fülle an Neuer Musik in vielen Stilrichtungen ist eine Verallgemeinerung unmöglich. Manche Komponisten sind fester in ihrem Handwerk als andere. Da haben wir in Finnland im Großen und Ganzen Glück.
Der Trend zum Szenischen
nmz: In der Chorszene lässt sich ein Trend hin zur szenischen Aufführung von Meisterwerken beobachten. Woher kommt das? Bedeutet es, dass das Auge unser Ohr dominiert?
Pedersen: Momentan gibt es einen starken Eroberungstrend der visuellen Künste in Kombination mit dem Auditiven. Das ist interessant, weil verschiedene Formen aufeinander treffen und es eine Herausforderung für Chöre darstellt. Aber nicht jeder hat das Geld, um Peter Sellars oder Sasha Waltz zu engagieren. Also müssen wir gut überlegen, mit wem wir unser Musizieren teilen möchten. Nein – ich möchte nicht sagen, dass die Augen wichtiger werden als die Ohren.
Schweckendiek: Ich bin ein großer Freund des Musiktheaters, muss aber bei Konzert- und Sakralmusik nicht unbedingt visuelle Elemente aufgedrückt bekommen. Für mich kann Musik nicht nur Begleitung zu einem Seh-Erlebnis sein, und ich denke, dass es einem Teil des Publikums genauso geht. Wenn das Bühnengeschehen ein entscheidender Bedeutungs- und Ausdrucksträger ist, gehört es natürlich dazu. Aber das Hörerlebnis steht an erster Stelle und darf nicht beeinträchtigt werden.
Ratschläge für Studierende
nmz: Sie arbeiten seit mehreren Jahren als Dirigenten professioneller Chöre und als Lehrer für Chorleitung. Welche Fähigkeiten oder Ratschläge möchten Sie ihren Studierenden mitgeben, damit diese im Bereich der professionellen Chorleitung erfolgreich werden?
Schweckendiek: Ich möchte ihnen das Werkzeug geben, klare musikalische Vorstellungen zu entwickeln und diese mithilfe einer deutlichen Gestik und effizienter Probenarbeit möglichst genau umzusetzen.
Pedersen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Habe substantielles Wissen und Ernsthaftigkeit in der Musik. Höre nie auf, die Partitur zu studieren. Entwickle eine Beziehung zu den Komponisten. Respektiere Musik und die Menschen, egal ob es Sänger, Verwaltung, Personal der Räumlichkeiten, Presse oder Kollegen sind. Finde heraus, wie du mit einer Gruppe umgehen kannst und wie sie bereit ist, ihr Bestes zu geben. Glaube daran, dass die Sänger fähig sind, die Aufgaben zu erfüllen – manchmal deutlich besser, als du geglaubt hattest. Schätze dich selbst, aber höre nie auf zu wachsen und neugierig zu sein. Nimm deine guten und schlechten Seiten an und versuche, das auch bei anderen zu tun. Vergiss nicht, dass du für das Ergebnis verantwortlich bist und dass die Sänger hart arbeiten. Treffe Entscheidungen – gute oder schlechte. Handle riskant, aber lade die Schuld niemals auf anderen Schultern ab als auf deinen.